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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

857–859

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Starnitzke, Dierk

Titel/Untertitel:

Diakonie als soziales System. Eine theologische Grundlegung diakonischer Praxis in Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer Verlag 1996. 331 S. m. 20 Abb. gr. 8. Kart. DM 69.-. ISBN 3-17-014167-8.

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Wohl kein soziologischer Ansatz neben dem von Jürgen Habermas hat die soziale Arbeit und ihre Wissenschaft so geprägt wie die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Schaut man sich im ,Blätterwald' der Fachperiodika von Caritas, Diakonie und sozialer Arbeit/Sozialpädagogik um, so findet man, daß der systemische Ansatz die Szene inspiriert und durchdringt. Auch in die Theologie, in die Systematik und besonders in die Praktische Theologie, ist die Denkart Luhmanns schon seit vielen Jahren jedenfalls punktuell eingedrungen. Mit der Betheler Dissertation Dierk Starnitzkes aus der Schule von Alfred Jäger wurde nun ein diakoniewissenschaftliches Grundlagenwerk vorgelegt, das die allgemeine Theorie sozialer Systeme Luhmanns und auch seine Religionstheorie in einen interdisziplinären Diskurs mit diakonietheologischen Fragen bringt.

Der Autor, westfälischer Pastor und Wissenschaftlicher Assistent für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Beth-el, hat bei seiner anspruchsvollen Ausarbeitung stets - wie er schreibt - die praktische Diakonie der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel vor Augen gehabt. In diesem Kontext stellt er sich die Frage, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen die umfangreiche diakonische Praxis theologisch fundiert werden könne. Mit diesem Ziel unternimmt er zunächst einen Durchgang durch die Entwicklung der bundesdeutschen Diakonie und ihrer theologischen Reflexion nach 1945 und entdeckt, wie vielfach andererseits ebenso beklagt, ein theologisches Defizit in der wissenschaftlichen Aufarbeitung diakonischer Grundlagen- und Praxisfragen. In einem zweiten Schritt findet er in neueren Ansätzen theologischer Reflexion diakonischer Praxis einen Bedeutungszuwachs der interdisziplinär verstandenen Diakoniewissenschaft und wertet einige "multirelationale Positionsbestimmungen" theologischer Provenienz (H. Seibert, R. Turre, A. Jäger) aus.

Der Vf. meint über diese Konzepte hinaus, in Luhmanns Theorie sozialer Systeme wesentliche Elemente für einen neuen diakoniewissenschaftlichen Diskurs zu finden, die dem hochkomplexen System der deutschen Diakonie gerecht werden. Dazu stellt er die Grundbegriffe Luhmanns- "hierarchische und funktionale Differenzierung", "Selbstreferenz", "Identität", "doppelte Kontingenz", "Codierung", "Programmierung", "Interaktion, Or-ganisation und Gesellschaft" etc. - dar und unterzieht sie mit Hilfe bereits vorgelegter Studien (von K.-W. Dahm, R. Marx, E. Mechels, W. Pannenberg, M. Welker u. a.) einer theologischen Kritik. Die Folgen der funktionalen gesellschaftlichen Differenzierung für die christliche Religion insbesondere bezüglich der Innendifferenzierung des christlichen Religionssystems in die drei Systemreferenzen Kirche, Diakonie und Theologie werden herausgearbeitet und für die Innen- und Außenbezüge der Diakonie fruchtbar gemacht. In einem abschließenden Arbeitsgang wird versucht, systemtheoretische und theologische Perspektiven zu verbinden, um daraus Ansätze für die Frage nach dem Proprium diakonischer Arbeit zu erhalten.

Interessant im Blick auf innovative Ideen für Theologie und Diakonie wird es an der Stelle, wo der Vf. einen neuen "Leitbegriff des Christentums" im allgemeinen und der diakonischen Arbeit im besonderen entfaltet. St. wird dabei wiederum durch Luhmann angeregt, entdeckt jedoch, über diesen theologisch hinausgehend, den Dienstbegriff auf der Grundlage der im Corpus Paulinum vorliegenden fruchtbaren Spannung zwischen den Polen Dienst und Vollmacht, Schwachheit und Stärke, doulos und apostolos neu. Den Code "Immanenz/Transzendenz", den Luhmann für das gesellschaftliche Teilsystem der Religion formuliert, versucht St. durch eine paulinisch qualifizierte "Zweitcodierung" präziser und differenzierter zu fassen. Doch gelingt es ihm bei dem Gegensatzpaar "vollmächtiger Dienst/ Nichtdienst als spezifische Leitunterscheidung christlich-diakonischen Redens und Handelns" (300) nicht vollständig, die paulinischen Termini zu klären.

Den diakonia-Begriff kann er noch auf recht einfache Weise entfalten, dessen Antithese, zu deutsch "Vollmacht", bleibt jedoch ein übergreifender Komplexgedanke, der nicht gänzlich an der Terminologie des Paulus verifiziert werden kann. Hier, wie auch bei der weiteren exegetischen Bearbeitung des Neuen Testaments und auch der hebräischen Bibel, gibt es - dessen ist sich Starnitzke bewußt - umfassende Forschungsaufgaben.

Die Konsequenzen für Kirche, Theologie und Diakonie, die eigenartigerweise zu großen Teilen bereits vor der theologischen Entwicklung des diakonischen Leitbegriffs gezogen werden, sind für Theorie und Praxis gleichermaßen interessant. Die Diakonie steht in der doppelten Problemstruktur, daß sie sich zum einen auf die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme der Wirtschaft, des Rechts, der Erziehung, der Politik, der Wissenschaft und der Medizin einlassen muß, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Andererseits soll sie Kirche und Theologie verbunden bleiben, was bei der Überflutung durch nichtdiakonische Systemeinflüsse nur schwer möglich ist. Starnitzke sieht den Ausweg in der Doppelbewegung von diakonischer Selbstabgrenzung durch Entwicklung eines eigenen Codes und Programms und von gleichzeitiger Offenheit für systemfremde Codes und Erkenntnisse aus anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Letztere müssen in die Diakonie selbst aufgenommen und im Sinne ihres eigenen Leitbegriffs transformiert werden. Im Bereich der Wirtschaft kann es folglich nur um "Vergrößerung der finanziellen Eigenmittel" (256) der Diakonie sowie ein "direktes Dienst-Leistungsverhältnis zwischen diakonischem Träger und Hilfsbedürftigem" (257) gehen.

Im rechtlichen Bereich ist die Konsequenz eine "juristische Verselbständigung diakonischer Einrichtungen von der verfaßten Kirche" (272), durch geeignete Organisationsformen, wie etwa der GmbH, zugunsten größerer Flexibilität und zur Vermeidung finanzieller Risiken. Im Bereich des Erziehungssystems soll "die diakonieeigene berufliche Ausbildung und Fortbildung der Mitarbeiterschaft" (273), beispielsweise in einem Trainingsprogramm für den diakonischen Leitungsnachwuchs in einer "diakonischen Führungsakademie" (277), verstärkt werden. Insonderheit die "Entwicklung einer diakonischen Wissenschaft" (278) muß innerhalb der akademischen Theologie und anderer an die Diakonie angrenzender Fachgebiete, vor allem aber auf neue Weise innerhalb der Diakonie selbst, z. B. im Kontext der DiakonInnenschulen, vorangetrieben werden.

Letztlich wird die diakonische Dimension eines "vollmächtigen Dienstes" auf der Ebene des Gesellschaftsbezugs, der institutionellen Organisation und der zwischenmenschlichen Interaktion zum Tragen kommen müssen. Daraus ergibt sich folgende diakonische Maxime: "Handle und rede so, daß du deine Vollmachten jederzeit im Sinne des Dienstes an anderen Menschen gebrauchst. Wenn du in dieser Ambivalenz vollmächtigen Dienstes tätig bist, geschieht das im diakonischen System" (313). Damit ist die theologische Kritik an Luhmann bezüglich seiner Ausblendung des Individuums sowie seiner Aufspaltung von Kirche, Diakonie und Theologie eingebracht worden, jedoch nicht voll zu tragen gekommen, wird doch die Aufspaltung der drei Systemreferenzen des Religionssystems hier letztlich weiter vorangetrieben.

Es lohnt sich in jeder Hinsicht, mit Hilfe dieses Bandes die Begrifflichkeiten und Denkmuster der funktionalen Systemtheorie zu erlernen und sie mit theologischen Konzepten für die Diakonie zusammenzudenken. Die aufgezeigten Konsequenzen sind diskussionswürdig, wenn auch nicht ganz neu. Der Band kann diakonischen Theoretikern empfohlen werden. Praktikern der Diakonie wird er einige Mühe im Durchdringen der komplexen theologischen und soziologischen Sprache abfordern, auch wenn sie vom Vf. explizit auf Dialogfähigkeit angelegt ist.