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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

532 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kerber, Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion: Grundlage oder Hindernis des Friedens?

Verlag:

München: Kindt 1995. 289 S. 8o = Fragen einer neuen Weltkultur, 12. DM 36,-. ISBN 3-925412-17-4.

Rezensent:

Andreas Grünschloß

Hans Küngs mittlerweile vieldiskutierte Vision, der Friede in dieser Welt sei letztlich nur durch ein interreligiös begründetes "Weltethos" dauerhaft zu sichern ("Kein Weltfriede ohne Religionsfriede"), ist keineswegs selbstverständlich. Sind Religionen überhaupt in der Lage, innerhalb einer globalen Menschheitskultur den Völkerfrieden zu fördern, oder führen ihre partikularen Wahrheitsansprüche nicht zwangsläufig zu praktizierter Intoleranz? - Ein interdisziplinäres Symposium widmete sich 1993 diesem Fragehorizont; die Beiträge dazu (sowie die an-schließenden Diskussionen) sind in diesem Band veröffentlicht. Aus den je unterschiedlichen Perspektiven von Religionswissenschaft, Politologie, Indologie/Soziologie und katholischer Theologie wird der Zusammenhang von Religion und Toleranz (bzw. Intoleranz) sowie die Funktion und Auswirkung von Fundamentalismen in Religion und Gesellschaft diskutiert.

Carl-Albert Keller äußert zunächst eine grundlegende Skepsis hinsichtlich der Toleranzfähigkeit von Religionen und begründet dies mit Beispielen verschiedenreligiöser ,Grund'-Erfahrungen. In der Regel lasse sich eine deutliche Dialektik von erfahrener "Freiheit" und Übernahme eines neuen religiösen "Gesetzes" feststellen: "Das Erlebnis einer spontanen Befreiung, Erleuchtung, Berufung oder Initiation führt unaufhaltsam oder notwendigerweise zu seiner Fixierung und Konkretisierung in einer Ordnung, einem Gesetz", sowie "in Vorschriften und Organisationen" (28 f.). Verkrustung und Erstarrung sind daher die regelmäßige Folge. Sowohl die Freiheitserfahrung in ihrer Unbedingtheit als auch ihre weitere Fixierung lassen wenig Spielraum für echte Toleranz gegenüber andersreligösen (Selbst-)Erschließungen der letzten Wirklichkeit. "Toleranz" (als Geltenlassen der andersreligiösen Letzterfahrung und Weltsicht) sei daher keine innere Folge religiösen Erlebens, sondern eine durch ,pluralistische' Kontexte von außen herangetragene und somit eher unbequeme Forderung an das religiöse Selbstverständnis. - Der unvermeidliche Schluß lautet: Religion fördert "in ihrem eigentlichen Wesen eher Intoleranz als Toleranz. Sie tendiert auf eine exklusive Haltung, die den anderen ignoriert" (33); dies macht sie anfällig für Fundamentalismen.

Eine innerreligiöse Begründung von Toleranz sieht Keller nur in einem von ihm selbst "utopisch" genannten Rekurs auf die Ursprungserfahrungen gegeben. Die jeweilige kodifizierte Ordnung sei lediglich als Wegweiser in die unmittelbare religiöse Erfahrung zu verstehen: "das Erleben der befreienden Begegnung mit der letztgültigen Dimension" (37). Nur wenn Religionen ihre in Dogma und Gesetz erstarrten Traditionen als Wege "zum inneren Erleben des letzten Grundes" (37), der angeblich nur "einer" sein kann, wiederentdecken und relativieren könnten, würden "die von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuche dahinfallen, durch Verhandlungen zu einem einheitlichen, alle Systeme umfassenden Gesetz und Dogma zu gelangen" (36). - Keller erntet für diesen ,mystischen' Rekurs auf die Erfahrung des Unaussprechlichen (berechtigte) Kritik in der nachfolgenden Diskussion.

Thomas Meyer führt einen Fundamentalismus-Begriff ein, der auf die Ebene des Politischen ausgeweitet ist (vgl. bereits die diesbezüglichen Publikationen des Autors von 1989) und versteht darunter ganz allgemein eine selbstgewisse "Kommunikationspathologie", die den "offenen", rationalen Diskursen der Moderne zuwiderläuft (173 f.). Das apriorische Gewiß-heitspathos des Fundamentalismus will alle modern - oder genuin religiös begründeten - "Ungewißheitsvorbehalte" (vgl. die Diskussionsbeiträge von Schaeffler, 186 ff.) ausschalten und die je eigene religiöse (moralische, politische) Perspektive alternativenlos gegen alle anderen durchsetzten und immunisierend verabsolutieren. Fundamentalismus ist jedoch keine spe-ziell religiöse Reaktionsform und schon gar keine jeder Reli-gion notwendig inhärente Perspektive, sondern eine "dem Prozeß der Modernisierung immanente Gegenbewegung mit schwankenden Konjunkturen", die vor allem "in der Doppelkrise von kulturellem Identitätsverlust und sozialer Bedrohung immer am chancenreichsten" ist (181). Religionen können aber in modernen und pluralen Gesellschaftskontexten nur dann einen konstruktiven Beitrag leisten, "wenn sie sich nicht fundamentalistisch selbst bornieren" (182).

Ein allerdings prägnantes Beispiel für letzteres liefert der umfangreiche Beitrag zum hindu-muslimischen Ayodhya-Konflikt von Clemens Jürgenmeyer, der zunächst die Versuche kritisiert, den Konflikt zwischen den Religionsgemeinschaften in Indien ausschließlich auf die Unversöhnbarkeit ihrer angeblich monolithischen Religionsgestalt zurückzuführen. Hier spielen gesellschaftliche - bzw. genauer: politische - Faktoren eine entscheidende Rolle, denn die Glaubensinhalte selbst können "je nach Zeit und Situation gewaltfördernd, in anderen friedensstiftend sein" (81).

Die ausführliche, kenntnisreiche und spannende Darstellung des Ayodhya-Konflikts (der bislang in der Zerstörung der Babur Moschee gipfelte) und seiner Hintergründe und Folgen in Geschichte, Politik und Gesellschaft Indiens läuft auf die These hinaus, daß grundsätzlich keine der beiden Religionsgemeinschaften per se zu intolerantem Verhalten neige; die kommunalistische Eskalation des Streits sei eher auf die "Instrumentalisierung" religiöser Bilder und Mythen für partei- und machtpolitische Zwecke zurückzuführen. Positiv gesehen lasse sich aber aus solchen, in der Regel nur regional (dann aber durchaus heftig) aufflammenden Konflikten keinesfalls eine fundamentalistische ,Hinduisierung' der indischen Gesamtgesellschaft (o. ä.) ableiten; das "Fließgleichgewicht" zwischen den verschiedenen Interessengruppen in Indien habe sich bislang immer wieder als relativ stabil erwiesen.

Dieser Beitrag von Jürgenmeier ist m. E. der interessanteste, weil seine ,dichte Beschreibung' des Ayodhya-Konflikts mit vielen "neuen" und informativen Details aufwarten kann, die eine mögliche Dienstbarmachung des Religiösen für politische Zwecke sehr eindrücklich vor Augen führen. Keller, der für seine romantisierende Neigung zur Mystik ohnehin nicht unbekannt ist, bietet dagegen - abgesehen von der religionswissenschaftlich berechtigten Skepsis gegenüber einer innerreligiös einfach begründbaren Toleranz gegenüber dem religiös Fremden - nichts wesentlich Neues. Ähnliches gilt für die Beiträge von Meyer und Waldenfels; letzterer schildert im wesentlichen seinen Überblick über den religionstheologischen Stand der Dinge in der katholischen Tradition.

Fazit: Der Band liefert - nicht zuletzt auch durch den Abdruck der jeweiligen Diskussionen (im größeren Plenum) - einen durchaus informativen Einblick in den aktuellen Stand der religionstheologischen und -dialogischen Debatte sowie in die grundlegenden Probleme interreligiöser Hermeneutik.