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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

750–752

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wenz, Helmut

Titel/Untertitel:

Körpersprache im Gottesdienst. Theorie und Praxis der Kinesik für Theologie und Kirche.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1995. 191 S. 8o. Kart. DM 29,80. ISBN 3-374-01575-1.

Rezensent:

Dietrich Stollberg

Auch wenn "Kinesik" ein scheußliches (und überflüssiges) Wort ist, so macht doch eine liebevoll geübte und aufmerksam wahrgenommene Körpersprache den Gottesdienst im umfassenden Sinne schöner. Und darum ist dieses Buch zu begrüßen. Was bei den Katholiken lange Zeit beinahe Hauptsache zu sein schien, nämlich eine sorgfältige Beachtung und Umsetzung der agendarischen Rubriken, war im deutschsprachigen Protestantismus lange Zeit fast vergessen. Erst durch ökumenische Kontakte mit lutherischen Skandinaviern, Anglikanern und protestantischen Amerikanern (selbstverständlich auch mit dem nachkonziliaren Katholizismus) und im Gesamtrahmen der kulturgeschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte fassen die preußentalarbewehrten und predigtfixierten Protestanten hierzulande wieder mehr Mut zur Sinnlichkeit. Es dauert eben seine Zeit, bis Reformbewegungen durchschlagen - in diesem Falle, bis die Impulse einerseits der liturgischen Restauration des vorigen Jahrhunderts, andererseits eines R. Guardini, O. Casel, J. Pieper und H. Rahner, aber auch u.a. K.-B. Ritters, W. Stählins und P. Tillichs Wirkung zeitigen. Und so ist es kein Zufall, daß im Zusammenhang des Entstehungsprozesses der "Erneuerten Agende" und des "Evangelischen Gesangbuchs" nicht nur innovative Grundsatzwerke (z. B. M. Josuttis 1991, R. Volp 1992 f.), sondern auch stärker praxisorientierte Handreichungen (u.a. H.-Chr. Schmidt-Lauber/M. Seitz, Hg., 1992) erschienen sind(1). Für viele ganz neu - und manchmal geradezu eine Anfechtung - scheint dabei die "Wiederentdeckung des Leibes" im liturgischen Zusammenhang zu sein (Stollberg 1993).

Wenz stellt sich dem Problem engagiert und gründlich. Nach einer Einleitung, die der Unterscheidung verbaler und nonverbaler Kommunikation im Gottesdienst und der Wahrnehmung von Körpersprache generell dient, betrachtet Wenz - in einem protestantischen Buch beinahe unvermeidlich - erst einmal die Predigtkommunikation, bevor er sich "einzelnen nonverbalen Signalen im Gottesdienst" zuwendet (Gesichtsausdruck, Blick, Gesten und Bewegungen, Körperhaltung, Kontakt und Berührung, räumliches Verhalten, Kleidung u. ä., Geruchs- und Geschmackssignale; Stimme, Musik, Laute und Geräusche). Ein eigenes Kapitel gilt dem Tanz und dem Verkündigungsspiel als "Signalkomplexen". Im Anschluß daran lenkt der Autor den Blick auf liturgische Rollen und macht sich Gedanken über "historische Gründe für die Vernachlässigung der Körpersprache". Der in dieser Hinsicht dringend revisionsbedürftigen Aus- und Fortbildung (einschließlich der Arbeit mit Video) widmet er ein eigenes Kapitel, und im "Ausblick" werden weitere Beobachtungen zum Thema zusammengetragen (Körpersprache Jesu, Erneuerte Agende und Evangelisches Gesangbuch).

Das Buch ist ohne Zweifel wichtig, ja notwendig. Es verarbeitet eine Fülle einschlägiger Literatur (ist insofern auch eine Fundgrube für Forscher), bringt viele Einzelaspekte und vermag die Aufmerksamkeit von Theoretikern wie Praktikern auf eine zentrale Dimension menschlicher Kommunikation und ein eklatantes Defizit liturgischer Wahrnehmung im Protestantismus der letzten Jahrhunderte zu lenken. Zu Recht kritisiert Wenz die Wortlastigkeit und Bewegungsarmut des evangelischen Gottesdienstes, die auch noch die Erneuerte Agende und das Evangelische Gesangbuch dominieren, weil der rationalistische Aberglaube an die Bindung des Evangeliums an kognitiv nachvollziehbare inhaltliche "Verkündigung" sich auch weiterhin ziemlich ungebrochen behauptet.

Man kann bei einem solchen Versuch, Neuland zu betreten, gewiß Kritikwürdiges entdecken. Mich stören z. B. ungenaue Formulierungen: "Sowohl auf evangelischer als auch auf katholischer Seite wurde in den letzten Jahrzehnten erkannt, daß Kommunikation auch in der liturgischen Wissenschaft und Praxis einen wichtigen Platz einnehmen sollte." (11) Auch kann man zu Recht fragen, ob sich das Thema vorwiegend auf der Verhaltensebene behandeln läßt: Geht es denn wirklich nur darum, "unkontrollierte nonverbale Signale wie z. B. dauerndes Neigen des Kopfes beim Reden, übertriebene Grimassen, eine geballte Faust oder einen erhobenen Zeigefinger" sich, "sofern sie unbeabsichtigte Wirkungen zeitigen", "abzugewöhnen" (21)? Geht es nicht vielmehr um Echtheit, Kongruenz innerhalb einer Liturgenpersönlichkeit und infolgedessen nicht um Angewöhnen oder Aberziehen irgendwelcher Verhaltensweisen, sondern um Stimmigkeit, Authentizität und Ganzheitlichkeit des Ausdrucks? Verhaltensänderungen im Interesse besserer Manipulation der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher wären kaum das, was im Ernst gemeint sein kann. Es geht aber auch nicht nur - im konventionell-protestantisch verkürzenden Sinne - um "die Aufnahme des Evangeliums" (89), die durch Sinnlichkeit (z. B. auch Weihrauch) unterstützt werden soll. Es geht vielmehr um ganzheitlichen Ausdruck menschlicher Anbetung als Antwort auf das Evangelium. Man sollte sich auch im Protestantismus eine übertriebene Angst vor theologischen Irrtümern, Mißbräuchen, Sinnlichkeit und Lebendigkeit aller Art abgewöhnen. Religiöser Ausdruck gehört zur Humanität und kann nicht gegen Theologizität (die gelegentlich religionsfeindlich ist) ausgespielt werden. Nicht Effektivität, sondern Lebensfreude ist das Ziel der Wiederentdeckung liturgischer Sinnlichkeit. Jedenfalls wünsche ich Autor, Text und Anliegen dieses Buches breiteste Resonanz.

Fussnoten:

1 M. Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991; H.-Chr. Schmidt-Lauber/M. Seitz (Hg.), Der Gottesdienst. Grundlagen und Predigthilfen zu den liturgischen Stücken, Stuttgart 1992; D. Stollberg, Liturgische Praxis. Kleines evangelisches Zeremoniale, Göttingen 1993;

R. Volp, Die Kunst, Gott zu feiern. Liturgik, 2 Bde., Gütersloh 1992 f.