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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

600–602

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Orth, Gottfried

Titel/Untertitel:

"Du sollst nicht bekehren deines Nächsten Kind". Interkulturelles Lernen in Schule, Kirche und Gesellschaft.

Verlag:

Frankfurt/M.: Diesterweg 1995. 158 S. 8o. DM 32,-. ISBN 3-425-07714-7.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

In seinen Thesen zum Glauben von 1535 hat Martin Luther geschrieben, so Christus unser sei, könnten wir leicht Gesetze aufstellen und neue Dekaloge machen (WA 39, I, 47). Der Titel des anzuzeigenden Buches schreibt ein neues Gebot in Dekalogform bzw. zitiert programmatisch eine Formulierung aus dem britischen "Education Act" von 1944 (10). Da der Titel "eine theologische und religionspädagogische Provokation!" (7, der erste Satz des Buches) sein soll, wäre eine Zitation des englischen Originals und des Kontextes allerdings hilfreich gewesen.

Das Buch enthält insgesamt acht Abschnitte, wovon sechs grundsätzlich dem interkulturellen Lernen gewidmet sind. Diese Passagen sind von einem biographischen Zugang und von Unterrichtsbausteinen im ersten und achten Kap. gerahmt. Im zweiten Kap. erfährt man kurz und knapp Wichtiges zur Geschichte der Migration und zum Begriff der "multikulturellen Gesellschaft". Im dritten Kap. werden deutsche Jugendliche - in etwas unkritischer Rezeption der Barz-Studie von 1992 - beschrieben. Im vierten Kap. folgt eine Kritik an "Mission" und "Absolutheitsanspruch des Christentums" (informativ ist hier die Darstellung der Kontroverse um den Vortrag von Hyun Kyung Chung in Canberra 1991, 39-46); im fünften Kap. folgt ein Plädoyer für ein theologisches Denken aus der Umkehr heraus (hier ist mir die Theologie der Religionen von Paul Knitter zu unkritisch dargestellt, 54-57); im sechsten und siebten Kap. finden sich theologische und schließlich pädagogische Hinweise zum interkulturellen Lernen.

Orths Buch ist ein engagiertes Plädoyer für eine interkulturelle Theologie (69-74) sowie für einen Religionsunterricht nach englischem Vorbild "jenseits deutscher Provinzialität" (62-67). Der evangelische Religionsunterricht in seiner gegenwärtigen bundesrepublikanischen rechtlichen Verfassung kann laut Orth "nur noch als zu verändernder Recht für sich beanspruchen" (7). Orth geht es darum, daß der konfessionelle Religionsunterricht "seine interkulturelle und interreligiöse Dimension wahrzunehmen hat." (135, dort kursiv) Was allerdings mit einem "Religionsunterricht für alle" (ebd.) konkret gemeint ist, wird nicht ganz klar. Ich vermute, daß Orth einen interreligiösen Religionsunterricht mit interreligiösen Curricula, gemischten Klassen und konfessionell (bzw. religiös) nicht festgelegten Lehrkräften befürwortet. In der gegenwärtigen Debatte ist es jedoch dringend erforderlich, genau anzugeben, welche Elemente der "Trias" des RU (Schüler, Lehrer, Lehre) als "offen" gedacht werden sollen. Eine Offenheit für Schüler anderer Bekenntnisse ist nach evangelischem Verständnis bereits gegeben; über die Offenheit der Lehre für Inhalte anderer Konfessionen und Religionen kann weiter gestritten werden (wobei Lehrer und Lehrerinnen de facto große Freiheit haben); das ganze scheitert jedoch bei der (pädagogisch!) kontraproduktiven religiösen Offenheit des Lehrers. So zitiert Orth auch zu Recht den Einwand aus England selbst, ein solch relativierendes Verständnis sei die Perspektive "eines säkularen, liberalen Bewohners der westlichen, kapitalistischen nachchristlichen Welt" (62). Diese Einsicht bleibt jedoch leider ohne Konsequenzen für eine Präzisierung von "Offenheit" im Religionsunterricht. Ein in allen drei Elementen der "Trias" offener Religionsunterricht wird seine Zuflucht zum allgemeinen moralischen Räsonnement nehmen, worauf Schüler und Schülerinnen - vorsichtig formuliert - allergisch reagieren könnten. Wenn Orth "spezifische Lernmöglichkeiten des Religionsunterrichts im Be-reich der Werte und Moralerziehung" sieht (102), dann ist eine theologisch-konfessionelle Grundlegung des RU offensichtlich bereits aufgegeben (wie denn das Unterrichtsbeispiel S. 101f. - über Ausländer in einer Pizzeria bei uns - ein guter Baustein für Sozialkunde sein mag, aber im Rahmen religiös-moralischer Werteerziehung eher zur Funktionalisierung von Religion führen dürfte).

Kurz: Das Engagement des Vf.s für das interkulturelle Lernen ist die Stärke und die Schwäche des Entwurfs zugleich. Erschreckt hat mich, wie dem Plädoyer für das Fremde und die Fremden eine generalisierende, vereinnahmende, teilweise denunziatorische Redeweise über das Nahe und Vertraute entgegensteht. Beispielhaft hierfür sind die journaillehafte Abqualifizierung der Mission als "patriarchalische Tätigkeitsformen von Kolumbus bis Delors" (36), die durchgängige Bezeichnung unserer theologischen Tradition als "subkulturell" (bei gleichzeitigem Eintreten für Kontextualisierung) oder der Vorwurf, in Religionsbüchern sei "das Schlagwort ,Ausländer raus' oder die Feststellung ,Deutschland den Deutschen'... nahezu vollständig durchgehalten." (47)

So bleibt insgesamt der Eindruck, daß zwar nicht des Nächsten Kind zu bekehren ist, dafür aber der geduldige Leser (wobei übrigens in Kap. 5 programmatisch von der "Umkehr" gesprochen wird, der biblische Zusammenhang von Umkehr und Bekehrung aber keine Erwähnung findet und so Umkehr zur anthropologischen Kategorie verflacht zu werden droht). Oder um noch einmal mit Luther auf den Titel des Buches zurückzukommen: Mit Christus können wir zwar leicht neue Dekaloge machen, aber da in uns das Fleisch noch gegen den Geist aufbegehrt, sollten wir uns - vor allem um der Schwarmgeister willen - bei der Neuformulierung von Dekalogen etwas zurückhalten (vgl. WA 39, I, 47 f.).

Ein paar Formalia: Kann der Verlag wirklich nicht die Anmerkungen unter den Text setzen? Die kleine Type macht die Lektüre schon mühsam genug. Einige Zitate - nachgewiesen mit dem verwirrenden a.a.O. - konnte ich trotz Anstrengung nicht verifizieren (Anm. 59 auf S. 65/151; Anm. 62 auf S. 66/151; Anm. 29 auf S. 136/158).