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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

599 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Titel/Untertitel:

Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Auftrag des Rates der Evang. Kirche in Deutschland hrsg. vom Kirchenamt der EKD.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1994. 93 S. 8o. Kart. DM 5,80. ISBN 3-579-02361-6.

Rezensent:

Helmut Hanisch

In den letzten Jahren ist um das Selbstverständnis des Religionsunterrichts in den alten Bundesländern eine heftige Debatte entstanden, die sich in erster Linie auf die Frage konzentriert, ob es sich angesichts tiefgreifender Wertumbrüche in der Gesellschaft überhaupt noch vertreten lasse, den Religionsunterricht als ordentliches Schulfach nach Art 7,3 des GG konfessionell auszurichten. Verschärft wurde diese Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Bildungssystems in den neuen Bundesländern. Die konzeptionelle Debatte konzentriert sich auf mögliche Alternativen zum Religionsunterricht unter Umgehung der grundsätzlichen Voraussetzungen, nachdem es vielen unsinnig erschien, ein Fach an den öffentlichen Schulen im Osten Deutschlands anzubieten, das von Anfang an bestenfalls für eine Minorität der Schülerpopulation in Frage kam.

Angesichts einer kontroversen Diskussion, die nicht immer sachlich, sondern oftmals sehr emotional geführt wurde, war es dringend geboten, den Standort des Religionsunterrichts in der gegenwärtigen Gesellschaft zu bestimmen und überzeugend darzustellen, daß dieses Fach sowohl für die kirchliche wie für die staatliche Bildungsarbeit unverzichtbar zu sein scheint. Das leistet nun in hervorragender Weise die Denkschrift: "Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität" als roter Faden durchzieht diese Publikation das polare Spannungsverhältnis von Staat und Kirche, auf deren Schnittstelle der Religionsunterricht aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben anzusiedeln ist.

Ausgangspunkt der Standortbestimmung ist die Schule, deren besonderer Auftrag neben der Vermittlung von Sachwissen in drei Aspekten besteht: Hilfe zur Orientierung in einer stets komplexer werdenden Welt, Hilfe bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben und Hilfe bei der Entwicklung einer eigenen Identität. Der Religionsunterricht hat zwar seine spezielle Aufgabe darin, dem jungen Menschen persönliche religiöse Orientierung zu geben. Er nimmt aber zugleich in entscheidender Weise an der Entwicklung einer Schule teil, die sich den oben genannten allgemeinbildnerischen Zielen der Schule verpflichtet weiß. Mit dieser Positionsbestimmung wird deutlich, daß der konfessionell verantwortete Religionsunterricht keine erzieherische Sonderveranstaltung der Kirchen in der Schule ist, sondern Ausdruck einer gemeinsamen Verantwortung von Staat und Kirche im Interesse der nachwachsenden Generation.

Kennzeichnend für den Religionsunterricht ist die Verschränkung zweier Lernorte. Der Religionsunterricht in der Schule kann sich nicht verselbständigen. Er bedarf der Rückbindung "an Orte gelebter Religion, praktizierten Glaubens und sichtbar gewordener christlicher Überlieferung" (48), damit das, was in diesem Fach vermittelt wird, Kindern und Jugendlichen anschaulich wird und Sinn erhält. Umgekehrt braucht die kirchliche Arbeit mit jungen Menschen den Lernort Schule, denn hier "setzen sie sich mit zentralen Fragen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens einschließlich religiöser Inhalte auseinander." (48)

Wesentlich ist es für den Religionsunterricht in der gegenwärtigen Gesellschaft, daß er den Schüler und die Schülerin in der ihnen eigentümlichen Lebenswelt ernstnimmt. Daraus ergibt sich ein spezifisches Lehr- und Lernverständnis, das sich einerseits an dem jungen Menschen orientiert, andererseits an der Tradition, die es dem Lernenden zu erschließen gilt. Weiterhin macht es die geistige Situation, in die der junge Mensch hineingestellt ist, erforderlich, ihn in hohem Maße für den interkulturellen sowie interreligiösen Dialog zu qualifizieren. Das setzt voraus, daß im Religionsunterricht eine Gesprächskultur entsteht, die den einzelnen zu einem offenen Austausch befähigt. Dieser Dialog mit anderen Kulturen und Religionen wird aber nur gelingen, wenn beim Schüler und bei der Schülerin fachliche Kompetenz und ein eigener religiöser Standpunkt vorausgesetzt werden können. Fachbezogenes und identifikatorisches Lernen sind daher zwei Wesensmerkmale des Religionsunterrichts.

Eine Standortbestimmung des Religionsunterrichts wäre unvollständig, wenn nicht neben dem ökumenischen Lernen die Möglichkeiten überkonfessioneller Zusammenarbeit an der Schule zum Thema gemacht würde. Die Denkschrift unterbreitet dazu einige illusionslose Vorschläge, welche Formen konfessionell-kooperativer Zusammenarbeit denkbar und wünschenswert sind. Dabei orientiert sie sich an bereits bestehenden Kooperationsformen.

Abschließend befassen sich die Autoren der Denkschrift mit der Frage der gelegentlich geäußerten Forderung, den Religionsunterricht gänzlich abzuschaffen und durch Ethik oder Lebenskunde zu ersetzen. Sie sehen darin eine unverantwortliche Reduktion der Bildungsaufgabe der Schule: "Sie beraubt die Heranwachsenden der Möglichkeit, kraft des Grundrechts auf Religionsfreiheit den christlichen Glauben in seiner möglichen Bedeutung für ihr eigenes Leben im Spiegel der geschichtlich gewordenen Formen des Christentums intensiv kennenzulernen." (81)

Die Denkschrift ist für alle, die sich für den Religionsunterricht interessieren, eine äußerst hilfreiche Quelle, um einen eigenen Standpunkt zu gewinnen und argumentationsfähig zu werden. Besonders erfreulich ist, daß wohlüberlegt die Probleme aufgenommen und erörtert werden, die sich im Zusammenhang mit der Einführung dieses Faches in den neuen Bundesländern ergeben haben. Ihre leichte Lesbarkeit und die klare Gliederung erlauben den Einsatz dieser Schrift im Bereich der Erwachsenenbildung.