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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

320–323

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Patt, Walter

Titel/Untertitel:

Formen des Anti-Platonismus bei Kant, Nietzsche und Heidegger.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 1997. 327 S. gr.8 = Philosophische Abhandlungen, 71. Lw. DM 128,-. ISBN 3-465-02951-8.

Rezensent:

Helmuth Vetter

Platon, dessen Nachfolger - nach einem zum Überdruß zitierten Wort Whitehead’s - nur Fußnoten zu diesem sein sollen, hat in der Tat Zustimmung und Kritik der verschiedenartigsten Philosophen auf sich gezogen. Drei von seinen bedeutendsten Kritikern wählt der Autor des vorliegenden Werkes zum Gegenstand seiner Untersuchung: Daß sich darunter Nietzsche und Heidegger befinden, liegt nahe, daß aber auch Kant als Anti-Platoniker auftritt, mag auf den ersten Blick verwundern. Denn einzelne Bemerkungen Kants gegen Platon würden noch keinen Anti-Platonismus ergeben, geht doch dieser an die Wurzeln der jeweiligen Position. Nun ist es aber gerade eine leitende Absicht des Autors, zu zeigen, "wie wichtig der Gegensatz zu Platon bei der Herausbildung der philosophischen Grundstellung eines jeden der Drei war" (4), also ist auch Kants Position gegenüber Platon mehr als nur Kritik an Details.

Kants Anti-Platonismus ist von zwei Merkmalen geprägt: zum einen von der grundlegenden Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand, zum anderen durch eine Aufwertung der Sinnlichkeit. Folge: Der Status der Ideen verliert seine Exklusivität; so ist auch Kants Apologie der Sinnlichkeit gegen das "Zuchthaus" Erde im Höhlengleichnis zu verstehen (vgl. 14). Die Aufwertung der Sinnlichkeit und der Angriff auf den traditionellen Status der Metaphysik gehören zusammen.

Wie P. zeigt, ist ein großer Teil von Kants erster Vernunftkritik eine Auseinandersetzung mit Platon bzw. der von diesem geprägten Metaphysik - so mit Bezug auf die Transzendentale Ästhetik, das Amphibolie-Kapitel und das Paralogismen-Kapitel. Bei letzterem etwa wird die anti-platonische Tendenz als Kritik an der Gleichsetzung von Seele und Idee im Phaidon und gegen die Fortexistenz der Seele manifest; weil Kant an der konstitutiven Rolle der Sinnlichkeit für die Erkenntnis festhält, wird Platons Konzept der vorgeburtlichen, sinnlichkeitsfreien Schau der Ideen abgewiesen. Auch Platons "Beweis" für das Fortleben der Seele nach dem Tod beruht auf der Verwechslung von Seele und Idee. Kant kritisiert Platon also explizit und mehr noch unausgesprochen darin, daß dieser meint, die Vernunft könne ohne sinnliche Anschauung zu Erkenntnissen gelangen (eine Überschätzung der Vernunft) und die Sinnlichkeit leiste nur Ungenügendes für die Erkenntnis (eine Unterschätzung der Sinnlichkeit).

Über diese Zurückweisung Platons in der Theoretischen Philosophie hinaus weist P. auch die platonkritischen Momente in Kants Praktischer Philosophie nach. Mit der Idee des Guten habe Platon einen äußeren, materialen Bestimmungsgrund des Willens vorausgesetzt, für Kant eine "Glückseligkeitslehre", keine "Sittenlehre" (59). Gut und Böse gehen dem Willen nicht voraus (gegen Platons Idea tou agathou), sondern bestimmen sich aus diesem. Diese Vermengung von Sittlichkeit und Glückseligkeit zeigt sich vor allem im Gorgias; dem kategorischen steht der bloß hypothetische Imperativ gegenüber: "Handle gerecht, damit du glückselig wirst!" (67)

P. unterscheidet zwischen einem frühen und einem reifen Anti-Platonismus Nietzsches - entsprechend die beiden Hauptteile des folgenden Abschnittes. Der frühe Anti-Platonismus zeigt sich in der "Geburt der Tragödie" und in der von Nietzsche selbst nicht veröffentlichten Abhandlung "Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne". Tritt in der erstgenannten Schrift Sokrates bzw. der Sokratismus - und im Hintergrund der Vernunftoptimismus Platons - in Erscheinung, so unterläuft die Abhandlung "Ueber Wahrheit und Lüge" den Anspruch auf Wahrheit mit den Mitteln einer skeptischen Sprachphilosophie (bzw. der Rhetorik, wie hinzugefügt werden darf).

Ab "Menschliches, Allzumenschliches" ist nach P. von einem reifen Anti-Platonismus bei Nietzsche zu reden. Auch hier sind zwei Stoßrichtungen erkennbar. Zunächst wird Kants Würdigung der Sinnlichkeit gegen deren Herabsetzung bei Platon ins Spiel gebracht, wobei Nietzsche hier noch einen Schritt weitergeht, wenn er den Leib als "Leitfaden" einsetzt - der Zugang zu diesem wird durch die Physiologie eröffnet, dabei zuweilen Platons Leib-Seele-Dualismus in seiner Rangordnung umgekehrt. Nietzsche bleibt mit dieser Kritik aber unterhalb des Niveaus, auf dem Platon seinen Vernunftbegriff entfaltet, die Auseinandersetzung auf dem Boden des Bi ologismus ist unzulänglich. Die eigentliche Leistung der Auseinandersetzung Nietzsches mit Platon erblickt P. im Konzept des Perspektivismus. Kants Bestimmung des Transzendentalen erfährt ihre radikale Fortsetzung und damit grundlegende Modifikation in Nietzsches Annahme des fiktionalen Charakters unserer Erfahrung. P. analysiert dieses Projekt einer transzendentalen Hermeneutik sehr umsichtig (119 ff.), innerhalb derer das Perspektivische die einzig mögliche Position einnimmt (die Annahme einer Welt an sich ist unter diesen Prämissen zwar erlaubt, aber auch dann nur eine mögliche Perspektive). Auch Nietzsches eigene Annahmen vom "absoluten" Fluß des Geschehens oder vom allgegenwärtigen Willen zur Macht sind Interpretationen, ebenso ist seine Feststellung über die Unwahrheit des Erkennens Interpretation - wenn auch nicht willkürlich (vgl. 135): Es geht nicht darum, ob Erkenntnisse wahr oder falsch sind, sondern um die Frage, wieweit sie der Perspektive der Lebenssteigerung dienen.

Nietzsche wendet sich in seiner Überbietung der Platon-Kritik Kants kritisch gegen die bei diesem immer noch vorhandenen platonischen Elemente. Diese liegen, erkenntnistheoretisch betrachtet, im Glauben an die definitive Lösbarkeit einer Erkenntniskritik und an die erfahrungsunabhängige Kategorientafel; deren Zusammenhang mit der Sinnlichkeit hat ihr Kritiker allerdings übersehen. Vor allem aber richtet sich dieser gegen Kants Vorstellung einer wahren Welt der Moral und deren theologisches Vorurteil. Der eigentliche Angriff richtet sich gegen die Moralphilosophie und gilt dem Kampf gegen die "Sklavenmoral" der von (einem sokratisierenden) Platon geprägten Metaphysik - die konkreten Urteile beruhen auf bestimmten historischen Einschätzungen, etwa mit Bezug auf die altgriechische Adelsethik. Es ist ein Prozeß, der im Nihilismus endet - in jenem, der an der Wertlosigkeit von allem verzweifelt oder sich in Illusionen flüchtet (Nietzsche spricht vom unvollständigen Nihilismus). Die Alternative besteht in der Aufdeckung der Wurzeln in Form einer genealogischen Aufklärung über die Herkunft der bisherigen Moralbegriffe und der aus dieser Prüfung hervorgehenden "Herrenmoral", die durch ihre lebenssteigernde Tendenz hervorragt. Der Perspektivismus des reifen Nietzsche schlägt nach P. eine Brücke zum frühen und dessen Hochschätzung der Kunst; dabei ist freilich der Perspektivismus selbst eine Gestalt der Kunst, dieses großen "Stimulans des Lebens", wie es in der Götzen-Dämmerung heißt.

Heidegger, der dritte der hier behandelten Anti-Platoniker, hat "Sein und Zeit" bekanntlich mit einem Motto aus dem platonischen Sophistes eröffnet, was die Bedeutung Platons vorweg markiert: Indem dieser die Seinfrage in Gang setzt und zugleich innerhalb des von den Griechen als selbstverständlich vorausgesetzten und als solchen unerkannten Zeithorizontes verbleibt. Das Seinsverständnis bewegt sich in der Gleichung ousia = stete Anwesenheit: "Die Griechen verstanden Seiendheit im Sinne von beständiger Anwesenheit" (GA 31, S. 621).1 Dieser zeitliche Charakter des Seins leitet Platons Entwurf der idea ebenso wie die aristotelische Frage ti ton on, was ist das Seiende? "Sein und Zeit" hat diesen verborgenen Horizont im Rückgang auf das seinsverstehende und in sich zeitliche Dasein in Gestalt der Fundamentalontologie freigelegt. Für P. befreit sich aber erst der Heidegger der Beiträge zur Philosophie von dem jenes Werk immer noch latent bestimmenden Platonismus - insofern nämlich, als Zeit nun nicht mehr als feststehender Horizont fungiert, sondern Heidegger auf die Abfolge und Geschichte verschiedenartiger Seinsauslegungen aufmerksam wird: "Sein und Geschichte" statt "Sein und Zeit" (204).

Zwei Elemente spielen beim frühen Heidegger bei der Ausarbeitung der Seinsfrage eine entscheidende Rolle: ontologische Differenz und fundamentalontologische Transzendenz. Sie verstellen aber gleichzeitig aufgrund ihrer immer noch platonischen Herkunft den Zugang zu jener Frage. So ist die ontologische Differenz ein Nachkomme des platonischen chorismos, wogegen die Aufgabe darin besteht, die Differenz vom Sein her (dem "Seyn") zu erhellen. Im Gegensatz zur onto-theo-logischen Verfassung der Metaphysik wird das Sein nicht als das seiendste Seiende (Platons ontos on qua agathon) aufgefaßt, sondern als der abgründige Grund, der Seiendes erst hervortreten läßt. P. spricht von einer "Gemeinsamkeit von Sein selbst und Seiendem" (225), die sich im Menschen als Da-sein ereignet.

Ein weiterer Brennpunkt von Heideggers Auseinandersetzung mit Platon betrifft die Frage nach der Wahrheit. Heideggers Deutung zufolge vollzieht sich mit Platons Metaphysik der Übergang von der ursprünglichen Wahrheit - in der Sein, Wahrheit und Mensch noch zusammengehören - zur Wahrheit als Richtigkeit der Aussage. Deren logos geht von der impliziten Ontologie aus, die sich (verfallend) am gegenwärtigen Vorhandenen orientiert und zudem unter der Vorherrschaft des Theoretischen steht. In Gegentendenz dazu beansprucht Heidegger die Entfaltung eines ursprünglicheren Wahrheitsbegriffes, Wahrheit als Erschlossenheit; das Wahrheitsgeschehen im Sein selbst bleibt zunächst noch unthematisch. In den "Beiträgen" dann grenzt sich Heidegger dreifach ab: gegen die platonische Auslegung der Wahrheit, gegen den frühgriechischen Gedanken der aletheia, aber auch gegen den eigenen Ansatz in "Sein und Zeit". In Platons "Höhlengleichnis" gelangt das frühe griechische Denken an sein Ende, zugleich beginnt hier die in der abendländischen Philosophie herrschende Auffassung der Wahrheit als Richtigkeit. Dagegen beruht die ursprüngliche Wahrheit als "Wahrheit des Seyns" im Zumal von Entbergung und Verbergung, wobei "die bleibende Verbergung des Seyns" (234) anzuerkennen ist. "Da-sein" ist in den Beiträgen - ein wichtiger Hinweis von P. - nicht mehr wie in Sein und Zeit eigentliches oder uneigentliches "Dasein", sondern jenes Da, das vom Ereignis von Lichtung und Verbergung gebraucht wird.

Anhand einzelner Stationen - Vom Wesen der Wahrheit (GA 34); Einführung in die Metaphysik (GA 40); Grundfragen der Philosophie (GA 45); Platons Lehre von der Wahrheit (GA 9) - zeigt P. die Differenzierungen in Heideggers Platonsinterpretationen auf, wobei das Gemeinsame in der Erkenntnis liegt, daß es bei Platon zur Auflösung des ursprünglich einigen Zusammenhangs von Sein - Wahrheit - Mensch kommt, daß die Wahrheit zur Richtigkeit der Aussage wird, die Idee als reines Sichentbergen ohne Verbergung in Erscheinung tritt, das Sein zum eigentlich Seienden ontifiziert wird und der "Humanismus" des animal rationale beginnt.

Gerade die beiden zuerst behandelten Platon-Kritiker, Kant und Nietzsche, haben - abgesehen vom frühen Griechentum - für Heidegger eine besondere Herausforderung bedeutet. Mit Kant wird, so jener, die Metaphysik erstmals zum Problem, mit Nietzsche kommt sie als Geschick der platonisch geprägten abendländischen Philosophie an ihr nihilistisches Ende. Aber auch die Kritik der reinen Vernunft steht in der Nachfolge Platons - das betrifft die Auslegung von Sein, Zeit, Denken und Wahrheit (vgl. das Schema 295), und Nietzsche überhaupt ist nur ein umgekehrter Platoniker, der deshalb die Überwindung der nihilistischen Metaphysik nicht leisten kann. Insgesamt gehören beide, Kant wie Nietzsche, in die Subjektivitätsphilosophie als die neuzeitliche Gestalt der platonischen Metaphysik.

Es ist P.s These, daß sich von Kant über Nietzsche zu Heidegger "eine Verschärfung der anti-platonischen Haltung" vollzieht (306). Der Autor kann dies insgesamt überzeugend darlegen, wobei vor allem seine Kant-Interpretation besticht. Auch seine Differenzierung in einen "frühen" und "reifen" Nietzsche hat viel Plausibilitä ;t für sich, die Darstellung des Perspektivismus darf in ihrer Knappheit als überaus gelungen bezeichnet werden. Bei Heidegger - dessen ausgezeichnete Kenntnis der Autor längst auch anderwärts bewiesen hat - liegen die Dinge vielleicht zu komplex, als daß der Raum für eine wirklich umfassende Aufarbeitung ausreichen würde. Ich könnte mir vorstellen, daß es für das Gesamtverständnis hilfreich wäre, wenn das für Heidegger außerordentlich bedeutsame Element des Theologischen stärker zum Tragen käme, wie umgekehrt der Herkunft der ousia-Auslegung aus der Alltäglichkeit (der hier nicht einbezogene Band GA 24 gibt wichtige Hinweise dazu, ferner GA 31 u. ö.) größeres Augenmerk gewidmet werden könnte. P. entgeht auch nicht immer der Gefahr - so selbständig und frei von aller Heidegger-Orthodoxie er ist, Heidegger mit Heidegger zu erläutern, was die gegenüber den früheren Kapiteln größere Fülle der Zitate belegen mag. Daß die Gegenkritik zu den drei herangezogenen Philosophen nicht mit zur Sprache kommt, wird in der Einleitung (4) begründet und kann um so eher akzeptiert werden, als damit die klare Linie des Gedankens gewahrt bleibt.

Goethe schreibt am Ende seiner Rezension zu Friedrich Leopold Stolbergs Platon-Übersetzung: "... wir fordern Kritik und wollen urteilen, ehe wir etwas annehmen und auf uns anwenden." Ein solches Urteilen wird durch die vorliegende Arbeit auf umsichtige, unprätentiöse und argumentativ überzeugende Weise gefördert; ihr Autor erweist uns dadurch - um nochmals Goethe zu zitieren - "einen außerordentlichen Dienst".

Fussnoten:

1) "GA" = Gesamtausgabe der bei Klostermann, Frankfurt, erscheinenden Werke Heideggers.