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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

783–785

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kippenberg, Hans G., u. Brigitte Luchesi [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lokale Religionsgeschichte.

Verlag:

Marburg: Diagonal 1995. 293 S. 8. DM 39,80. ISBN 3-927165-41-7.

Rezensent:

Udo Tworuschka

Die 20 Beiträge dieses Bandes sind aus einer 1993 in Bremen veranstalteten Tagung der "Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte" hervorgegangen. Kippenberg erläutert das da-hinter stehende Konzpet in seinem einleitenden Aufsatz: "Lo-kale Religionsgeschichte von Schriftreligionen. Beispiele für ein nützliches Konzept" (11-20). Lokale Religionsgeschichte nimmt die "Verflechtung von Religion mit... der Lebenswelt" (16) ernst, will die "Kluft" überwinden, die sich "wissenschaftlich zwischen Schriftreligionen und Lebenswelt" (13) geschoben hat. Konkrete Religionen sind stets mit "räumlichen Le-benswelten" verknüpft, wobei für K. die Spannweite von "Kulturräumen größten Ausmaßes" bis zu den eigentlich lokalen, "überschaubaren Lebenswelten" (16) reicht. Konkrete, räumlich vermittelte Religionen in den Mittelpunkt religionswissenschaftlichen Interesses zu rücken, impliziert zweierlei: Gegenstand ist dann nicht das singularische "Wesen der Religion", das so bedeutende Fachvertreter wie Gerardus van der Leeuw, Gu-stav Mensching, Kurt Goldammer, vor allem aber Friedrich Heiler in den Mittelpunkt gestellt haben.

Menschings Interesse an der individuellen "Lebensmitte" jeder konkreten Religion hat jedoch einer abstrakten Wesensschau immer wieder kräftig entgegengesteuert. Hier soll nicht das - im übrigen religionsdidaktisch sehr bedenkenswerte - Konzept der "Lebensmitte" verteidigt, sondern auf die zum Teil nicht unerheblichen theoretischen und methodischen Unterschiede der oft pauschal kritisierten Klassiker der "Religionswissenschaft des Verstehens" aufmerksam gemacht werden. Aus dieser Tradition läßt sich die heute von der Fachzunft vertretene Erkenntnis ableiten: "Gegenstand der Religionsgeschichte kann nur die empirisch zugängliche Welt der Religionen sein... Die Einzelreligionen sind keine bloßen Variationen desselben Themas, die im Grunde alle einander gleich und daher gleichwertig wären. Der Begriff Religion verbindet sie, aber er ist eben nur der Rahmen, innerhalb dessen eine ungeheure Mannigfaltigkeit religiöser Erfahrungen möglich und religionsgeschichtlich tatsächlich verwirklicht worden ist" (G. Mensching, Allgemeine Religionsgeschichte, Heidelberg, 2., verb. Aufl. 1949, 9 u. 12).

"Es ist ein Desiderat erster Ordnung zu wissen", betont K. zu Recht, "ob und wie Schriftreligionen lebenspraktisch wirksam werden und sich mit Handlungen (alltäglichen und außeralltäglichen) verbinden" (13 f.). Eine realgeschichtlich auf die vielfältigen konkreten Erscheinungsformen von Religion(en) ausgerichtete Religionsgeschichte kann ihren Beitrag zur Erforschung des Menschen und seiner Lebenswelt nur leisten, wenn sie sich stärker interdisziplinär orientiert. Ein Blick auf die mo-derne Geschichtswissenschaft ist hilfreich.

Neben traditionellen Ansätze (Kulturraumkonzept, historische Raumwissenschaft, "histoire regionale") sind in der modernen Geschichtswissenschaft weitere neue Forschungsdesigns entwickelt worden: z. B. eine stärker theorie-, sozialwissenschaftlich und anthropologisch orientierte "Regionalgeschichte" oder eine lebensweltorientierte "Heimatgeschichte". Die großen Theorieströmungen der letzten Jahrzehnte lassen sich auf die folgenden Begriffe bringen: "Geschichte als historische Sozialwissenschaft" (Wehler, Kocka), "Alltagsgeschichte", "historische Anthropologie". In der modernen realwissenschaftlichen, bis in Mikrobereiche hineinleuchtenden Katholizismusforschung ist das Konzept der lokalen Religionsgeschichte mit Blick auf die präzise Rekonstruktion religiöser Lebenswelten in Richtung auf eine religiöse "Milieuforschung" - K.s über das rein geographisch und zeitlich Lokale hinausgehender Begriff "Lebenswelt" scheint mir in diese Richtung zu weisen - erweitert worden (vgl. grundlegend: Michael Klöcker, Religionen und Milieu. Perspektiven im Anschluß an die jüngere Erforschung des "ka-tholischen Milieus". In: Dialog der Religionen 5. Jg., Heft 2, 178-192, Lit.).

Darüber hinaus kann die "lokale/regionale Religionsgeschichte" bzw. "religionsgeschichtliche Milieuforschung" von der ethnographisch ausgerichteten angelsächsischen Religionspädagogik (vgl. Robert Jackson, Ethnography and Religious Education: a Research Report. In: Panorama 6, 1, 1994, 115 ff.) lernen, wie Religion(en) in bestimmten religiösen Milieus konkret von Kindheit an vermittelt werden.

Hinter dem Konzept der "lokalen Religionsgeschichte", de-ren Verhältnis zur"Religionsgeographie" noch eingehender Klärung bedarf, verbergen sich theoretisch, methodisch und inhaltlich verschiedene, auch verschieden anspruchsvolle Konzepte. Auch wenn sie von einigen Autoren thematisiert werden, so findet auf das Ganze gesehen eine eindringende theoretische und methodische Auseinandersetzung mit den zur Zeit in den (historischen) Nachbarwissenschaften diskutierten Ansätzen nicht statt (vgl. U. Tworuschka, Religionsgeschichte heute. In: R. Mahlke/R. Pitzer-Reyl/J. Süß [Hg.], Living Faith. Lebendige religiöse Wirklichkeit, Frankfurt 1997).

Die Beiträge des vom Inhaltlichen her durchweg sehr interessanten Sammelbandes decken nicht nur ein beträchtliches religionsgeschichtliches Spektrum ab, weisen nicht nur einen unterschiedlichen Grad theoretischer und methodischer Verankerung auf, sondern sind - wie der Herausgeber. betont, "in kleinerem oder größerem Maße exemplarisch" (16). Den fünf Hauptkapiteln vorangestellt sind zwei grundsätzliche Beiträge. Burkhard Gladigow sieht im ",vertikale(n) Transfer' von Ergebnissen der Geistes- und Naturwissenschaften in den Bereich von ,Reli-gion'... ein Charakteristikum der europäischen Religionsgeschichte" ("Europäische Religionsgeschichte", 21-42, hier 21). Martin Riesebrodt stellt "Überlegungen zur Konzeptionalisierung religiöser Bewegungen" an und vermag zu zeigen, daß "kulturelle Faktoren nicht nur Ausdruck von Klassen- oder Schichtlagen sein können, sondern auch klassen- und schicht-übergreifende Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen stiften können" ("Kulturmilieus und Klassenkulturen", 43-58).

In der Abteilung "Regionale Abwandlungen von Schriftreligionen" beschreibt Ulrike Brunotte die Faszination der Wildnis, die "als innere und äußere Realität den frühesten amerikanischen Puritanismus begleitet" ("Exodus, Wüste und Neue Welt", 61-72). Manfred Hutter zeigt in seinem Beitrag "Leichenaussetzung und Erdbestattung" (78-83) Entwicklungen auf, die sich im iranischen Zoroastrismus als religiöse Minderheit in islamischer Umgebung ereignet haben. Setzte man ursprünglich die Leichen aus, so entstanden anschließend die "Türme des Schweigens", schließlich regelrechte Friedhöfe. Hermann Schulz analysiert "Aspekte des Islamismus in Algerien" (85-98).

Im Kapitel "Lokale Bedingungen religiöser Loyalitäten" un-tersucht Fabio Mora anhand antiken Quellenmaterials zu Personennamen auf den griechischen Inseln "Theophore Namen als Urkunden lokaler Religion" (101-117). Holger Preißler be-schäftigt sich mit den bisher in der Forschung wenig beachteten Massenveranstaltungen des "Mahnpredigtwesen", "die nicht nur der Ermahnung und Erziehung, sondern durch die Durchsetzung sunnitischer Normen auch der weiteren Islamisierung dienten" ("Baghdad und seine Prediger", 119-128). Karl-Heinz Kohl analysiert "Lokalreligion, Christentum und staatliche Religionspolitik in Ost-Flores" (129-144). Hubert Seiwert geht es in seinem Beitrag nicht primär um die Präsentation religionsgeschichtlicher Fakten, sondern um "die Erläuterung der spezifischen Probleme und Resultate eines regionalhistorischen Zu-gangs zur Religionsgeschichte" ("Orthodoxie und Heterodoxie im lokalen Kontext Südchinas", 145-155).

Die kurze Abteilung "Erfahrungen mit Religion" enthält neben dem Beitrag von Vasilios N. Makrides ("Lokales Religionsverständnis bei Miguel de Unamuno", 171-187) den religionspädagogischen Aufsatz von Jürgen Lott ("Das religionspädagogische Interesse an den Erfahrungen mit Religion im Lebenslauf", 159-169) - ein Plädoyer für die empirische Forschung der realen Erfahrungshorizonte "unter biographisch-soziokulturellem und lebensgeschichtlichem Aspekt" (159).

Ein thematischer Schwerpunkt des Bandes zeichnet sich beim Hinduismus ab. Hans Bakkers Beitrag "Funktion und Macht des Hindu-Tempels im regionalen Kontext" (191-199) zeichnet an drei historischen Beispielen die unterschiedlichen Verknüpfungen der Tempel mit politischen und ökonomischen Machtstrukturen nach. Lourens P. van den Bosch analysiert in "The Rani Sati Temple of Jhunjhunu: A Local Cult as the Center of Patriarchal Protest" (201-222) den Zusammenhang zwischen einer Neuinterpretation des Sati-Kultes (Witwenverbrennung) und einem bestimmten Tempel. Über die Praxis, Götterbilder nur für einen bestimmten Anlaß herzustellen und nach Gebrauch im Wasser zu versenken, reflektiert Brigitte Luchesi in ihrem Aufsatz "Temporäre Kultbilder hinduistischer Gottheiten" (223-233).

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit einer Thematik, die in der Religionswissenschaft bislang weitgehend unbeachtet ge-blieben ist: der Finanzierung von Religion(en). Burkhard Gladigow plädiert dafür, die "Religionsökonomie", worunter er "religionsinterne ökonomische Vorgänge" (254) versteht, als religionswissenschaftliche Subdisziplin zu etablieren ("Religionsökonomie - Zur Einführung in eine Subdisziplin der Religionswissenschaft, 253-258). Wirtschaftlichen Aspekten geht Christoph Auffahrt am Beispiel des griechischen Götterkultes nach ("Gaben für die Götter - für die Katz?" 259-272). Jörg Rüpke stellt "mit dem heuristischen Raster der modernen Bilanzierung die Aufwände und Erträge des Pontifikalkollegiums" im antiken Rom zusammen ("Was kostet Religion?" 273-287). Am Beispiel der thüringischen Universitätsstadt Jena versuchen Thomas Hoffmann und Günter Kehrer in ihrem Aufsatz "Finanzierung von Religion. Beispiel: DDR - Der Verlust von Staatsunterstützung", 289-293) ihre These zu beweisen, "daß bei Funktionieren des Eingangs der Beiträge in Höhe der Kirchensteuer das kirchliche Religionssystem aufrechtzuerhalten gewesen wäre, wenn die Ämterstrukturen den Mitgliederzahlen angepaßt worden wären" (291).

Das Arbeiten mit dem inhaltsreichen Band, der ein wichtiges, neues Forschungsfeld eröffnet, hätte durch ein Personen- und Sachregister erleichtet werden können.