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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

746–748

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Becker, Ulrich, u. Christoph Th. Scheilke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aneignung und Vermittlung. Beiträge zu Theorie und Praxis einer religionspädagogischen Hermeneutik. Für Klaus Goßmann zum 65. Geburtstag.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995. 426 S. 8 = Veröffentlichungen des Comenius-Instituts, Münster. ISBN 3-579-01775-6.

Rezensent:

Friedrich Johannsen

Die veränderten Voraussetzungen religiösen Lernens durch grundlegenden sozialen Wandel werden oft nur unter der Perspektive des Verlustes traditioneller Religiosität oder zunehmenden Defizits an überkommenen Wertvorstellungen oder Orientierungsmustern wahrgenommen. Dabei kommt die mit dem Prozeß der Modernisierung einhergehende Individualisierung auch im Bereich von religiösen Selbst- und Weltdeutungen kaum in den Blick. Dieser Prozeß ist verbunden mit einer Ab-kehr vom mehr passiven Rezipieren überlieferter Deutungen hin zum subjektiven aktiven Rekonstruieren im Kontext pluraler Angebote. Da die überkommene didaktische Denkbewegung von den Inhalten zu einer altersspezifischen Verarbeitung durch die Lernenden vor dem Hintergrund dieses grundsätzlich veränderten Rezeptionsprozesses problematisch geworden ist, haben Klaus Goßmann und Norbert Mette 1993 einen Perspektivenwechsel vorgeschlagen, neben die bisher leitende Hermeneutik der Vermittlung komplementär (aber im Modus des Widerspruchs!) die Aufgabe einer Hermeneutik der Aneignung zu setzen. Dabei geht es nicht darum, den Stellenwert theologischer Lehrinhalte in Frage zu stellen, sondern den Bedingungen der Möglichkeit religiösen Lernens in unserer Zeit dadurch zu entsprechen, daß die von lebenspraktischen Fragen und Alltagsreligion u. a. bestimmte Selbstthematisierung, die jedem Vermittlungsinteresse vorgegeben ist, in den Blick kommt.

Aus Anlaß des 65. Geburtstags von Klaus Goßmann haben sich 35 Autoren aus unterschiedlichen religionspädagogischen Arbeitsfeldern anregen lassen, vor dem Hintergrund des vorgeschlagenen Paradigmenwechsels religionspädagogischer Hermeneutik über damit verbundene Aspekte und Herausforderungen in Theorie und Praxis religiöser Erziehung nachzudenken.

Die Fokussierung der Themenstellung steuerte der Festschriften anhaftenden Tendenz der Beliebigkeit der Beiträge deutlich entgegen. So entstand ein Werk, daß in seiner "konzentrierten Vielfalt" (13) in Zustimmung und Widerspruch, Weiterentwicklung und Modifizierung des mit den Stichworten "An-eignung und Vermittlung" vorgegebenen Rahmens eine wichtige Zwischenbilanz zieht und die Orientierungsrichtung weiteren religionspädagogischen Nachdenkens erschließt.

Peter Biehl geht in seinem Beitrag ("Vermittlung als theologisches und didaktisches Problem") der Frage nach, in welchem Sinn die Kategorie Vermittlung aus theologischer und religionspädagogischer Perspektive sachgemäß in Anspruch genommen werden kann. Unter Rückgriff auf pneumatologische Überlegungen im Anschluß an Dantine und Welker und eine kritisch-konstruktive Gestalt der bildungstheoretischen Didaktik entfaltet er in seiner Ausführung die These, "daß sich Vermittlung durch Verfremdung des Ichs und Unterbrechung des gewohnten Lebenszusammenhangs vollzieht" (18).

Friedrich Schweitzer ("Religiöses Lernen als kreative Re-konstruktion") zeigt Traditionslinien der Forderung nach einer "Hermeneutik der Aneignung" auf und erinnert mit einem Rückgriff auf John Dewey und George Albert Coe an "Übergangene Anstöße aus der amerikanischen Reformpädagogik", von denen Impulse zu einem komplexeren Verständnis von An-eignung und Vermittlung ausgehen.

Ralf Koerrenz ("Religionspädagogik zwischen Aneignung und Vermittlung? Anmerkungen zu einer unzulänglichen Alternative") verweist auf die in der Geschichte der (Religions-) Pädagogik bereits vorausgehende Auseinandersetzung um den Perspektivenwechsel und betont, daß "Aneignung" und "Vermittlung" vor allem personale Relationsbegriffe des pädagogischen Handelns sind, die der Erweiterung der Perspektive auf die strukturellen Bedingungen des Lernens und auch die Einbeziehung der Institution Schule in die religionspädagogische Theoriebildung fordern. Diesen Aspekt greift Christoph Th. Scheilke auf, indem er "Soziale Bedingungen der Aneignung am Beispiel der Profilierung Evangelischer Schulen" bedenkt.

Hans Bernhard Kaufmann ("Aneignung und Vermittlung. Ein mehrdimensionaler Zugang") zeigt Wege einer konstruktiven Verknüpfung von Aneignung und Vermittlung durch eine kritische Ergänzung anthropologischer, pädagogischer und hermeneutisch-theologischer Ansätze.

Norbert Mette weist in seinem Beitrag ("Individualisierung und Enttraditionalisierung als [religions-]pädagogische Herausforderung") auf der Grundlage der veränderten Rahmenbedingungen auf die Aufgabe hin, das Subjekt im Spannungsfeld von individueller Freiheit und struktureller Abhängigkeit konsequent in den Mittelpunkt des Nachdenkens über religiöse Bildungsprozesse zu rücken und auf dem Hintergrund des spezifischen solidarischen Freiheitsverständnisses des Glaubens einen kritischen Beitrag zur religiösen Selbstbestimmung zu leisten.

Karl Ernst Nipkow knüpft an vorgängige Überlegungen an, den pluralen Erscheinungsformen des Religiösen in der modernen Gesellschaft durch "Hermeneutisch-didaktische Pluralität" zu entsprechen und stellt "Zwischenüberlegungen zu einem künftigen Programm" an, in denen er die hermeneutisch-didaktischen Varianten der Verstehenslage junger Menschen differenzierter aufschlüsselt. Nur wenn Schülerinnen und Schüler im Unterricht ungehindert zu Wort kommen, kommen sie auch als Kommunikationspartner mit ihrer jeweils individuellen Weltdeutung und eigenen Verstehensvoraussetzung ins Spiel.

Konrad Fikenscher verweist - auch anhand von Beispielen - auf die eigene Dignität einer elementaren Theologie bei Kindern, auf die sich die religionspädagogische Kommunikation einlassen muß. Annebelle Pithan entfaltet die Bedeutung der Kategorie "Differenz" im Vermittlungs- und Aneignungsprozeß und bringt wichtige (vernachlässigte) Aspekte der Frauenforschung in die religionspädagogische Theoriebildung ein. Unter der Fragestellung "Wie entwickelt das Subjekt Bedeutungen, Perspektiven, Handlungen?" eröffnet Volker Elsenbast unter Rekurs auf Arbeiten zur Entwicklung von sozialen Kognitionen ein Verständnis von Aneignung, das die subjektivistisch-konstruktivistische Engführung überschreitet. Jochen Pabst ("An-eignung konkret: Glaubensgespräche mit Jugendlichen") wertet Aneignungsprozesse aus, die im Rahmen von Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern transparent wurden. Dabei wird der Trend zur Subjektivierung ebenso erkennbar wie die Offenheit der religiösen Identität.

Albrecht Schöll ("Hermeneutik der Aneignung") geht u. a. mit Rückgriff auf die sozialwissenschaftliche Lebensweltforschung der Frage nach, wie sich die wandelnden Modi der Aneignung von Sinn im didaktischen Interesse rekonstruieren lassen.

Peter Schreiner stellt kritische Anfragen an eine "Hermeneutik der Aneignung" aus der Perspektive des interreligiösen Lernens. Gerhard Martin problematisiert die Zielvorstellung "Religiöse Autonomie" und schlägt die Alternative "Entwicklung religiöser Kommunikationsfähigkeit" vor. Über die nähere Verhältnisbestimmung von Aneignung und Vermittlung denkt Hans-Hermann Wilke ("Lernen im Widerspruch") nach und postuliert, die Kategorie des Widerspruchs in die bildungstheoretische Diskussion der Religionspädagogik aufzunehmen.

Dietlind Fischer kritisiert das im Verhältnis zur Entwicklung in der allgemeinen Didaktik zumeist verkürzte Didaktikverständnis von Religionspädagogen, weist auf die Interdependenz von Aneignung und Vermittlung hin und plädiert für eine Erweiterung der didaktischen Kompetenz von Unterrichtenden im Sinne einer Hermeneutik der Aneignung im Rahmen von Lehrerfortbildung. Dirk Röller knüpft an die Angst des Lehrers vor Traditionsverlust an und zeigt anhand von Beispielen die Chancen einer produktiven Erschließung im lebensweltlichen Kontext auf.

Die Aspekte "Sprache, Symbol und Bild" in der religiösen Erziehung greift Alan S. Brown auf, die Herausforderungen des interkulturellen Lernens für die Schulen thematisiert Manfred Kwiran. Die Bedeutung produktiver Imaginationen und hohen Symbolverständnisses im Blick auf die Entwicklung des Welt-ethos arbeitet Reijo E. Heinonen heraus. Auf die Bedeutung der Kategorie "Begegnung" verweist Götz Doyé. Sverre Dag Mogstad und Gottfried Adam thematisieren mit je unterschiedlichem Akzent die Bedeutung des Erzählens als konstitutive Begegnung zwischen Glaubensüberlieferung und Lebensgeschichte.

Auf die das Lernen provozierende Kraft von Befremdung weist Roland Degen unter gemeindepädagogischem Aspekt hin. Die Entwicklung des Begleitkonzeptes in der "Christenlehre" analysiert Dieter Reiher. Wie das Umfeld biblischer Traditionen und religiöse Traditionsbildung durch selbstentdeckendes Lernen in der Begegnung mit dem Fremden angeeignet und als Bereicherung "erfahren" werden kann, beschreibt Karl Foitzik anhand von Wahrnehmungen bei Reisen ins biblische Umfeld.

Die Notwendigkeit einer Begleitung von Erzieherinnen zu hermeneutischer Kompetenz begründet Harald Bewersdorff. Ulrich Becker bedenkt die Konsequenzen, die sich aus dem Individualisierungstrend und kritisch-konstruktiven Umgang von Studierenden mit der Lebenswelt für das religionspädagogische Studium ergeben.

Eine Reihe weiterer Beiträge zu religionspädagogisch relevanten Themen und eine Bibliographie von Klaus Goßmann (1963-1994) schließen den Band ab.