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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

493–497

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Degen, Johannes

Titel/Untertitel:

Diakonie als soziale Dienstleistung.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1994. 166 S. 8o. Kart. DM 68,-. ISBN 3-579-00231-7.

Rezensent:

Horst Seibert

Die stufenweise Einführung der Pflegeversicherung, die Abschaffung des Selbstkostendeckungsprinzips im Sozialhilferecht und die Öffnung des sozialen Anbietermarkts, den Patienten/Klienten in einen Kunden verwandelnd, überhaupt der Zerfall wohlfahrtspolitischer Positionen: dies kennzeichnet eine nahe bevorstehende, z.T. schon greifbare existentielle Krise der herkömmlichen Etat- und Verwaltungsdiakonie wie der subsidiaritätsbegründeten Verbändesozialarbeit überhaupt.

Im Krankenhausbereich, bei der Gesetzlichen Krankenversicherung, bei der Pflegeversicherung und vor allem in den neuen 93 und 94 des Bundessozialhilfegesetzes/BSHG (exakt bezeichnet: mit dem Zweiten Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms - 2. SKWPG - [BGBl. I S. 2374] wurde in Art. 1 Nr. 9 und 10 eine Neuregelung zur Vereinbarung von Pflegesätzen nach den 93 und 94 [neu] BSHG eingeführt) zeigt sich, wie die Bonner Sozialstrategen die Veränderungen unserer Soziallogik, den "Umbau", handhaben: indem erst einmal einzelne Markt- und Wettbewerbselemente in die formal noch existierende alte Sozialsystematik eingepflanzt werden. Die Veränderung der Soziallogik kommt im Implantationsverfahren daher. Diese einerseits bedeckte, andererseits wirtschaftlich höchst folgenreiche Methode macht den Umgang damit für alle Beteiligten schwierig.

Auch die "europäischen Signale" weisen auf stürmische Zeiten für diakonische Einrichtungen hin. Die EU ist im wesentlichen eine Wirtschafts-Union, in deren Programmen der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmern alle anderen möglichen Aspekte des Lebens dominiert.

Die bislang einzig akkreditierte Sozialtheorie, die Idee der Economie Sociale (EG-Dokument SEK (89) - 2187 endg./BR-Drucks. 33/90 12.190), unterwirft alle Bereiche staats- oder wohlfahrtsnaher Produkte und Dienstleistungen den Marktgesetzen; das "europäische Entree" dieser Idee erfolgte mittels Europäischem Vereinsrecht, das eindeutig auf Wirtschaftsvereine zugeschnitten ist.

Dazu paßt das Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 1991, wonach Tätigkeiten von Religionsgemeinschaften, sofern sie anderen gewerblichen Tätigkeiten, also z.B. im Dienstleistungsbereich, vergleichbar sind, Teile des Wirtschaftslebens sind. Auch kirchliche und freikirchliche Sozialarbeit wird zunehmend unter den Druck geraten, zum Teil eines rein an wirtschaftlichen Maßgaben orientierten Marktgeschehens zu werden.

Diese Prozesse werden weitreichende Auswirkungen auf Klientel wie Mitarbeiterschaften im sozialen Bereich überhaupt und in der Diakonie insonderheit haben. Die potentiellen Klienten/ Patienten werden zu Güterkonsumenten auf den kommerziellen Teilmärkten einer zunehmend alle Lebensbereiche umfassenden Dienstleistungsgesellschaft.

Für die Anbieter, die diakonischen Einrichtungen und ihre Mitarbeiterschaften, bedeutet dies: soziales Arbeiten unter ständigem Produktivitäts-, Leistungs- und Kostendruck, unter den Bedingungen betrieblicher Anpassungs- bzw. Veränderungsprozesse, als Management sozialer Dienstleistungen (d.h. z.B., unter Fragestellungen wie Kundengerechtigkeit, Verknüpfung externer mit interner Dienstleistung, Markterschließung, Wirtschaftlichkeit), als marketingorientiertes Handeln (d.h. z.B. Imagekontrolle, Beherrschung marketing-politischer Instrumentarien, "Werbe"-Konzeptionen usw.), als möglichst optimales Zeit- und Ressourcenmanagement, als zielplanungsbestimmtes Arbeiten, unter Flexibilisierungs-, Dispositions- und Neuplazierungsbereitschaft (d.h. unter Bedingungen von Modernisierungsmanagement, Qualitätsmanagement und Personalentwicklung) - d.h. auch, unter teilweisem, stufenweisen Verlust der bislang "sicheren" Handlungsbedingungen und Arbeitsstrukturen. Da alsbald nur noch bestimmte Leistungsstandards und deren Erbringung in bestimmter Zeit bezahlt werden, wird die soziale Arbeit Zielorientierungen bekommen, die ihr bislang fremd, z.T. eher suspekt, waren, z.B. konsequente output-Orientierung u.ä.

Ein neues Nachdenken über das Zusammenbekommen von Effizienz und Ethik in diakonischem Handeln, von Wirtschaftlichkeit und Bewahrung diakonischer Identität, ist dringend angesagt. Vor diesem Hintergrund ist das D.s Buch zu sehen. Es ist wichtig, kommt gerade zur rechten Zeit und verheißt einige Alternativen zu Alfred Jäger, dem seitherigen unangefochtenen Marktführer in diesem Themenbereich.

D. zeigt im wesentlichen, daß und wie in den Betriebsstrukturen diakonischer Unternehmungen integrative Zielkonzepte erstellt werden müssen und handlungspraktisch werden können und daß diakonische Unternehmungen mit Hilfe von Zielplanung markt- und konkurrenzfähig und glaubwürdig sein können. Vor allem aber veranschaulicht er die Schritte zu einer Zielplanung und deren Ergebnisse, die eigentlich immer nur Zwischen-Ergebnisse sein können, aufgrund Kaiserswerther Er-fahrungen. Dieser Erfahrungsberichtsteil des Buches ist m.E. besonders aussagekräftig, läßt vieles aus dem Theorieteil plausibler werden und erweist diesen als Praxistheorie (der geschilderte Zielplanungsprozeß im Diakoniewerk Kaiserswerth um-faßt den Zeitraum von 1983 bis 1986; die Habilitationsschrift D.s, die das zu rezensierende Buch bildet und die die Zielplanung als Dimension unternehmerischen Handelns in der Diakonie begründet, ist aus dem Jahr 1992):

- Hier wird z.B. deutlich, daß theologische Kompetenz allein nicht ausreichte für die Zielplanung diakonischer Unternehmungen, daß vor allem betriebswirtschaftliche Kompetenz hinzu kommen mußte, um die Dinge voranzubringen.

- Hier zeigt sich z.B., daß Zielplanungsarbeit eine Kärrnerarbeit ist, daß der Weg von einem IST- zu einem SOLL-Konzept aus vielen, oft unscheinbaren Schritten besteht, daß es viele betriebsinterne Widerstände gibt, wenn es erstens darum geht, IST und SOLL zu bestimmen, und zweitens, Differenz und Identität zwischen SOLL und IST zu definieren.

- Hier zeigt sich z.B., daß diakonische Zielrahmen-Erstellung (Degen: "Festschreibung von vorhandenen Aufgaben und Zielen; Aufzeigen alternativer Entwicklungsmöglichkeiten für einzelne Arbeitszweige; Auflistung langfristig zu lösender Konzeptions- und Organisationsaufgaben"; 122) etwas ist, das nicht generell geleistet werden kann, sondern je nur für eine bestimmte diakonische Unternehmung. Das ist ein Teil der be-gründeten reduktionistischen Argumentation Degens. Die Konzentration auf Zielplanung ist an sich schon eine "Reduktion von Komplexität" unternehmungstheoretischer Problemstellungen. Und weiter: Degen bezieht sich nur auf eine Diakonie-Erscheinungsform, auf diakonischeKomplexanstalten (= "...sol- che diakonischen Einrichtungen..., die in zwei oder mehreren Fachbereichen bzw. in einem Fachbereich mit mehreren Hilfeformen [ambulant, teilstationär, stationär] tätig sind, und zwar unter einem einheitlichen Rechtsträger... Komplexanstalten haben nicht nur eine wichtige Funktion für die Versorgung einer jeweiligen Region mit sozialen Dienstleistungen, sie sind darüber hinaus in der regionalen oder Landesöffentlichkeit ein besonderer Ausdruck von Kirche"; 16). Diese Konzentration auf Komplexanstalten begründet wiederum die starke Betonung des Unternehmerischen des diakonischen Handelns.

- Hier wird dann m.E. vor allem auch deutlich, inwiefern das Betriebswirtschaftslehre-Konzept von Erich Gutenberg zur Grundlage des Unternehmungsmodells D.s werden konnte. Gutenberg veröffentlichte Anfang der fünfziger Jahre sein System der produktiven Faktoren bzw. der betrieblichen Elementarfaktoren (= menschliche Arbeitsleistungen, Betriebsmittel und Werkstoffe); die Besonderheit des Ansatzes besteht nach D. u.a. darin, "daß die Elementarfaktoren ,kombiniert' werden. Dieser Vorgang heißt Produktion. Er wird dadurch möglich, daß aus dem Elementarfaktor Arbeitsleistung die dispositiven Arbeitsleistungen ausgegliedert und als selbständiger vierter Faktor dargestellt werden" (35); dieser läßt sich nach Gutenberg "in kein rationales Schema einfangen" und enthält nach Degen "das personale Element (durch nichts zu ersetzende ,entschlußfähige Persönlichkeiten') sowie die Faktoren Planung und eine der Planung entsprechende Betriebsorganisation als ,gestaltend-vollziehende Kraft'" (36 f.). Hier ist der theoretische Anknüpfungspunkt für Degens Interesse an Zielplanarbeit.

- So kommt D. auch zirkulär zu seinem Verständnis vom "Sinn" diakonischer Unternehmungen (und so gibt er m.E. seinem Praxisprojekt im Nachhinein komplexen Sinn): daß es zum einen im Grunde nicht anders geht, als daß im dispositiven Leistungsbereich (s.o.: in kein rationales Schema zu fassen, durch entschlußfähige Persönlichkeiten repräsentiert usw.) betriebswirtschaftliche, organisationstheoretische, rechtliche und theologische Aspekte zusammenkommen müssen, um die diakonische, d.h. für ihn: eine spezielle gemeinwirtschaftliche Form des Wirtschaftens zu begründen. Zum andern bedingen Wirtschaften und Sinn einander ("Sinn ist... die der Struktur und dem Prozeß des Wirtschaftens in einer jeweiligen Konstellation immanente Orientierung und ergebnisbezogene Ausrichtung", 40). So kann sich Zielplanung im Sinne Degens u.a. darstellen als Element nicht nur ökonomisch zu beurteilender Erhaltungs- und Entwicklungsfähigkeit einer diakonischen Komplexanstalt, sondern mit einer konstruktiven Rolle der Theologie in der Un-ternehmensführung (140).

- Schließlich zeigt sich im Erfahrungsberichtsteil, daß auch bei mehrjähriger Zielplanungsarbeit in einem umgrenzten Be-reich nicht einfach eine "Erfolgsstory" (16) herauskommt, sondern unterschiedlich wertige und differenziert zu sehende Ergebnisse, die großteils nur Zwischen-Ergebnisse sein können.

Wie ich D.s Intentionen verstanden habe, und welche Fragen sich dabei für mich auftun:

- Aus der - m.E. begründeten - Sorge vor purem Überlebens-pragmatismus in den Chefetagen diakonischer Unternehmungen, d.h. vor dem Zustand "des folgenlosen Abwägens und Taktierens" (118) einerseits, und starrer Orientierung an alten Leitbildern andererseits soll etwas entwickelt werden, das diakonische Identität in der Veränderung wahrt.

- Bei dem Ansatz, den Degen zur Lösung dieses Problems wählt, muß er sowohl die Allgemeinheit als auch die Besonderheit diakonischer Unternehmungen in einem herausstellen.

- Argumentationssicherheit wird dabei zu gewinnen versucht, indem Degen - in dieser Breite wohl erstmals - Betriebswirtschaftslehre mit theologischen Intentionen verbindet. Doch ist m.E. diese Sicherheit z.T. nur eine vermeintliche; an vielen Stellen der Argumentation Degens drängte sich mir die modifizierte Watzlawicksche Frage auf: Wie wirklich ist die betriebswirtschaftliche Wirklichkeit?

- Überhaupt: Degens Ausführungen haben konstruktivistische Anteile; sein Zielplanungskonzept enthält auch die autonome Entscheidung, eine Art Setzung, ein Machen von Wirklichkeit, so etwas wie eine Selbsterfüllende-Prophezeiungs-Marche, an der man sich eine Weile ausrichtet und an der Theologie offenbar ihren Anteil hat.

- Degen sieht m.E. richtig, daß es in der Kirche generell einen Nachholbedarf an Planungsarbeit gibt. Degens Versuch, diesen Bedarf zumindest für einen Typus diakonischer Unternehmungen zu decken, fällt aufgrund der gewählten Ansätze (vor allem Gutenberg, s.o.) m.E. etwas positivistisch - und insgesamt noch zu optimistisch! - aus.

Was ich meine: die aktuellen Wissenschafts- und Wirklichkeitstheorien beurteilen Entscheiden und Planen im Kontext paradoxen Wirklichkeitsverständnisses: Planen ist notwendig und zugleich obsolet. Der Psychologe J. Asendorpf, der in seinem Buch "Keiner wie der andere" (1988) die Autopoiese-Konzeption von Maturana und Varela zugrundelegt, veranschaulicht diese Sichtweise anhand des Theaterstücks "Biografie" von Max Frisch: die Hauptperson erhält die Möglichkeit, an Kreuzpunkte seines Lebens zurückzukehren und sich anders zu entscheiden und landet doch ziemlich genau da, wo er ohnehin war. Tenor: Wenn ich mich anders entscheide, entscheiden sich auch andere anders, was zu ganz ähnlichen "Ergebnissen", in ganz ähnliche Zielfelder, führen kann, als wenn ich mich nicht anders entschieden hätte. Eigene Planungs- und Entscheidungsprozesse sind unablässig von Planungs- und Entscheidungsprozessen anderer abhängig. Wie, umgekehrt, auch ständig eine Beeinflussung der Entwicklung und der Entwicklungsfaktoren durch Sich-Entwickelnde geschieht, die - wiederum quasi umgekehrt - ständig im eigenen System "entscheiden", was sie an Einwirkungen durch Außenfaktoren zulassen. So erklären sich Asendorpf u.a., daß große Planungs- und Veränderungsimpulse oft wenig oder nichts bewirken, aber kleine Impulse alles verändern können; daß im Grunde überhaupt nie
wirklich absehbar ist, was aus Planungen und Entscheidungen resultiert.

Es sind moderne Konzeptionen kommunizierender bzw. "lernfähiger" Organisationen entstanden (ich verweise z.B. auf Rüdiger Reinhardts Arbeit [1995] über organisationale Lernfähigkeit bzw. die Gestaltung lernfähiger Organisationen: demnach ist das Selbsttransformationspotential lernfähiger Organisationen, die als autopoietische Sozialsysteme abgebildet werden müssen, z.B. ein klarer "Wettbewerbsvorteil" gegenüber anderen Organisationen), die die dem modernen Planungsbegriff inhärente Spannung m.E. genauer treffen. An einigen Stellen ist Degen nicht weit entfernt von solchen Konzeptionen.

- Was ich in Degens Arbeit vermißt habe, war z.B. eine echte Diskussion des Dienstleistungsbegriffs (etwa auch im Vergleich mit der diakonia, dem theologischen Dienst- bzw. Dienstleistungsbegriff) oder die konkrete inhaltliche Benennung der theologischen Kompetenz, die sich dynamisch und auch unternehmensführerisch einzubringen hat.

Es ist zu hoffen, daß Degens Arbeit vieles in der Diakonie anstößt, denn zunehmend werden auch andere diakonische Handlungsformen, nicht nur die Komplexanstalten, von den eingangs genannten Veränderungen betroffen, auf die sie nicht nur passiv, sondern gestaltend reagieren können sollten. Für dieses Erfordernis bricht Degen eine Lanze.