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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

789–791

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

(1) Schumann, Hans Wolfgang (2) Becke, Andreas

Titel/Untertitel:

(1) Die großen Götter Indiens. Grundzüge des Hinduismus und Buddhismus.
(2) Hinduismus zur Einführung.

Verlag:

(1) München: Diederichs 1996. 253 S. m. Zeichn. = Diederichs Gelbe Reihe, 129. Kart. DM 24,-. ISBN 3-424-01332-3.
(2) Hamburg: Junius 1996. 154 S. Kart. DM 19,80. ISBN 3-88506-934-2.

Rezensent:

Martin Baumann

Die indische Philosophie wurde im 18. Jh. von J. G. Herder, den Gebrüdern Schlegel und anderen im Zeichen romantischer Urspungssuche und -sehnsucht entdeckt. Erste Übersetzungen hatten die religiös-philosophischen Systeme europäischen Rezipienten nahegebracht, eine Unterscheidung hinduistischer und buddhistischer Traditionen kam erst zur Mitte des 19. Jh.s auf. Die "lebendige religiöse Wirklichkeit" (so der Titel einer gerade erschienenen Festschrift für H. J. Greschat, Frankfurt 1997) blieb jedoch völlig unberücksichtigt, von den sozial-kulturellen Bräuchen und religiösen Kulten hielt man sich bewußt entfernt, nicht nur räumlich.

Die zwei vorliegenden Einführungen lassen noch manches dieses orientalistischen Erbes erkennen, zumindest was die Auswahl der vorgestellten Themen betrifft. Der renommierte Autor Schumann, Indologe und 20 Jahre im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland in Indien tätig gewesen, stellt in gewohnter Verständlichkeit die "großen Götter Indiens" vor. Was anhand des plakativen Titels für den Bereich der Hindutraditionen mit Brahma, Vishnu und Shiva gilt, erscheint für den Bereich des Buddhismus eher zweifelhaft. Denn der Buddha ist weder ein Gott, noch wird er als solcher verehrt und zudem sind Götter, anders als ein Buddha, weiterhin der Wiedergeburt unterworfen (200). Als Grundzüge des Hinduismus erläutert Schumann Lehrinhalte wie das Karma-Gesetz, das Kastensystem sowie dann ausführlich die genannten "großen Götter der Hindus" (37 ff.) und ihre Inkarnationen. Der Göttin Kali bzw. Durga und dem Shakti-Kult hätte womöglich mehr Raum eingeräumt werden können (117-123), zumal die Verehrung der Muttergöttin oft gleichrangig neben die Shiva- und Vishnu-Verehrungstraditionen gestellt wird. Die Erläuterung der indischen Wiedergeburtslehren im Kapitel "Seelensucher gegen Seelenleugner" (131-144) leitet zum zweiten Teil des Buches, dem Buddhismus über.

Der Darstellung des Lebens und der Lehre des historischen Buddha sowie des Übergangs vom frühen zum Mahayana-Buddhismus folgt als dritter Teil die kenntnisreiche Erläuterung der Darstellung des Buddha in der Kunst. Auch hier werden die künstlerischen Ausdrücke wie bei der Vorstellung der hinduistischen Götter hilfreich durch Zeichnungen unterstützt. Ein thematisch geordnetes Literaturverzeichnis und ein ausführliches Register schließen den schön gestalteten Band ab.

Einen anderen Zugang zur Einführung in den Hinduismus wählt Andreas Becke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Religionswissenschaft der Universität Hannover. Becke geht es, mehr noch als Schumann, um die Darlegung der philosophischen Systeme des Hinduismus. Dieses erfolgt in knapper, jedoch kompetenter Form im zweiten Hauptkapitel (29-80). Das dritte Kapitel ist der Spannung von Hinduismus und Mo-derne, so wie sie in Form neo-hinduistischer Reformbewegungen des 19. und 20. Jh.s zutage trat und tritt, gewidmet. Die wichtigsten Vertreter, von Ram Mohan Roy über Vivekananda, Gandhi bis zu Radhakrishnan, werden kurz vorgestellt und ihre ,Antworten' auf den Einzug der Moderne in Indien skizziert.

Als innovativ stellt sich das einleitende Kapitel zur Frage, was der Hinduismus sei, dar. Anders als Schumann, der den Hinduismus etwas vereinfacht anhand bestimmter Merkmale substantiell definiert (12), geht Becke sowohl auf die Problematik des Be-griffs "Hinduismus" als auch auf die zugrundeliegende Frage, was denn eine Religion definiere, ein. Becke arbeitet heraus, daß ",Religion' einen gesellschaftlichen Sachverhalt" bezeichnet, der sie damit "von anderen Bereichen der Gesellschaft wie Politik oder Wirtschaft" unterscheidet (13). Auf der Grundlage der Luhmannschen Systemtheorie und dessen Ansatz der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung legt Becke dar, daß eine solche Unterscheidung von religiösen, politischen oder rechtlichen Bereichen in Indien bis zum 19. Jh. nicht gegeben war. Er kommt zu dem Schluß, daß die religiösen Traditionen der Hindus durch "die europäische Brille" sowohl von Orientalisten als auch Indern selbst zum Konstrukt ,Hinduismus' geformt wurden (28). Als sich selbst begrenzende Einheit innerhalb der indischen Gesellschaft stellt sich laut Becke die Religion des Hinduismus als ein Kind der Moderne, des 19. Jh.s, dar. Dem Befund ist zuzustimmen, zumal die Interpretation auf den grundsätzlichen Konstruktions- und Verdinglichungscharakter dessen verweist, was ge-meinhin als ,Religion' bezeichnet wird.

Zu diesem Gebilde ,Religion' gehören jedoch nicht nur philosophische Systeme und kognitive Inhalte, sondern auch normative Anweisungen, soziale Gemeinschaftsbildungen, spirituelle Erfahrungen und rituelle Praktiken. Darüber ist in beiden Einführungen leider kaum etwas zu erfahren. Die religiöse Praxis der etwa 800 Millionen Hindus und deren Verehrungsformen in vielfältigen Ritualen kommen ebensowenig zur Sprache wie et-wa die für die religiöse Überlieferung, Interpretation sowie Heilungsaufgaben neben den Brahmanen gleich wichtigen ,heiligen Männer Indiens', den sadhus. Die zwei Einführungen porträtieren gewissermaßen die ,große', intellektulle Tradition, die Religion der Elite. Die ,kleine' ritualbezogene Tradition der Millionen bleibt unbeschrieben. Wer etwas zur religiösen Lebenspraxis von Hindus, ebenso von Buddhisten, erfahren will, wird andere Einführungen konsultieren müssen, auch wenn bei diesen oft eine ähnliche Selektion anzutreffen ist. Die thematische Ausblendung der ,lebendigen religiösen Wirklichkeit' stellt sich da-mit in die Tradition des orientalistischen Erbes des 19. Jh.s und ihre selektive Darstellung des ,Anderen' erfolgt nach Gesichtspunkten, die oft nicht die der dargestellten Tradition sind.