Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1099–1103

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, hrsg. von E. Dassmann, H. Brakmann, C. Colpe, A. Dihle, J. Engemann, K. Hoheisel, W. Speyer, K. Thraede. Bd. XVII, Lfg. 129-136 Iao-Indictio.

Verlag:

Stuttgart: Hiersemann 1996. 1299 Sp. gr.8. Lw. DM 490.-. ISBN 3-7772-9611-2.

Rezensent:

Christoph Markschies

In der erstaunlich kurzen Zeit von zwei Jahren hat das Bonner Dölger-Institut einen weiteren Band des "Reallexikons für Antike und Christentum" vollendet, der hier wieder nach der bereits in ThLZ 121, 1996, 1067-1075 angewendeten Gliederung besprochen werden soll. Auch dieser Band des "Reallexikons" enthält zunächst wieder einen wichtigen Personenartikel: Der verstorbene Hamburger Neutestamentler Henning Paulsen faßt seine verschiedenen Studien zu Ignatius von Antiochien zu einem dichten Artikel zusammen (933-953):

Paulsen entwickelt eine vergleichsweise "klassische" Biographie des Ignatius aus den Nachrichten der Briefe. Die jetzt wieder durch R. M. Hübner mit bedenkenswerten Argumenten vorgetragene These der Pseudepigraphie (Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien, ZAC 1, 1997, 44-72; in den folgenden Heften Antworten von Lindemann, Schöllgen und Edwards) wird nur sehr knapp erwähnt; gegenüber der Notiz von Malalas, Ignatius sei im Zusammenhang mit dem Erdbeben am 13.12. 115 verhaftet worden, bleibt Paulsen (933) vorsichtig; der von ihm zitierte Lightfoot ist deutlicher: "his particular statement here carries with it any appearance of probability" (Apostolic Fathers II/2, 443).

Ein längerer Abschnitt versucht zu zeigen, daß Ignatius in seiner theologischen Argumentation über die "gesellschaftlichen Bedingungen hinaus" geht (936), und demonstriert so die anhaltene Wirkung wissenschaftlicher Diskurse der frühen siebziger Jahre, obwohl doch längst Konsens über unser mangelndes Wissen auf dem Gebiet der Sozialgeschichte christlicher Gemeinden im zweiten Jahrhundert besteht. Paulsen demonstriert, wie stark die Theologie des Ignatius traditionellen alt- und neutestamentlichen Einsichten verpflichtet ist und inwieweit sie an zeitgenössische pagane Denkmuster erinnert - allerdings hätte man sich hier gelegentlich größere Präzision gewünscht: In welchem Verhältnis steht beispielsweise der Begriff "Schweigen" in der Gotteslehre des Ignatius zu den großen späteren gnostischen Systembildungen (939)? Handelt es sich bei den ewig umstrittenen Punkten der Ekklesiologie des Ignatius, sofern man an der Authentizität der Briefe festhalten will, nicht um vollständige Solitäre in der zeitgenössischen Theologie, die der eingehenden Erklärung bedürftig sind und kaum so die antiochenische Gemeindewirklichkeit widerspiegeln, sondern eher die Wunschvorstellung des Bischofs (Stichworte: Einheit und Bischofsamt; Paulsen: "dann genügt es nicht, sie nur als eine Wiedergabe der konkreten Gemeindeverhältnisse in Kleinasien zu deuten" [942])? Gern hätte man erfahren, wie der Autor sich zu den m. E. überzeugenden Bonner Thesen einer oikos-Ekklesiologie stellt, wie sie der Herausgeber Ernst Dassmann vertritt (ders., Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, Hereditas 8, Bonn 1994). - Leider sind jeweils die Nachdrucke von zitierten Aufsätzen in leichter zugänglichen Sammelbänden nicht bibliographiert.

Unter den Orts- und Landesartikeln ragt neben dem sorgfältigen Artikel "Iberia II (Georgien)" von Otar Lordkipanidse und Heinzgerd Brakmann (12-106) der große Artikel "Jerusalem I (stadtgeschichtlich)" von Ute Wagner-Lux und Brakmann hervor (633-718), er kann auf die vorzügliche Ortskenntnis der früheren Direktorin des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes und auf Ergebnisse des Tübinger TAVO-Projektes zur Baugeschichte Jerusalems zurückgreifen und bietet so beispielsweise Tübinger Karten (650. 658). Der gründliche Artikel provoziert allerdings zu einigen Anmerkungen und Ergänzungen:

Frau Wagner-Lux läßt die Frage, ob die sogenannte Mayer/Sukenik-Mauer die bei Josephus erwähnte dritte Mauer ist, offen (647); auf die umstrittene Frage, wo der Hasmonäer-Palast genau lag und ob sich Reste archäologisch nachweisen lassen, geht sie ebenfalls nicht ein. Die Diskussion um ein judenchristliches Quartier auf dem Zion ist nach der Veröffentlichung des Artikels im Juni 1995 noch einmal in ganzer Schärfe aufgebrochen, vgl. R. Riesner, Der christliche Zion: vor- oder nachkonstantinisch?, in: F. Manns/E. Alliata [Hrsg.], Early Christianity in Context. Monuments and Documents, SBF.CM 38, Jerusalem 1993, 85-90 und dagegen skeptisch K. Bieberstein, Die Hagia Sion in Jerusalem. Zur Entwicklung ihrer Traditionen im Spiegel der Pilgerberichte, in: Akten des XII. Internationalen Kongresses für Christliche Archäologie, JbAC Ergbd. 20/1, 1995, 543-551. Damit hängt die Frage einer möglichen Flucht dieser Gemeinde nach Pella zusammen, man hätte sich auseinandersetzen müssen mit J. Wehnert, Auswanderung der Jerusalemer Christen nach Pella - historisches Faktum oder theologische Konstruktion? ZKG 102, 1991, 232-255. Für das spätantike Jerusalem wird die Stadtvignette aus der Madabakarte abgebildet (667/668 = Abb. 3); die sehr knapp gehaltene Legende hätte allerdings noch eine ganze Anzahl weiterer, mit Sicherheit identifizierter Bauten aufnehmen können (vgl. H. Donner, The Mosaic Map of Madaba, Palaestina Antiqua 7, Kampen 1992, 88-94). In dem Abschnitt über den Versuch des Tempelwiederaufbaus unter Julian (683 f.) hätte man unbedingt auf den von S. P. Brock aus Havard Syriac 99, fol. 188 v-190r publizierten, übersetzten und kommentierten Ps.-Cyrill-Brief über die Details nennen und besprechen müssen (A Letter attributed to Cyril of Jerusalem on the Rebuilding of the Temple, BSOAS 40, 1977, 267-286).

Die Artikel über wichtige Begriffe haben diesmal zwei deutliche Schwerpunkte: "Idee" (Matthias Baltes, 213-246) und den großen Komplex "Jenseits", der sich in die Teilartikel "Jenseits (Jenseitsvorstellungen)" (246-407; Beiträge von Carsten Colpe, Dassmann, Josef Engemann, Peter Habermehl und Karl Hoheisel); "Jenseitsfahrt I (Himmelfahrt)" (407-466; Colpe, Dassmann, Engemann, Habermehl); "Jenseitsfahrt II (Unterwelts- oder Höllenfahrt" (466-489; Colpe) und "Jenseitsreise (Reise durch das Jenseits)", (490-543; Colpe/Habermehl) aufgliedert. Der Artikel "Idee" ist vor allem in seinen Passagen über antike Philosophiegeschichte von leuchtender Klarheit, zeigt, daß die Ideenlehre im Mittel- und Neuplatonismus keineswegs gegenüber Platon selbst zurücktrat (227-234) und daß die allmähliche Rezeption dieses Theorems in der christlichen Theologie mit dem "immer eindeutiger werdenden Sieg des Platonismus über die anderen Schulen" parallel geht (239). Trotzdem vermied man gern den Begriff (245).

Eine exakte begriffliche Abgrenzung der Artikel zum Begriffsfeld "Jenseits" ist natürlich schwierig, zumal es schon Artikel zu den Themen "Himmel" und "Himmelfahrt" gibt (Bd. XV, 1991, 173-212: A. Lumpe/H. Bietenhard; 212-219: C. Colpe), auch einen Artikel "Höllenfahrt" (1016-1023; Colpe), aber keine Artikel zu den Lemmata "Hades" und "Hölle". Colpe definiert klar (410): ",Jenseits’ wird als Wort der Metasprache, ,Himmel’ als Wort der Objektsprache verstanden", es wäre natürlich schön gewesen, wenn man unter diesem klaren Vorzeichen die verschiedenen Artikel aus den Bänden XV und XVII hätte zusammenarbeiten können. Peter Habermehl greift u. a. deswegen auch auf Bestattungsbräuche, Heroenvorstellungen und die Seelenlehre aus (259-262) und faßt verdienstvoll knapp die Interpretationsprobleme von Sarkophagdarstellungen und Inschriften zusammen. In meisterlicher Kürze und Dichte sind etwa Informationen zu kaiserzeitlichen Mysterienkulten gegeben (313-318). Allenfalls die Hinweise auf die christliche Volksfrömmigkeit, wie sie sich vor allem in den neutestamentlichen Apokryphen äußert, hätte man sich noch ausführlicher gewünscht (sehr knappe Hinweise von Dassmann, 387 f.), denn die wenigsten Christen dürften die ausführlichst referierte theologische Literatur zur Kenntnis genommen haben. Etwas harsch gegenüber der Volksfrömmigkeit ist auch Colpes Urteil über das Theologumenon der Höllenfahrt in den Oden Salomos und vergleichbaren Texten: "Die Mystifizierung eines Teils der werdenden Christologie enthüllt sich als potentiell häretisch" (478). Zwei kleine Hinweise zu zwei großen Artikeln: Ob die Anwendung des Begriffes der Entmythologisierung auf Origenes (bei Daley und Dassmann, 361) besonders glücklich ist, darf man bezweifeln: Liegt doch ein bestimmter, platonisch geprägter Umgang mit dem Mythos vor, nicht der Versuch, ihn im Rahmen der kirchlichen Verkündigung durch eine neue theologische Redeweise zu ersetzen. Gewiß erlangt die "Vergöttlichung des verstorbenen Kaisers zu keinem Zeitpunkt dogmatische Qualität" (Colpe, 430) - aber sie wird u. a. durch das notwendige, die Himmelsreise bestätigende Zeugnis von römischen Beamten zu einem institutionalisierten Akt (vgl. E. Bickermann, Die römische Kaiserapotheose, in: A. Wlosok, Römischer Kaiserkult, WdF 372, Darmstadt 1978, [82-121] 93).

Neben dem Schwerpunkt im "Jenseits" werden aber auch so wichtige Themen wie "Imperium Romanum" (1198; Hans Armin Gärtner) behandelt; eine Pionierleistung stellt der Artikel "Improvisation" (1212-1284; Jürgen Hammerstaedt/Peri Terbuyken) dar. Er behandelt unter diesem Leitbegriff so verschiedene Themen wie ad-hoc-Übersetzungen von Predigten in Volkssprachen (1260 Jerusalem; man hätte auch auf Antiochia hinweisen können), die Stenographie (vgl. dazu aber in jedem Fall: E. Preuschen, Die Stenographie im Leben des Origenes, Archiv für Stenographie, 56, 1905, 6-55) und das spannende Problem von Improvisation, die aus rhetorischen Gründen vorgetäuscht wird (z. B. bei Ambrosius, 1270).

Zur Literaturgeschichte im weitesten Sinne, die sich im RAC eher auf Landes- und Personenartikel verteilt, ist neben dem Artikel "Jeremia" des Herausgebers Ernst Dassmann (543-631) und dem Artikel "Jesaja" von Pierre Jay (764-821) vor allem der Artikel "Jesus Sirach" von Maurice Gilbert zu zählen (878-906). Dessen gründliche Angaben zu den Verfassern, der Titelei und Überlieferungssituation des Buches Sirach muß man jetzt noch ergänzen durch die Synopse von P. C. Beentjes [Hrsg.], The Book of Ben Sira in Hebrew, VT.S 68, Leiden u. a. 1997; bei der Darstellung des Befundes zur Vetus Latina hätte man sich einen knappen Hinweis auf die Debatte De Bruyne-Thiele (VL 11/2, 103-112) gewünscht. Auch die Rezeption der Debatte um den Einfluß hellenistischer Gedanken auf das biblische Buch scheint dem rezensierenden Patristiker unvollständig; dafür gibt es eine verdienstvolle Liste rabbinischer Zitate des Buches (887).

Die Darstellung der christlichen Rezeption konzentriert sich auf die expliziten Widersprüche zwischen der Abweisung der kanonischen Autorität und der gleichzeitigen Zitation als Heiliger Schrift (z. B. bei Athanasius, 893 - es wäre allerdings schön, wenn man hier z. B. statt der Angabe "apol. c. Arian. 1,66 [PG 25, 368 A]" einen Verweis auf die kritische Edition lesen könnte, gemeint ist: apol. sec. 66,1 [II, 145,4 f. Opitz]. Außerdem hätte angemerkt werden müssen, daß es sich um einen von Athanasius zitierten Brief handelt!). Anders Dassmann in seinem Jeremia-Artikel, der stärker nach den inhaltlichen Einflüssen des alttestamentlichen Buches auf patristische Autoren fragt; für die Rezeption von Jer 9,22 f. im Frühjudentum und bei Paulus muß man jetzt auf die sehr gründliche Monographie von U. Heckel, Kraft in Schwachheit, WUNT II/56, Tübingen 1993, 162-193 Bezug nehmen. In Dassmanns vorzüglichen Artikel finden sich auch einige interessante Erwägungen, z. B. die, daß Origenes Predigtzyklen wie den über das Jeremiabuch nicht allein bestritten hat (589). Der Jesaja-Artikel von Jay bleibt gelegentlich hinter dem Diskussionsstand zurück; das gilt vor allem für die Rezeption des sogenannten vierten Gottesknechtsliedes im Neuen Testament und in der patristischen Literatur (819; vgl. beispielsweise die Beiträge von Hengel und Markschies samt ihren Literaturhinweisen in: B. Janowski/P. Stuhlmacher [Hrsg.], Der leidende Gottesknecht, FAT 14, Tübingen 1996). - Ein längerer Artikel ist den "Ich-Bin-Worten" gewidmet (Hartwig Thyen, 147-213):

Er bestätigt Nordens These vom "unhellenischen Charakter" der Formel durch eine Fülle von Belegen und Textzitaten gerade auch aus dem ägyptischen und altorientalischen Raum (für die Isisaretalogien hätte man hinweisen können auf: M. Totti, Ausgewählte Texte der Isis- und Sarapis-Religion, SubEpi 12, Hildesheim, Zürich, New York 1985). Nach ausführlichen Bemerkungen zum neutestamentlichen Befund werden die montanistischen Zeugnisse vorgestellt (184 f.); man sollte übrigens einmal erwägen, ob die nicht nur bei (Ps.-?) Did., trin. III 41,1, sondern auch im Ps.-Athanasianischen Dialog zwischen einem Montanisten und einem Orthodoxen (p. 117 Heine) gebrauchte Formel ego eimió pater ktl. (Aland Nr. 1/2 = Heine Nr. 15/16) nicht eine (gar montanismuskritische?) Weiterbildung des sicher belegten montanistischen Orakels ego kyrios ho theos ho pantokratos (Aland Nr. 3 = Heine Nr. 1 = Epiphanius, haer. 48,11,1 [GCS Epiphanius III, 233,18 f. Holl]) ist.

Als Sachartikel haben für diesmal nur der "Igel" (Franz Witek, 912-932) und der "Ibis" (Manfred Weber, 106-147) Eingang gefunden, der reich dokumentierte Artikel "Ibis" informiert zugleich über die Kultgeschichte des ägyptischen Gottes Thot (111-119), die Isis-Mysterien (132 f.) und die beliebten Nillandschaften auf Wandmalereien und Mosaiken (133-136). Angesichts der Fülle von Informationen hätte man bei den Hinweisen auf Nildarstellungen mit Ibis-Abbildungen in christlichen Kirchen größere Vollständigkeit erwartet: Neben Tabgha am See Genezareth, St. Georg in Gerasa/Jerasch wären weitere Ausgrabungen in Jordanien und Syrien zu nennen.

Wieder gilt, daß dieser scheinbar detaillierte Durchgang in Wahrheit den Reichtum der achtundzwanzig Artikeln von fast ebenso vielen Autoren kaum ausschöpfen konnte und meine wenigen kritischen Bemerkungen die beeindruckende Qualität der Artikel und die gründliche Arbeit der Redaktion nicht verdecken wollen. Es ist kein Zufall, daß seit diesem Band zwei Mitglieder der Redaktion, Heinzgerd Brakmann und Karl Hoheisel, in die Mitherausgeberschaft eingetreten sind. Das Lexikon hat wieder einmal die hohen Erwartungen, die man als Benutzer ohnehin schon an seine Bände richtet, übertroffen.