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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

635–637

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bergunder, Michael

Titel/Untertitel:

Wiedergeburt der Ahnen. Eine religionsethnographische und religionsphänomenologische Untersuchung zur Reinkarnationsvorstellung.

Verlag:

Münster-Hamburg: LIT 1994. XII, 514 S. 8 = Hamburger Theologische Stu-dien, 6. Kart. DM 68,80. ISBN 3-89473-800-6.

Rezensent:

Heinrich Balz

Die Hallenser Dissertation von Michael Bergunder stellt im Verhältnis zur bisherigen Behandlung des Gegenstandes einen neuen Stand der Forschung zum Gesamtfeld der Ahnen- und Säuglingsreinkarnation in indigenen Kulturen dar. Alte Unbestimmtheiten, Aporien und voreilige Theorien werden sichtbar im Horizont einer neuen, auf umfangreichem Quellenstudium begründeten eigenen Theorie- und Begriffsbildung. Dies allein schon macht sie verdienstvoll, unbeschadet ihrer eigenen methodischen Grenzen. Das Buch gehört zu denen, die man schnell und langsam zugleich lesen müßte: langsam, um die Weite des gedeuteten Quellenmaterials zu würdigen, und schnell, um darüber nicht den roten Faden des vom Autor weiterführend Eingebrachten zu verlieren. Insofern ist es eine zwar mühsame, aber notwendige Kost insbesondere für Leser, die zur Religionsethnographie selber Umfängliches geschrieben haben.

In den "Methodischen Vorüberlegungen" (3-93) holt B. weit aus, um an alten und modernen Autoren die Eigenart ethnographischer Quellen, ihre Subjektivität und nur teilweise Falsifizierbarkeit zu zeigen. Ständig im Hintergrund ist dabei die Auseinandersetzung mit dem unkritischen und einseitig-selektiven Gebrauch dieser Quellen in der modernen Esoterik. Eigene Feldforschung ist, wie notwendig auch immer, nicht als höhere Initiation mißzuverstehen, welche die vergleichende Interpretation vorhandener Texte, auf welche B. sich beschränkt, ersetzen könnte. Zur Diskussion steht in der Ethnologie die Erkenntnistheorie und Hermeneutik des uns Fremden, Übersetzungsbedürftigen: "Wir" Europäer heute sind so positivistisch nicht mehr, daß ein "übernatürlicher Anteil" bei der Zeugung und Empfängnis eines Kindes uns unvorstellbar wäre, die Menschen der indigenen Kulturen sind umgekehrt rationaler als der ältere Evolutionismus sie haben wollte. Über eigene Postulate strebt B. sodann zum zentralen Problem "mythischen Denkens" hin (51-77), das über den eigentlichen Mythos weit hinaus und, trotz und gegen Bultmann, in christlichen Glauben tief hineinreicht: Für den christlichen Laien ist bis heute Abendmahl "mythische Partizipation" und Trinität "Mehrfachgegenwart" wie bei L. Lévy-Bruhl philosophisch beschrieben. Dies mit lo-gischem Denken bzw. in indigener Kultur mit der "Common sense Perspektive" (C. Geertz) zu vermitteln, macht für B., der hier sein methodisch und hermeneutisch Eigenstes mehr andeutet als ausführt, den "mit Abstand kompliziertesten" Teil seiner Studie aus. Dabei geht es auch darum, alle die scheinbar definitiven Argumente aus der neueren Ethnologie und Philosophie gegen Lévy-Bruhl in ihre Schranken zu weisen.

Etwas mühsam ist, auch für den spezialisierten Leser, der Hauptteil der Dissertation, die umfängliche "Religionsethnographische Übersicht" (97-316) zu lesen. Vorausgesetzt ist die von B. selbst entwickelte und später begründete Unterscheidung von Ahnen- und Säuglingsreinkarnation, wobei die letztere vom Material her nur 30 Seiten füllt, die Ahnenreinkarnation aber 190. Das Material dazu ist gegliedert in Regionen; zwei große Kapitel behandeln Afrika (97-168) und Amerika (211-287), kleinere Abschnitte über Australien, Ozeanien und Sibirien stehen dazwischen. Die Darbietung und Interpretation der Quellentexte von Reisenden, Missionaren und Ethnologen ist detailliert, die Unterscheidung von Beobachtetem und spekulativ Systematisiertem - nicht erst auf seiten der europäischen Autoren, sondern schon bei den einheimischen Experten für "sekundäre Rationalisierung" - ist weithin einleuchtend, ebenso die Bewertung von guten und weniger guten Quellen. Der Leser wird insgesamt ausgiebig in die Werkstatt sammelnder Ethnographie geführt; Zusammenfassungen der einzelnen Re-gionalkapitel muß er sich freilich selber machen. Typisierung, Kontrastierung und damit der Erkenntnisfortschritt, obwohl hier und da, besonders im Leitwort der Mehrfachgegenwart der Ahnen angedeutet, bleiben nur schwer zu fassen.

Teil III (319-431) nimmt die im methodischen Eingangsteil versprochene "Religionsphänomenologische Darstellung" der Reinkarnationsvorstellungen wieder auf. Der bisherige Stand der Diskussion über sie in Standardwerken, regionalen Übersichten und allgemeiner Theoriebildung ist offenkundig unbefriedigend, obwohl der Ansatz der schwedischen Schule (A. Hultkrantz, A. Wachtmeister) und E. Durkheims soziologische Fragestellung auf der richtigen Spur sind. B. grenzt seinen Begriff von Reinkarnation ab von Transmigration oder Seelenwanderung als möglicher Wiedergeburt auch in Tieren sowie von Besessenheit, Verjüngung und Auferstehung, faßt ihn aber andererseits mit "Mehrfachgegenwart" der Ahnen so weit, daß er auch auf Afrika weithin anwendbar wird, was nicht unumstritten ist. Ahnenreinkarnation meint einen Vorstellungskomplex, "dessen zentrale Größe die Wiedergeburt eines Ahnen in einem neugeborenen Kind darstellt", die aber in der Regel einhergeht mit der "gleichzeitigen Gegenwart der betreffenden reinkarnierten Person im Totenreich", und häufig auch mit der Reinkarnation eines Verstorbenen in mehreren seiner Nachkommen (361f.).

Verbunden sind diese verschiedenen, nur scheinbar unvereinbaren Aspekte durch "Partizipation" im Sinne Lévy-Bruhls. Bei der Säuglingsreinkarnation geht es darum, sie erst noch als eine "selbständige phänomenologische Größe" zu erfassen: Sie hat nicht eigentlich mit dem Reich der Toten zu tun, sondern mit der Präexistenz der Kinderseelen, einem Reservoir, das für neue Geburten wieder zur Verfügung steht (388-398). In einem wichtigen Kapitel stellt B. die - längst erwartete - kontrastive Beziehung zur Seelenwanderung in nicht-indigenen Religionen, insbesondere im Hinduismus her (411-425):

Durch den moralisch bestimmten Karma-Gedanken und ihren Individualismus ist sie dort grundsätzlich geschieden von der archaischen Ahnen- und Säuglingsreinkarnation, die Gegenstand der Untersuchung ist. Gleichwohl finden sich Spuren der letzteren beiden auch in der indischen Volksreligiosität neben und unter dem Hinduismus, und bestätigen sie damit als "selbständiges und relativ geschlossenes System einer Jenseitsvorstellung". Im sehr knappen theologischen Schlußkapitel (426-431) deutet B. auf R. Friedlis Spuren mögliche Konsequenzen seiner Forschungsergebnisse für den interreligiösen Dialog zwischen Christen und Buddhisten sowie auch für den mit den indigenen, speziell afrikanischen Religionen an. Hinsichtlich der Wahrheitsfrage ("Gibt es Reinkarnation?") salviert sich der Autor mit Immanuel Kant: Alles einzelne läßt sich mit guten Gründen bezweifeln, der Sache im ganzen müsse man dennoch "einigen Glauben" beimessen.

B.s weitgespannte Untersuchung reizt zum Weiterdenken und Widerspruch gleichermaßen, wobei beides ineinander übergeht. Im westafrikanischen Bereich weiß B. über die Bakossi in Ka-merun aus J. Ittmanns Forschungen von 1956, daß es die Vorstellung der Säuglingsreinkarnation dort gibt. Diesem missionarischen Autor wirft B. jedoch alsbald vor, daß er "Ahnenstatus kontra Reinkarnation setzt", d. h. die Ahnen im Totenreich von ihr ausschließt und sich durch dieses sein Vorverständnis "den Zugang zur Ahnenreinkarnation verstellt" (396). Aus eigener Kenntnis der Bakossi, Ittmanns und seiner Quellen (insbesondere J. Autenrieth 1913, s. Balz 1995, 68 f.) muß der Rez. hier sachlich wie auch methodisch widersprechen:

Ittmann stellt die Frage nach Ahnenreinkarnation hier wesentlich deshalb nicht, weil sie sich für die Bakossi nicht in gleicher Weise stellt wie die der Säuglingsreinkarnation, die bis heute, trotz gesunkener Säuglingssterblichkeit noch weithin, auch von Christen, geglaubt wird. Von den Ahnen wurde und wird Reinkarnation nur bewußt metaphorisch und in "sekundärer Rationalisierung" behauptet, und dies darum, weil der Ahnenkult sie eindeutig und ausschließlich im Totenreich festhält. Die Ahnen waren der alten Religion mächtige Geber und selbst die Verfertiger von Kindern im Mutterleib, aber eben darum wurden sie selber nicht wieder Kinder. Hier setzten die Bakossi und nicht erst die Missionare Ahnenkult und Säuglingsreinkarnation gegeneinander; sie dachten nicht mythisch-partizipativ, sondern logisch-klassifikatorisch. Verläßlichen Zugang zu solchem Denken bietet freilich nicht vorrangig der Vergleich westafrikanischer Ahnenvorstellungen, sondern der Vergleich des jeweiligen Ahnenkults als einer in seiner Vielfalt und Differenzierung auch kognitiv relevanten Ausdrucksweise, die weder im "mythischen Denken" noch im indigenen common sense oder unmittelbar im sozialen System aufgeht.

Es ist die methodische Grenze der vorliegenden religionsphänomenologischen Untersuchung, daß sie - darin an der Schwachstelle auch von Lévy-Bruhls Begriff von Religion partizipierend- von den aus ihrem kultischen und religiösen Sitz im Leben weitgehend gelösten Vorstellungen mehr Aufschluß fordert als diese in der Isolation geben können. Die anspruchsvolle Tendenz B.s, in der Ahnen- und Säuglingsreinkarnation ein universales, zeit- und ortloses "selbständiges und relativ geschlossenes System einer Jenseitsvorstellung" erweisen zu wollen, muß problematisch bleiben.

Um so einleuchtender und beherzigenswerter ist die, ebenfalls bei ihm angedeutete, bescheidenere Linie, mit dem neugefaßten Begriffsinstrumentarium nach den beiden Reinkarnationsformen in der Religion, im Denken und im Kult heuristisch zu fragen. Hier könnte manches bislang Unerkannte zutage gebracht werden, und die Ergebnisse werden die Theoriebildung ihrerseits berichtigend weiterbringen.