Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1098 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Lukian von Samosata

Titel/Untertitel:

Alexandros oder der Lügenprophet. Eingel., hrsg., übers. u. erkl. von U. Victor.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1997. VIII, 180 S., 4 S. Abb. gr.8 = Religions in the Graeco-Roman World, 132. Lw. hfl 110.-. ISBN 90-04-10792-4.

Rezensent:

Christoph Markschies

Der Sprachlektor der theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität, Ulrich Victor, hat das Pamphlet des antiken Sophisten, Historikers und Satirikers Lukianos ( nach 180 n. Chr.) gegen Alexandros von Abonuteichos erneut ediert, übersetzt und kommentiert, um damit zu zeigen, daß es sich um eine zu wenig bekannte Schrift, ja um einen der wichtigsten Texte zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit handelt (VII).

Alexander gründete in der paphlagonischen Hafenstadt das Orakel des "neuen Asklepios", der schlangengestaltigen Gottheit Glykon, ,eines Lichtes für die Menschen’ (Alex. § 18, p. 96,6 Viktor). V. will nun zeigen, daß die Schrift Lukians, unsere Hauptquelle für Alexander, "keine Satire, ... sondern ... einen Tatsachenbericht" (21) darstellt. Einen entsprechend langen Abschnitt seiner Einleitung widmet V. daher auch ,Lukians historischer Zuverlässigkeit’ (8-26); dort bietet er große Gelehrsamkeit auf, um vor allem anhand von Inschriften nachzuweisen, daß sich all das, was man in der Schrift gern als Argument gegen Lukians Glaubwürdigkeit heranzieht, tatsächlich so zugetragen haben kann. Weil V. die Schrift Lukians als "Tatsachenbericht" nimmt, verwendet er sie (und verschiedene weitere inschriftliche und archäologische Evidenzen) für eine Rekonstruktion der Geschichte dieses Kultes im zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Der große Erfolg des Orakels hing nach V. daran, daß es - im Unterschied zu anderen Orakelheiligtümern wie Delphi, Dodona, Didyma und Klaros, die der Vf. zum Vergleich heranzieht - auch "nicht standardisierte", freie Fragen beantwortete (32); dieser Bruch mit der Konvention ist für den Vf. auch die Erklärung für das deutliche Mißtrauen Lukians gegen diese Einrichtung. Lukian "entlarvt" Alexander als Betrüger, in dem "Lüge, Trug, Meineid und Skrupellosigkeit vereint sind" (§ 4, p. 82, 24 f.); auch die Paphlagonier sind ihm "ungebildete, schwerfällige Menschen" (§ 17, p. 94, 19 f.). Das in Gestalt des verkleideten Alexander belebte Götterbild, das doch wohl in Abonuteichos kaum jemand für den Gott selbst gehalten haben dürfte, denunziert Lukian mit besonderer Freude als abgefeimtes Betrugsmanöver (§§ 15-18, 26), auf das "Naive und Hohlköpfe" (§ 20) hereinfallen, der Autor selbst natürlich nicht. Ob eine solche "Aufklärungsschrift" mit dem extrem mißverständlichen Stichwort "Tatsachenbericht" wirklich exakt beschrieben ist, müßte noch einmal überlegt werden. Immer wieder gibt V. nämlich zu, daß man es mit Lukians "satirischem Temperament" zu tun hat, dem er in seinem Bios "kaum Zügel anlegt" (136). Lukian jedenfalls steht schon dem Phänomen "Orakel" nicht eben gerade freundlich und auch nicht als vermeintlich "neutraler" Historiker gegenüber (§ 8).

In seiner reichen Einleitung (1-57. 132-172) und gelehrten Kommentierung verwendet V. viel Mühe darauf, die Kultgeschichte von Abonuteichos zu rekonstruieren. Dazu gehörte neben dem Orakel ein Mysterienkult, wie Lukian bezeugt (§§ 38/ 39); als Inhalt dieser Mysterien, der vor Nichteingeweihten, Christen und Epikureern (§ 38, p. 110,30/111,1) nicht ausgesprochen werden durfte, rekonstruiert V. den Satz "Es gibt verschiedene Götter, aber sie sind alle nur verschiedene Gestalten des EINEN" (46) und bezieht diese Sentenz auf die auch anderswo belegte kaiserzeitliche "Neigung zum Monotheismus"(44 n.180).

Den eindeutig wichtigsten Teil des Buches enthält seine Mitte: Dort befindet sich eine neue kritische Ausgabe des Lukiantextes mit einer gut lesbaren deutschen Übersetzung (80-131); dabei folgt V. einer neuen Tendenz zu sehr knappen praefationes, z. B. bei der Handschriftenbeschreibung (57-74). Er beansprucht, die Ausgabe von M. D. Macleod (SCBO, Oxford 1974, 331-359) abzulösen, die auf Kritik gestoßen war; schon allein wegen des wesentlich ausführlicheren Apparates dürfte ihm das gelungen sein. Zu jeder Seite der Oxforder Ausgabe gibt es etwa drei Textänderungen; es finden sich nur vergleichsweise wenige regelrechte Konjekturen, die z. T. auf eine ausführliche Rezension von H.-G. Nesselrath (Gnomon 56, 1984, 577-610) zurückgehen, z.T. aber auch auf Ausgaben des 19. Jhs. und dann gelegentlich etwas arbiträr wirken (z. B. das loimus in § 24 [p. 100,15]).

Bei der Fülle des verhandelten Materials ist es nicht sehr verwunderlich, daß sich die Arbeit nicht immer auf dem letzten Stand der (zugegeben: recht komplexen) Diskussion befindet. In diesem Rahmen müssen ganz wenige Beispiele genügen: Hildebrecht Hommels Rekonstruktion und Übersetzung des berühmten "Versorakels von Didyma" (Inschriften, Nr. 17) aus dem Jahre 1964 (Bibliographie bei Victor, 50 Anm. 201) ist von Werner Peek scharf kritisiert worden. Hommel hat beim erneuten Abdruck des Beitrages in seinen gesammelten Studien (Sebasmata. Studien zur antiken Religionsgeschichte und zum frühen Christentum I, WUNT 31, Tübingen 1983, 210-227) etliche Vorschläge von Peek übernommen.

Gelegentlich zitiert der Vf. etwas unsorgfältig: So teilt er von Karl Bureschs Büchlein "Klaros" nur den Untertitel und den noch nicht einmal vollständig mit; das Werk ist zudem 1973 nachgedruckt worden (Scientia, Aalen); er schwankt zwischen "Günther" (27) und "Guenther" (Literaturverzeichnis, 176). Die reiche Literatur zum Orakel in Klaros, das manche Verwandtschaft mit Abonuteichos aufweist, ist allenfalls in Ansätzen präsent. Die vorzügliche Monographie von Robin Lane Fox (Pagans and Christians in the Mediterranean World from the Second Century AD to the Conversion of Constantine, London 1986) ist ebenfalls äußerst unvollständig bibliographiert. Dabei vertritt deren Autor bei der Deutung sowohl des Lukiantextes als auch des Kultes von Abonuteichos gerade diejenige Position, die der V.s entgegengesetzt ist (pp. 241-262): Lane Fox verbindet den Aufstieg des Kultes in Abonuteichos mit dem anderer Orakelheiligtümer (z. B. Klaros: p. 243); er liest den Text Lukians weniger als historischen Bericht denn als Satire (243), hält den Blick Lukians auf Alexander für einem wesentlich kritischeren und hält Abonuteichos für eine geschickte Kombination der religiösen "Serviceleistungen", die das Apollonorakel von Klaros und das Asklepieion von Pergamon anboten (246).

Garth Fowden hat in einer ausführlichen Rezension des Buches von Lane Fox (JRS 88, 1988, 173-182, hier 178) vor dem Versuch gewarnt, eine kohärente "Theologie" eines Orakelheiligtums aufzustellen. Es stellt sich die Frage, ob man nicht auch beim Versuch, eine kohärente Geschichte eines Orakels aus einer Schrift Lukians zu erstellen, noch zurückhaltender als V. sein sollte.

Ungeachtet solcher Einwände gilt: Eine für die Religionsgeschichte der Antike und für die Erforschung des antiken Christentums zentrale Schrift liegt nun endlich in einer sorgfältigen Edition mit zuverlässiger deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar vor. Der Editor hat zudem eine anregende These zur Materie der Schrift vorgelegt. Mehr kann man eigentlich nicht verlangen.