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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

638 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lee-Linke, Sun-Hee

Titel/Untertitel:

Familie – Religion – Kultur. Familienkonzeptionen in Konfuzianismus und Protestantismus.

Verlag:

Neu-kirchen-Vluyn: Neukirchner 1996, 273 S. 8 = Neukirchener theologische Dissertationen und Habilitationen, 4. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7887-1542-1.

Rezensent:

Winfried Glüer

Die Formen des menschlichen Zusammenlebens sind gegenwärtig einem tiefgreifenden Wandel unterzogen. Davon sind die grundlegenden menschlicher Beziehungen betroffen: Ehe, Familie, Gemeinschaft und Individuum lassen sich nicht mehr ohne weiteres nach den traditionellen Vorstellungen fassen. Überlieferte Werte haben für viele ihre bindende Kraft verloren. In der westlichen Gesellschaft ist dieser Prozeß weit fortgeschritten. Ähnliches vollzieht sich aufgrund der raschen Industrialisierung in den Ländern Ostasiens, in denen die Gesellschaft bis weit in das 20. Jh. durch starke menschliche Bindungen geformt wurde. In den vom Konfuzianismus bestimmten Ländern Ostasiens war dabei die Familie die tragende Institu-tion, die die Menschen in ihrem Zusammenleben einübte und bewahrte. Die Vfn. verweist auf die ,gegenwärtige Krise in der Familienlehre'. Eine soziologische Untersuchung dieser Krise liegt allerdings außerhalb des Rahmens ihrer Studie. Vielmehr geht es um eine Darstellung der philosophisch-religiösen Voraussetzungen des Verständnisses von Familie. So werden ausführlich die historischen Grundlagen aufgezeigt, die das Verständnis von Familie in Ost und West, d. h. im Konfuzianismus sowie im deutschen Protestantismus geprägt haben.

In Ostasien konzentriert sich die Untersuchung auf den Konfuzianismus. Seine Voraussetzungen werden in einem einleitenden Kapitel in Kürze referiert, im wesentlichen folgt die Darstellung europäischen Sinologen, unter denen Marcel Granet in seinen umfassenden Untersuchungen zur chinesischen Zivilisation aus den frühen dreißiger Jahren dieses Jh.s immer noch unüberboten bleiben. Eine patriarchalische Struktur der chinesischen Gesellschaft ist als ideologisches Postulat vom Konfuzianismus erhoben worden und hat über zweieinhalbtausend Jahre die feudalistischen Adelsfamilien wie auch später allgemein die Familie in China und in den anderen konfuzianisch geprägten Ländern bestimmt. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind bis heute in Ostasien zu verfolgen. Die Vfn. hebt gegenüber dem sich auf das ,Altertum' berufenden Ritualismus des Konfuzianismus hervor, daß die Durchsetzung der patriarchalischen Familie als Grundlage der chinesischen Lebensweise ein langer geschichtlicher Prozeß war, der vor allem durch den bedeutenden neokonfuzianischen Philosophen Zhu Xi (geb. 1130) gefördert wurde. Spuren matriarchalischer Ursprünge in der Frühzeit sollten nicht übersehen werden. Doch liegen über Einzelheiten nur spärliche geschichtliche Andeutungen vor. Auch läßt sich nicht bezweifeln, daß das patriarchalische Ideal der Familie, wie es von Zhu Xi vertreten wird, bereits länger als tausend Jahre vorher schon bestand und seine breiten Auswirkungen hatte. Immerhin trifft es aber zu, daß die chinesische Gesellschaft zu keiner Zeit monolithisch geprägt war, noch es gegenwärtig ist.

Ausführlich werden Zhu Xis ,Familienriten' (Jia-li) vorgestellt, in denen die Ordnung der Familie mit einer Tradition des Ahnenkultes religiös sanktioniert und zusammen mit der daraus resultierenden Kindesliebe das tragende Element darstellen. Diese Familie ist hierarchisch strukturiert. Die einzelnen werden ihrer Ordnung absolut unterworfen. Bis in kleine Details wird die Erziehung der Kinder geregelt, die der Mädchen entsprechend dem der Familie zugeordneten weiblichen Rollenverständnis. Aufs ganze dürfte dieses Ideal nur in vornehmen Kreisen eingehalten worden sein, jedoch sind seine Einflüsse bis heute noch tief im Volk verwurzelt. Ähnliches läßt sich in der koreanischen Tradition nachweisen, wo während der konfuzianischen Yi-Dynastie (1392-1910) das chinesische Vorbild durch Song Siyôl (geb. 1607) weitergeführt wird. Wie in China entspricht die konfuzianische Familie als Mikrokosmos der größeren Ordnung des Staates.

Für den Protestantismus beschränkt sich die Darstellung des Verständnisses von Ehe und Familie vor allem auf Luther und Schleiermacher. Luthers Auffassung von der Ehe hat ihren Ur-sprung in biblischen Wurzeln und korrigiert ehefeindliche Tendenzen der früheren Kirchengeschichte. Ehe und Familie sind der Ort, an dem sich Verantwortung vor Gott verwirklicht, wie sie in Gesellschaft, Staat und Kirche fortgeführt wird. Schleiermacher hat nach seiner Frühzeit, in der er einen romantischen Begriff von Liebe vertrat, der Familie besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Individuelle Liebe ist für ihn auch später ein konstituierendes Element in Ehe und Familie. Individualität freilich findet ihren Rahmen durch die Pflichten innerhalb der Gesellschaft. Als für den Protestantismus typisch wird noch Hegel vorgestellt, für dessen Sicht von Gesellschaft und Staat die Familie konstitutiv ist. Hier findet das Individuum seine Rolle zur Ausübung seiner Sittlichkeit.

In der Untersuchung wird eine Fülle von Material vorgelegt. Die verschiedenen Vertreter der konfuzianischen und der deutschen Traditionen haben in ihrem jeweiligen Raum eine prägende Wirkung auf die Vorstellung und die Wirklichkeit von Familie ausgeübt. Insofern sie aber völlig unterschiedlichen Zeitaltern und verschiedenartigen soziologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Traditionen zugehören, erlaubt die Gegenüberstellung dieser nicht gerade einander kongruenten Vertreter einer Familienlehre keinen unmittelbaren Vergleich. Die Vfn. unterläßt es, vermutlich auch aus diesem Grunde, Vergleiche anzustellen. Eine Wertung unterbleibt ebenfalls, obwohl implizit das Verdikt des Patriarchalismus unüberhörbar bleibt.

Für einen weiterführenden Dialog zum Thema wäre es erforderlich, die fortschreitende Veränderung sowohl im Westen wie in den ehemals vom Konfuzianismus geprägten Ländern ins Auge zu fassen, die in China durch Sozialismus, Bevölkerungspolitik und Modernisierung völlig andere Voraussetzungen heraufgeführt hat. Ebenso läßt sich der Beginn eines Wandels der Familienstrukturen in Südkorea und Japan konstatieren.

Für das Verständnis des einzelnen innerhalb der Gemeinschaft ist im Osten die Konzeption der Familie als Zelle der Gemeinschaft grundlegend. Das Wohl der Gemeinschaft bleibt dem einzelnen vorgeordnet. Zu einer Diskussion über die Familie und dabei insbesondere zur Klärung der Bedeutung eines unbeschränkten ,Individualismus', der z. B. in der Diskussion der universalen Menschenrechte von asiatischen Partnern häufig pauschal gegen den ,Westen' ausgespielt wird, leistet diese Habilitationsschrift einen Beitrag - allerdings ohne daß diese Linien ausgezogen werden. Die Studie gibt einen Anstoß zu weiterführendem Dialog, der über den engeren kontextuellen Horizont europäischer Theologie hinausführen könnte.