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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

748–751

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gutmann, Hans Martin

Titel/Untertitel:

Symbole zwischen Macht und Spiel. Religionspädagogische und liturgische Untersuchungen zum "Opfer".

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 378 S. 8 = Arbeiten zur Religionspädagogik, 12. Kart. DM 98,-. ISBN 3-525-61462-4.

Rezensent:

Dietrich Zilleßen

Hans-Martin Gutmann hat ein profundes praktisch-theologisches Werk vorgelegt, das seine veränderte und gekürzte Göttinger Habilitationsschrift von 1993 beinhaltet. Da er einflußreiche religionspädagogische Konzepte zum Umgang mit Symbolen einer grundlegenden theologischen Kritik unterzieht (z. B. die Symboldidaktik Peter Biehls), um "eine bessere Orientierung für die Arbeit mit Symbolen in der Religionspädagogik zu gewinnen" (9), muß seine Argumentation genauer erörtert werden.

1. Die Zirkelstruktur zwischen Subjekt und Symbol: G. wendet sich grundsätzlich gegen das Postulat, Religion "an die selbstbewußte Subjektivität des Menschen" zu binden (49). Wie der Mensch selbst so hat es auch die Religion mit Symbolen zu tun. G. erkennt bei der "Arbeit mit Symbolen" ein grundlegendes Zirkelgeschehen: Die Welt bestimmend (verstehend) ist das Subjekt immer schon (von der symbolischen Ordnung) bestimmt, von der aus (als von seinem Anderen) es sich erst "selbst finden und artikulieren" kann (9). Verstehen ist ein (unumgängliches) Bemächtigungsgeschehen, bei dem der Mensch nicht verdrängen darf, daß er der (aller Subjektivität vorgängigen, 71 f.) symbolischen Ordnung unterworfen ist. Darum betont G. immer wieder die "Macht der Symbole": Sie haben "Macht über den Menschen in einer Weise, daß diese Macht die Möglichkeiten ihres Selbstverhältnisses (benannt als ,Selbstbewußtsein', ,Affektkontrolle', ,Selbstreflexion' oder wie auch immer) übersteigt" (50). Kann die (postmoderne) Subjektivitätskritik den Zirkel des Verstehens von der Seite der Symbolmacht her aufsprengen?

Für G. gründet die Mächtigkeit des Symbols in der "Subjektivität Gottes", die das eigentliche "organisierende Zentrum" ist (58). Es ist die programmatische Grundthese G.s, daß es durch den "Perspektivwechsel vom ,Symbol' zum ,Ritual'" möglich ist, "dem Dilemma zu entgehen" (12), der zirkulären Struktur des reflexiven Verstehens, der Verwickeltheit von Symbol und Subjekt zu "entkommen". "Entkommen" ist ein wichtiges Wort in G. s Buch (35, 63, 70 u. ö.).

Das religiöse Ritual zwingt nicht unter heteronome Zwänge, sondern führt die Menschen durch die Begegnung mit dem freien Gott selbst zur Freiheit. Das Bekenntnis glaubt "Gott" diese freisetzende Macht. Die Präsenz Gottes im Kultritual bricht (nach G.) den Zirkel auf. G. setzt Gott (ohne Anführungszeichen) sozusagen vor die symbolische Ordnung: Gott verpflichtet die Menschen. Ist das ein wunderlich-wunderbarer Kantianismus, der die christologische Zumutung verhindert, daß Gott oder "Gott" (so oder so) in die Zirkelstruktur menschlicher Wahrnehmung ambivalent, un-eindeutig verwickelt ist? Woran entscheidet es sich denn, daß das Ritual Gott und nicht Götzen entspricht (nachspricht)? Die Antwort auf diese entscheidende Fragegibt G. in Zusammenhang mit der Diskussion von Opfertheorien.

2. Gabentausch statt Äquivalententausch: G. wendet sich ge-gen die subjektorientierte Tendenz gegenwärtiger Religionspädagogik, die letztlich zur Entsolidarisierung der Gesellschaft führe. Eine These, die auch Konservativen gefallen wird. Differenziert G. genug?

Freiheit und soziale Verpflichtung, G. s anthropologische Leitbegriffe, bedürfen der symbolischen Ordnung als Begründungsmacht. Opfer ist grundlegendes Exempel für das Symbolgeschehen. Im Opfer sind die gesellschaftlichen Grundprobleme von Macht und Austausch angesprochen (74): Welcher höchsten Macht bin ich verpflichtet zu geben, um das zu be-kommen, was mir alles bedeutet? Aber gerade diese Subjektorientierung, nämlich "Verinnerlichung und Personalisierung" der Opferbeziehung (80), führt zur Entsolidarisierung und Entpflichtung der Gesellschaft: Subjektzentrierung entspricht we-der der Bedeutung göttlicher Macht noch kann sie weltliche (Normen-)Macht an die Stelle Gottes treten lassen.

G. hält die berechnende Tendenz des Subjekts für unsolidarisch. Deshalb muß Opfer als symbolischer Gabentausch (mit Hubert/Mauss) vom Äquivalententausch (158, Gleiches für Gleiches) unterschieden werden. Der äquivalente Warentausch, ökonomisch-kapitalistisches Prinzip, führt zur Akkummulation von Gütern und schließlich zur Verdinglichung aller Beziehungen (worauf schon die Kritische Theorie hinwies). Hingegen führt der symbolische Gabentausch, an der "Macht des ur-sprünglichen Symbols" (80) orientiert, zur solidarischen Ge-meinschaft. Grundlage der Solidarität ist jedoch nicht einfach die "Einstellung" des Opfernden (101), seine innere normative Verpflichtung, sondern sein rituell-liturgischer Bezug auf Gott. Im Ritual wird das Fest der bedingungslosen Annahme gefeiert, nicht eine normative Pflicht erfüllt. G. sieht diese Bedingungslosigkeit (Unbedingtheit) wohl als die entscheidende Voraussetzung der Unterscheidung von Gott und Götzen an.

Aber seine These, daß "die Institution des kultischen Opfers in der Moderne offenbar seine Bedeutung verloren" hat (74), ist doch kaum haltbar, weil die religiös-profanen Opferkulte (in der Popkultur, der Freizeitkultur, der Ökonomie usw.) unübersehbar sind. Es bleibt die Frage, wie die Geister zu scheiden sind.

Was nützt es, die Religion in Barthscher Manier vom wahren Glauben zu unterscheiden, den falschen Kult vom wahren, das kultische Opfer vom profanen Gabentausch; wenn der Mensch (wie gesagt) über die symbolische Ordnung nicht verfügen kann? In der Moderne sind die Fragen von Macht und Austausch immer schon rituell gelöst: "selbstkontrollierte und zivilisierte Individuen", die Affektkontrolle verinnerlicht haben (7f.), mögen Leitziel bestimmter (religions)pädagogischer Konzepte sein. Aber diese Sublimation der Gewalt ist noch nie Zeichen sozialen Lebens, schon gar nicht der Jugendkultur gewesen. Darum kann nicht undifferenziert die Ritualisierung eine Lösung des Gewaltproblems darstellen. Im Gegenteil! Also muß die Unterscheidung von Gott und Götzen das Problem sein.

Und diese Unterscheidung wird nicht durch ein bestimmtes Ritual ermöglicht. Sie liegt ihm schon voraus, weshalb es kein Entkommen aus dem von G. immer wieder angeführten Zirkel gibt. Jede Theologie, jedes Ritual ist menschlicher Entwurf, dem unüberwindbar Imaginäres anhaftet. Das gilt doch für alle "letztgültigen" Rituale: Das Bekenntnis zum höchsten Geber, der der "allemal mehr Liebende ist" (159), durchzieht als Grundstruktur alles gesellschaftliche Leben, artikuliert dessen religiöse Dimension. So hat auch das Bekenntnis zum höchsten, zum allmächtigen Gott, das alle menschlichen Allmachtsphantasien zurückweist, in keinem Ritual einen sicheren oder selbstgewissen Anhaltspunkt. Mit der Präsenz Gottes läßt sich nicht rechnen. Das Ritual bleibt in den Zirkel des Verstehens verwickelt, der
Struktur der Sprache (ihren Totalisierungen und unbewußten Bezügen) verhaftet, so sehr es auch die "doxologische Unterscheidung von Gott und Mensch" (11) voraussetzen mag.

Deshalb ist es fragwürdig, wie G. für eine neue Ritualisierung und Sakralisierung des Religionsunterrichts (als "Gottesdienst-Raum", 358, orientiert am "kirchlichen Sonntagsgottesdienst", 314 f.) zu plädieren. Gewiß, auch der RU kann sinnvolle Lebensrituale und Lebensliturgien einüben. Aber seine wohl wichtigste Aufgabe ist es, diese ambivalent profanreligiösen Rituale und Liturgien handelnd-bedenkend auf ihre Imaginationen, Bedürfnisse und Sehnsüchte zu überprüfen, die Geister zu scheiden, dem Geist "Gestalt" (334) zu geben und diese Gestalt zugunsten einer neuen ggf. wieder aufzulösen. Eine ungebrochene Ritualisierung des Religionsunterrichts würde RU wieder zur evangelikalen Unter-Weisung machen.

G. hält "Opfer und Glauben" für "sich ausschließende Existenzmöglichkeiten" (181 f.). Voraussetzung ist jedoch, daß Opfer als "Opfern-Müssen" (11) verstanden wird. Die "verweigerte Gegengabe" ist nur im Rahmen schwarzer Pädagogik von schicksalhafter Konsequenz, wo auch das Opfer Zwangsopfer, Pflichtopfer ist. Das Leben verteilt seine Gaben ohne Rücksicht auf unsere freien oder unfreien Opfer. Insofern ist Opfer nicht mehr Lebensbedingung, sondern Lebensvollzug. Gleichwohl ermöglicht das Opfer auch die "Preisgabe des einzelnen ans Kollektiv", worauf G. mit Horkheimer/Adorno selbst hinweist (159, Anm. 199).

G. sieht deshalb in der Feier des einmaligen und suffizienten Totalopfers Christi (179, in Orientierung am Hebräerbrief) den "Freispruch vom Opfern-Müssen" (11) und die Lösung des Gewaltproblems angezeigt. Aber die Freiheit zum symbolischen Gabentausch ("Opfer") ist Voraussetzung sozialen Le-bens, d. h. nicht die Eliminierung, sondern die Enttotalisierung des Opferns. Diese (christologische) Perspektive sieht Einheit und Selbständigkeit, Identität und Differenz nicht mehr als Ge-gensätze. Die Gewalt des kollektiven Drucks ist vor allem Ge-walt gegen Fremde, gegen alles Fremde. Es geht darum, dem Fremden in Gott selbst zu begegnen.

3. Machtspiele mit Symbolen und Ritualen: Verbindlichkeit, Verpflichtung und soziale Integration lassen sich (mit G.) nicht aus kognitiven moralischen Inhalten gewinnen. Das Schwinden traditionaler Verpflichtungen kann nicht durch Reflexion kompensiert werden. Aber keine die Menschen verpflichtende Ritualisierung, welche die Integration des Eigenen und die Abwehr des Fremden verbinden muß, darf um des humanen Lebens willen absolut gesetzt werden. Abgrenzung ist notwendig und muß wieder aufhebbar sein: Konstruktion, Dekonstruktion. Im Denken muß dem Fremden Asyl gegeben werden (E. Levinas).

Also nicht: Symbole zwischen Macht und Spiel. Ohne Machtspiele geht nichts; aber sie müssen sich abpfeifen lassen, sonst wollen sie Allmachtspiele sein. Jedes Bekenntnis ist Machtspiel. Und es geht (anders als G. meint, 77f.) um den Prozeß von Entzauberung und Wiederverzauberung der Welt, um das Gewaltpotential moderner Gesellschaften abzubauen (vgl. dazu auch Miller/Soeffner [Hrsg.], Modernität und Barbarei, stw 1243).

G. s Buch war überfällig: Es thematisiert endlich in differenzierter Weise eine religionspädagogische, symboldidaktische wie theologische Grundproblematik, die lange allzu vordergründig "gelöst" wurde. Und es bedarf einer neuen religionspädagogischen Barthlektüre, die dann aber (anders als G.) auch Barth gegen Barth ins Spiel bringt. Es ist G. zu danken, daß er die entscheidenden Fragen kenntnisreich vertieft. Seine Lösung allerdings kann nicht befriedigen. Sie führt in zahlreiche weitere Probleme, auf die an anderem Ort einzugehen ist. Gleichwohl denke ich, G. s Buch sollte religionspädagogische Pflichtlektüre sein.