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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

888–891

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Marchlowitz, Birgit

Titel/Untertitel:

Freikirchlicher Gemeindeaufbau. Geschichtliche und empirische Untersuchung baptistischen Gemeindeverständnisses.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. XII, 350 S. gr. 8o = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 7. Lw. DM 218,-. ISBN 3-11-014371-2.

Rezensent:

Erich Geldbach

Die Arbeit zerfällt in drei Teile. Im ersten Teil wird die Entwicklung der deutschen Baptistengemeinden in fünf Phasen dargestellt (5-73) und der aktuelle Stand nachgezeichnet. Auf die "Konstituierung" (1834-1879) folgt die Zeit des "Aufbaus" (1879-1908), die Phase der "Anerkennung" (1908-1933), die Zeit der politischen "Bewährung" (1933-1945), der Abschnitt der Teilung (1945-1989) und die heutige Situation. Über die zeitlichen Abgrenzungen gibt die Vfn. einleuchtende Gründe. Ob man jedoch die Zeit von 1933 bis 1945 unter dem Stichwort "Bewährung" wird einreihen dürfen, ist angesichts der Veröffentlichungen zu dieser Zeit (Günther Kösling, Die deutschen Baptisten 1933/1934, Diss. Marburg 1980 und Andrea Strübind, Die unfreie Freikirche, Neukirchen/Vluyn 1991) höchst zweifelhaft. Der Vfn. kommt es indes auf das Organisationsprinzip an, vor allem im Blick auf den dritten Teil der Arbeit, eine empirische Untersuchung zum Thema an drei Berliner Baptistengemeinden. Dazwischen ist eine systematisch-theologische Analyse (75-118) eingeschoben, die auf die Ekklesiologie konzentriert ist. Die empirische Untersuchung bildet den Hauptteil (119-183) und will die aktuelle Praxis baptistischen Gemeindeaufbaus verdeutlichen.

Als Textgrundlagen für ihre Darstellung hat Birgit Marchlowitz die im Laufe der Zeit mehrfach entwickelten Glaubensbekenntnisse ("als zusammenfassende Auslegung der Heiligen Schrift") als repräsentative Dokumente nach außen, sowie die Bundesratsprotokolle als Forum theologischer Selbstreflexion nach innen ausgewählt und ausgewertet. Der dritte Teil bezieht sich auf eine Befragung, wozu die Vfn. einen auf S. 219-231 abgedruckten, ausführlichen Fragebogen entwickelt hat. Ein Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister findet man S. 184-218. Der Anhang bietet das Protokoll der ersten Bundeskonferenz von 1849 (233-283), eine Synopse der Glaubensbekenntnisse von 1847, 1837 und 1843 (285-321), Glaubensbekenntnis und Verfassung von 1912 (323-327), das Glaubensbekenntnis von 1944 (328-330), sowie die "Rechenschaft vom Glauben" aus dem Jahre 1977 und die Abweichung im Teil über die Taufe in der DDR-Fassung und die Versuche einer Vereinheitlichung, wie sie 1995 erfolgten (342-350).

Die geschichtliche Entwicklung ebenso wie der systematische Teil sollen den nötigen Hintergrund für die empirische Untersuchung vermitteln. Wie schon gesagt, sind die Abgrenzungen der Phasen einleuchtend, doch gibt es einige Unklarheiten im Detail, von denen einige genannt werden sollen. Die "General Baptists" haben keine Allversöhnungslehre vertreten, wie S. 9 behauptet wird, sondern sich von der Prädestinationslehre der calvinistischen Baptisten unterschieden. Nicht nur Lehmann (15), sondern auch Oncken und Köbner, also die drei führenden Baptisten der ersten Generation, gehörten zu den deutschen Teilnehmern der Gründungsversammlung der Evangelischen Allianz in London. Die mit Recht ausgemachte "unreflektierte Kaisertreue" rührt nicht nur von der Verbindung "Patriotismus und Frömmigkeit" (34), sondern auch von der Marginalisierung der Gemeinden und ihrem Versuch her, sich als "deutsch" zu erweisen - richtet sich also gegen die kirchlicherseits erhobene Polemik, die Freikirchler seien englischen Ursprungs. Zwar blieben die führenden Gestalten nach 1945 in ihren Ämtern, doch sollte man fairerweise dazu sagen, daß Hans Luckey erst auf Drängen im Amt blieb. Er wollte eigentlich angesichts seiner Haltung im Dritten Reich ausscheiden. Daß die ökumenische Zusammenarbeit im "Hilfswerk der Evangelischen Kirchen" so harmonisch nicht war, sondern sich äußerst problematisch gestaltete, hat Andrea Strübind in einem lesenswerten Aufsatz "Freikirchen und Ökumene in der Nachkriegszeit", KZG 6, 1993, 187 ff. beschrieben. Wiederaufbau und Strukturwandel sind treffend gekennzeichnet, auch das Auseinanderdriften West-Ost bzw. die Schwierigkeiten der Vereinigung nach 1989. Die Diskussion um das Schriftverständnis (72 f., bes. Anmerkung 230) ist zu knapp geraten.

Im systematischen Teil werden die erkenntnisleitenden Fragen entwickelt, die für den dritten Teil wichtig sind. Schrift und Gemeindeverständnis werden nach dem Urbild-Abbild Schema interpretiert. In der Schrift findet sich das Urbild der Gemeinde, an deren Gestalt auch die Gemeinde heute gebunden ist (87). Sie ist deshalb stets ecclesia visibilis, was sich konkret zum Beispiel bei Taufen, Mission und Kirchenzucht zeigt, aber auch am heiligen Wandel der Glieder. Als Gnadenmittel sind Wort Gottes, Taufe und Abendmahl genannt, wobei nach Meinung der Vfn. die Taufe von einem Heilsakt zu einem Bestätigungsakt reduziert ist (96). Die Frage der Taufe von Kindern zeigt überdies, daß Baptisten keine Erwachsenen-Täufer, sondern Gläubigen-Täufer sind (99).

Der empirische Teil untersucht drei Berliner Gemeinden: Tempelhof (im ehemaligen Westteil), Friedrichshain (im ehemaligen Ostteil) und die Zweiggemeinde Lichtenrade. Im ersten Unterabschnitt wird eine geschichtliche Entwicklung der drei Gemeinden gegeben (121-134). Neben Auswertung der Gemeindearchive hat die Vfn. für die Untersuchung drei methodische Wege beschritten: die "teilnehmende Beobachtung", qualitative Interviews mit Multiplikatoren wie Pastoren, Gruppenleiter und Älteste und schließlich die schriftliche Befragung der Gemeindeglieder. Die ersten Verfahren dienten zur Vertrauensbildung für die Fragebogenaktion. Die Befragung der Mitglieder entspricht dem theologisch-ekklesiologischen Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen.

Die Schwierigkeit im Umgang mit dem Fragenbogen und ihre Lösung beschreibt die Vfn. so:

"Bei dem Prozeß der Operationalisierung trat allerdings immer wieder die Schwierigkeit auf, wie theologische Ansätze in abfragbare Phänomene umzusetzen sind. Damit die mit den Fragen verbundenen Thesen transparenter erscheinen, werden diese im folgenden auf eine dreifache Weise in den einzelnen Abschnitten eingeführt: Erstens erfolgt eine Zusammenfassung der systematisch-theologischen Ansätze zu den jeweiligen Themenbereichen; zweitens wird das zu erwartende Verhalten eines ,Idealbaptisten' vorgestellt; drittens werden die hinter den Hypothesen stehenden Fragestellungen formuliert" (138).

Diese Vorgehensweise kann natürlich nur, wie alle empirischen Untersuchungen auch, Tendenzen oder Richtungen aufzeigen. Allerdings muß man sagen, daß im vorliegenden Fall einige Überraschungen zu Tage getreten sind. Interessant ist zunächst die Geschlechterverteilung: 38% sind Männer, die allerdings 75% in den Leitungsgremien ausmachen, während 62% Frauen sind, bei einer nur 25%igen Repräsentation. In der Altersstruktur überwiegen die über 60jährigen mit 27%, gefolgt von den 20-29jährigen mit 25%, eine Gruppe also, die in der volkskirchlichen Ge-meindearbeit weitgehend fehlt, die aber in den baptistischen Gemeinden mit nur 11% in den Vorständen völlig unterrepräsentiert ist. Auffällig war auch, daß 19% einen Hochschulabschluß besitzen. Dieser hohe Anteil kann doch wohl nur dadurch bedingt sein, daß diese Gruppe eher bereit und in der Lage ist, Fragebögen auszufüllen und zurückzugeben. 68% der Vorstandsglieder und Gruppenleiter sind Baptisten der zweiten oder dritten Generation, also in einem baptistischen Haus aufgewachsen. Ihr Taufalter liegt deutlich unter 20 Jahren; das Taufalter insgesamt schwankt zwischen 10 und 76 Jahren, doch liegt der Spitzenwert beim 14. Lebensjahr (in der Ostgemeinde sogar bei 12 Jahren), das heißt, die Taufe ist ein rite de passage für viele, so daß bei einer Taufe die soziale Rückbindung an das Elternhaus und weniger eine reine oder mündige Glaubensentscheidung ausschlaggebend ist. Wichtig erscheint auch der Hinweis, daß Evangelisationen von größerer Bedeutung für die aufwachsenden Gemeindekinder sind, sich taufen zu lassen, als für Außenstehende.

Überraschend ist auch, daß 62% der Befragten für eine besondere Behandlung der "Abendmahlsreste" eintreten, was die Vfn. als "eine Art Kryptosakramentalismus" (180) interpretiert, und dies, obgleich nur für 13% die Realpräsenz Christi wichtig ist. Für 72% steht die Zusage der Sündenvergebung im Mittelpunkt und für 14% der Gemeinschaftscharakter.

Für das Pastorenbild ergibt sich, daß 95% eine besondere Berufung erwarten und damit auch der Ordination eine hohe Bedeutung zumessen, daß der Pastor in erster Linie Seelsorger sein muß, dann Hirte, geistliches Vorbild und schließlich theologischer Fachmann. Der Wunsch nach Hausbesuchen als oberstes Tätigkeitsmerkmal entspricht diesem Bild (168).

Die Gemeindezucht wird von 90% (von Frauen sogar 93%) bejaht. 34% wollen dadurch die Ehre Gottes bewahren, 22% die biblische Lebensweise aufrecht erhalten, 20% die Gemeinde rein erhalten und nur 12% die Sünder bessern. Als mögliche Gründe für die Maßnahmen stehen im Westen sozialethische Fragen obenan, während im Osten die Frage der Lehre eine größere Bedeutung besitzt. Der Vergleich zwischen der Haupt- und Zweiggemeinde zeigt, daß die Glieder der Teilgemeinde eher dem Konstrukt eines "Idealbaptisten" entsprechen, was Mission, Teilnahme an Diskussionen in den Gemeindestunden, Laienpredigt und ähnliches betrifft. Der Vergleich ehemaliger Ost- und Westgemeinden zeigt im Osten eine größere verwandtschaftliche Verflechtung, einen hohen Anteil Baptisten 2. Generation, was dem niedrigen Taufalter entspricht, aber auch liberalere Anschauungen bezüglich der Ordination der Frau oder der Mitgliedsaufnahme.

Überraschend ist auch, daß 87% der Befragten sich an den sonntäglichen Gottesdiensten regelmäßig beteiligen und 10% jeden 2. Sonntag zum Gottesdienst gehen. Darüber hinaus bekunden 71%, daß sie an weiteren Veranstaltungen der Gemeinde teilnehmen und 77% zeigen eine Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit. Baptisten gelten als missionarisch aktive Menschen, weshalb ein Detail besonders überrascht: 36% sind Baptisten der 1. Generation, jedoch ist der größte Teil von ihnen durch das verwandtschaftliche Umfeld oder durch Einheiratung gewonnen; nur 9% sind sogenannte "Solobaptisten", das heißt Missionierte der 1. Generation ohne vorherige Kontakte. Diese Zahl ist für eine Nachwuchskirche außerordentlich niedrig. Interessant ist auch, daß Taufe und Abendmahl sehr eng mit ethischen Forderungen und Fragestellungen verknüpft sind. Außerdem weist die Vfn. darauf hin, daß sich rituelle Handlungen einer größeren Wertschätzung erfreuen, was sich an der Zunahme von Kindersegnungen oder an Feiern nach besuchtem Gemeindeunterricht der 14jährigen zeigt (die auffällige Parallelen zum Konfirmationsritual aufweisen), aber auch an der Frage der Behandlung der Abendmahlsreste festmachen läßt.

Im Haupttitel verspricht die Arbeit Ausführungen zum "freikirchlichen" Gemeindeverständnis. Das Freikirchentum wird aber auf den Baptismus begrenzt. Zusätzlich werden dann innerhalb des Baptismus lediglich drei Gemeinden, und diese alle in Berlin, untersucht, davon eine sehr kleine Zweiggemeinde. Hier zeigt sich schon eine Besonderheit der Arbeit. Das Hauptproblem scheint mir darin zu liegen, daß die Rücklaufquote der Fragebögen alles andere als befriedigend ausgefallen ist. Von 500 ausgegebenen Bögen kamen in den drei Gemeinden nur 190 ausgefüllt zurück, d. h. eine Rücklaufquote von 38%. Von daher ergibt sich die Frage, ob die Basis für weitreichende Aussagen nicht doch zu schmal ist, zumal der dritte Teil der Arbeit von der Vfn. selbst als Hauptteil eingestuft wird.