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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

853–857

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haslinger, Herbert

Titel/Untertitel:

Diakonie zwischen Mensch, Kirche und Gesellschaft. Eine praktisch-theologische Untersuchung der diakonischen Praxis unter dem Kriterium des Subjektseins des Menschen.

Verlag:

Würzburg: Echter 1996. XXI, 895 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 18. Kart. DM 88,-. ISBN 3-429-01791-2.

Rezensent:

Renate Zittl

Mit Herbert Haslingers Buch hat man zunächst eine im doppelten Sinne gewichtige Untersuchung in der Hand, denn der Autor hat zum Thema "Diakonie zwischen Mensch, Kirche und Ge-sellschaft" ein 895seitiges Werk verfaßt, das schwer in der Hand liegt und vom Titel wie vom Umfang her die Assoziation auslöst, von einem enzyklopädischen Anspruch geleitet zu sein. Diese praktisch-theologische Untersuchung der diakonischen Praxis unter dem Kriterium des Subjektseins des Menschen ist 1994 - unter der Betreuung von Stephan Knobloch - am Fachbereich Katholische Theologie an der Mainzer Universität, wo der Vf. von 1989 bis 1994 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Pastoraltheologie tätig war, als Dissertation angenommen worden und liegt nun als Band 18 in den von K. Baumgartner und W. Rück hrsg. "Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge" publiziert vor. Seit 1994 ist der Vf. als Referent für Ehrenamt und Diakonie am Institut für Fort- und Weiterbildung der Diözese Rottenburg-Stuttgart tätig.

Das Format des Buchs und sein umfassender Titel wecken gleichzeitig die neugierige Frage, wie der Autor sein enzyklopädisches Thema angegangen ist und bewältigt hat. Die Skepsis, die einige Menschen beim Anblick des Umfangs befallen könnte, thematisiert der Autor selbst im Vorwort seines Werks mit dem Zitat eines Theologen, der nicht gewußt habe, "daß man über die Diakonie so viel schreiben kann" (VII). Der Autor kontert: "Vielleicht ist dieses Überraschtsein ein Beleg dafür, daß im Metier konventioneller Theologie die Relevanzreichweite, die Vielschichtigkeit und die Tiefe, welche die Diakonie als theologisches (und nicht nur als kirchenstrategisches) Thema hat, noch nicht richtig wahrgenommen werden." (ebd.) Wer sich in der Diakonie- und Caritaswissenschaft ein wenig auskennt, dem ist bewußt, daß sich über die Themenstellung des Verfassers ganze Bibliotheken füllen ließen, bzw. schon gefüllt sind. Die Lektüre dieser umfänglichen Studie lohnt jedoch der Mühe. Dem Autor ist ein Meilenstein innerhalb der Praktischen Theologie - hier verstanden als Fundamentaltheologie im umfassendsten Sinn (10) -, der Caritaswissenschaft und der Diakoniewissenschaft gleichermaßen gelungen. Die Untersuchung stellt fundamentale Fragen (9) und bohrt tief genug, um "Diakonie" als Grunddimension der Theologie und christlicher Praxis zu verankern und durchzubuchstabieren.

Der Weg dieses Unterfangens beginnt mit einleitenden grund-sätzlichen Überlegungen zum Thema "Diakonie - eine Frage für Theologie und Kirche?" und einer Klärung des Vorverständnisses der Untersuchung. In fundamentaltheologischer Hinsicht werden zunächst Verständnis und Gebrauch der für die Untersuchung zentralen Begriffe "Praxis", "Subjekt" und "Diakonie" erklärt. Nach der Grundlegung zum Selbstverständnis der "Praktischen Theologie", der Bestimmung des Subjektseins als theologisches Kriterium in Postulaten einer subjektkonstitutiven Praxis - wie Wertschätzung, Befreiung, universale Solidarität, Echtheit, Em-pathie (113-116) - und der Klärung und Abwägung der Frage: "Was ist Diakonie?" (124 ff.) mündet das 1. Kapitel in einer hilfreichen Differenzierung der verschiedenen Facetten des Begriffs "Diakonie". Der Autor konstatiert "die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenkens in der Rede von Diakonie":

"Mit der Diakonie ist weniger ein abgegrenztes, überschaubares Feld kirchlicher Praxis als vielmehr eine Dimension der Praxis von Christinnen und Christen bzw. von christlichen Kirchen gemeint, die sich in verschiedenen, sich wandelnden Gestaltungen entfaltet. Diese vielgestaltige diakonische Dimension der gesamten christlich-kirchlichen Praxis ist - gemäß dem hier zugrundeliegenden Selbstverständnis der Praktischen Theologie als einer kritischen Theorie christlich identifizierter und identifizierbarer Praxis der Menschen - grundsätzlich... gemeint". "In einer vorläufigen inhaltlichen Bestimmung werden dabei unter Diakonie all jene christlich motivierten und christlich deutbaren Praxisformen verstanden, in denen Notleidende durch Solidarität, durch Leidminderung und Notüberwindung und durch Bekämpfung der Ursachen ihrer Not Hilfe in bzw. Befreiung aus ihrer Not erfahren" (126).

Auf diesem Hintergrund wird im 2. Kapitel "der Diakoniebedarf im Kontext moderner Gesellschaft" (127 ff.) expliziert. Als exemplarische Handlungsherausforderung beschreibt der Autor die materielle Armut. Dafür kann er besonders auf die Analysen des hervorragenden Armutsberichts des Caritasverbands von 1993 (Hauser/Hübinger, Arme unter uns) zurückgreifen. Als strukturelle Gründe für eine Diakonie im Trend der Gesellschaft nimmt er die "Individualisierungsthese" (154 ff.) - vgl. Ulrich Beck - und die These "der Kolonialisierung der Lebenswelt" (165 ff.) - vgl. Jürgen Habermas - genauer unter die Lupe:

"Es gibt vermehrten Bedarf an Diakonie, weil es vermehrt Opfer gesellschaftlicher Prozesse gibt, wie sie anhand der Armutsentwicklung, der Individualisierung und der Kolonialisierung der Lebenswelten exemplarisch beschrieben worden sind" (179). Diese Feststellung sei für die Diakonie jedoch kein Ruhekissen zur Bestätigung ihrer Notwendigkeit, sondern fordert nach Meinung des Autors ebenso "zur kritischen Selbstreflexion der gegebenen diakonischen Praxis" heraus, wie dazu, "diese Trends der Ge-sellschaft kritisch zu analysieren, ihre pathologischen Wirkungen aufzudecken und an der Beseitigung ihrer systemischen Ursachen mitzuwirken" (180). Die heikle Frage nach dem Verhältnis von Diakonie und verfaßter Kirche behandelt der Autor aus kirchensoziologischer Perspektive auf der Grundlage der großen Umfragen über Kirchenmitgliedschaft - der katholischen wie der evangelischen Kirche - und stellt einmal mehr fest, daß bei den "Erwartungen an die Kirche" (181ff.) dem "Praxisfeld" Diakonie eine sehr große Akzeptanz und der Wunsch nach ihrer Intensivierung entgegengebracht wird. Dabei sind die Erwartungen der Kirchenfernen in dieser Hinsicht überproportional. "Die Diakonie verschafft der Kirche bei den Kirchenfernen und nicht kirchlich Gebundenen eine Restplausibilität" (209).

Allerdings wird Diakonie meist apolitisch auf die Hilfsbedürfnisse einzelner Personen bezogen und in einer Art "Delegationsmentalität" (209) als Hilfeleistung "für andere" verstanden. Auf diesem Hintergrund resümiert der Autor: "Die forcierte theologische Frage nach der Diakonie ist an der Zeit, weil die diakonische Praxis als solche an der Zeit ist" (212).

Der Autor nähert sich im 3. Kapitel der "Diakonie in der ,Außenperspektive' der Gesellschaft", unabhängig "von binnenkirchlichen und theologischen Deutungen" (213). Er arbeitet hier mit dem soziologischen Konzept Niklas Luhmanns und be-schreibt mit der Diakonie als "Dienstleistung für die Gesellschaftssysteme" (214) zugleich ihre Problematik "als Systemstabilisierung in der Gesellschaft" (293) angesichts der wohlfahrtsstaatlichen Einbindung, der Institutionalisierung (Professionalisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung, Technisierung) und der Funktionalisierung in einer sich verschärfenden sozialen Situation, in der Not privatisiert, die Notleidenden stigmatisiert, die Hilfe kommerzialisiert und einem umfassenden Prozeß der Ökonomisierung unterworfen ist. Der Autor will die Tendenzen der Institutionalisierung und bewußten ökonomischen Gestaltung nicht verteufeln, sondern darauf aufmerksam machen, daß die Ökonomie durch nicht überspringbare Kriterien geleitet sein muß. Als wirkliche Herausforderung diagnostiziert er:

"Das gemeinsame Kennzeichen all dieser Problemlagen der gesellschaftlichen Präsenz der Diakonie besteht darin, daß in ihnen die Notleidenden selbst nicht als bestimmende Subjekte im Praxisgefüge der Diakonie in Erscheinung treten", sondern "als Objekte dieser systemstabilisierenden Mechanismen" (294) fungieren.

"Aus einer fiktiven kirchen-,internen' Position des Betrachters" beleuchtet der Autor im 4. Kapitel, "welchen Ort die Diakonie gemäß den gängigen Denkschemata, Strukturen, Handlungsformen, theologischen Deutungen, Integrationsmustern, normativen Lehrmeinungen usw. innerhalb des Gesamtgefüges der Kirche einnimmt" (297). Untersucht werden verschiedene ekklesiologische Konzepte hinsichtlich ihrer Verortung der Diakonie in der (katholischen) Kirche, zum einen der Diakonie als dichotomisch vom Heilsdienst unterschiedener "Weltdienst der Laien" (297), zum anderen als "Grundvollzug der Kirche" (333), bes. bei Karl Rahner, Ferdinand Klostermann, Wilhelm Zauner, Karl Lehmann, Rolf Zerfaß, Hermann Steinkamp, Ottmar Fuchs und Urs Eigenmann. Er arbeitet sowohl "diakonieaufwertende" In-tentionen, wie auch "diakonieabwertende" Tendenzen des Konzepts der Grundvollzüge "Diakonie", "Verkündigung" und "Li-turgie" heraus. Das "Stufenmodell", das "Modell der konzentrischen Kreise" und das "Tempelmodell" (Verkündigung, Liturgie, Diakonie, Koinonia) beschreiben Praxisformationen des Verhältnisses der Grundvollzüge zueinander.

Insgesamt hält der Autor das Grundvollzüge-Modell - trotz aller Probleme - für das tragfähigere. In einem zweiten Schritt beschreibt er "Problemlagen der Verortung der Diakonie in der Kirche" (373-490) als Strukturen der "Abwertung", der "Marginalisierung", der "Institutionalisierung", der "Frage nach dem Proprium", der "Krise des Helfens" und "Krise der Helfenden" und schließlich der "Diakonievergessenheit der Theologie". Er resümiert - ähnlich wie für die Systemstabilisierung in der Gesellschaft - die Diakonie in der "Innenperspektive" als "stabilisierenden Randbereich der Kirche" (485). "Plausibilität und Akzeptanz der Diakonie in der Gesellschaft werden als Plausibilität und Akzeptanz der Kirche insgesamt ausgelegt und dienen so, etwa in Konfliktfällen wie dem Kirchensteuerstreit, der Kirche als Existenzlegitimierung und als schlagkräftiges Abwehrargument gegen Kritik" (489).

Im 5. Kapitel nimmt der Vf. nun einen Perspektivwechsel vor und entwickelt die "Diakonie in der Perspektive Betroffener" (491), deren theologische Relevanz er in hermeneutischen Vor-überlegungen als "Notwendigkeit des 'anderen Blicks'" (492) entwickelt. Der Autor unterscheidet die Betroffenheit des "Notleidenden" und des "Solidaritätspartners" in der Situation der helfenden Beziehung (496 f.) und stellt authentische Artikulationen von Betroffenen vor, die für die Diakonie "Veränderungsbedarf signalisieren" (Gettoisierung, Vereinnahmung, In-strumentalisierung, Nichternstnahme, Bevormundung, Infantilisierung, Anonymität und Ungerechtigkeit), Artikulationen, "die Beibehaltungsbedarf signalisieren" (Achtung, Freiraum, Solidarität) und Artikulationen, die auf beides verweisen (Assistentialismus und Unselbständigkeit). Der Vf. schließt daraus auf "Diakonie als ambivalenten Lebensbereich Betroffener": "vom andern her gedachte" Diakonie erweist sich unter dem Kriterium des Subjekt-sein-Könnens der Betroffenen als ambivalentes Phänomen. Als Fazit diagostiziert er in einem - sehr kurzen - 6. Kapitel zusammenfassend "die Dominanz des Objekt-Paradigmas" in der Diakonie:

"Trotz gegenteiliger Beteuerungen ist die diakonische Praxis nach wie vor zu einem großen Anteil von Mechanismen geprägt und wird nach wie vor über weite Strecken nach Maßgaben konzipiert, welche die Notleidenden im Status der Objekte der von den Interessen der Hilfeleistenden gelenkten Hilfepraxis festhalten" (527).

Dieser Analyse will der Vf. im 7. Kapitel unter der Überschrift "Diakonie - Verantwortung unter dem Anspruch Gottes" (533) eine neue Perspektive entgegensetzen. Aus der Rezeption der Philosophie Emmanuel Lévinas und seiner "spezifischen Sicht des Zusammenhangs von zwischenmenschlicher Beziehung und Gotteserfahrung", der die Diakonie "als Inbegriff des menschlichen Existenzvollzugs unter dem Anspruch Gottes begreifen läßt" (533) und der Analyse der Praxis Jesu im biblischen Zeugnis, die die Menschlichkeit als Zeugnis vom Reich Gottes verkündet, wird die Frage "Was ist Diakonie?" in ihrer Komplexität einer (praxiskritischen und -leitenden) Antwort zugeführt:

"Diakonie als unbedingte Verantwortung für den Anderen nach dem Maß des Unendlichen und als Praxis der Nachfolge Jesu Christi ist die indispen-sable und durchgängige Dimension des christlichen Glaubens. Sie strukturiert die gesamte christliche Praxis der Menschen dahingehend, daß Menschen in dieser Praxis die Lebensmöglichkeiten erhalten, die ihrer Würde vor Gott entsprechen, und daß sie in der Aufhebung ihrer zwanghaften Lebensverhältnisse den guttuenden Zustand des Reiches Gottes als ansatzhaft gegenwärtig erfahren können. Als Verwirklichung des von Gott gebotenen menschenwürdigen Menschseins aller Menschen enthält sie wesentlich eine vorrangige Option für Notleidende, die in der christlichen Praxis durch solidarisch-helfende Heilung ihrer individuellen Lebenseinschränkungen und durch gesellschaftskritische Veränderung von Notstrukturen aus ihrer Not befreit werden" (693).

Auf dem Hintergrund seiner fundamentaltheologischen, -philosophischen, human- und gesellschaftswissenschaftlichen Überlegungen entwirft der Autor im 8. Kapitel "Ansatzpunkte einer Praxistheorie der Diakonie" (695 ff.). Diese Ansatzpunkte entwickelt er auf drei Ebenen christlicher Praxis. Für das Postulat der diakonischen Beziehungen gilt die "unbedingte Würde des Menschen" (697) mit den Elementen der Betroffenheit, Echtheit, Wertschätzung, Empathie, angemessenen Kriterien des Heilens, Helfen, Lieben und Dienen. Für das Postulat der diakonischen Gemeinden gilt der "Primat der Diakonie" (742) als gemeindekonstitutive Dimension des Grundvollzugs Diakonie, als diakonische Strukturierung der Liturgie, als diakonische Strukturierung der Verkündigung, als diakonische Strukturierung der Koinonia und als Wahrnehmung der Diakonie in der Gemeinde. Für das Postulat einer diakonischen Kirche gilt die "vorrangige Option für die Armen" (784), die sich in einem be-wußtseinsbildenden Perspektivwechsel, in Solidarisierung, Po-litisierung und Verzicht auf Reichtum und Privilegien operationalisieren läßt. Abgeschlossen werden diese Überlegungen zu Ansatzpunkten einer Praxistheorie der Diakonie im Schlußteil bewußt in Form einer Geschichte, um den Blick noch einmal zu weiten, da die Ansatzpunkte "offen formuliert" sein wollen, "dazu bestimmt, je nach den Erfordernissen einer Praxissituation ergänzt, erweitert, weiterentwickelt oder auch verändert zu werden", um dem zentralen Anliegen bestmöglich zu entsprechen: "es geht um den Menschen" (835).

Diese praktisch-theologische Untersuchung zur "Diakonie zwischen Mensch, Kirche und Gesellschaft" erlaubt keine schnelle und leichte Lektüre. Diakonisch Interessierten und arbeitenden Menschen kann das Nachverfolgen der Gedanken aber die Möglichkeit geben, die Wichtigkeit ihrer Praxis in Kirche und Gesellschaft theologisch verortet und gewürdigt zu sehen. Theologisch ausgebildeten und arbeitenden Menschen ist m. E. die Auseinandersetzung mit den Grundgedanken dieser Untersuchung als Pflicht aufgegeben.

Eine Alphabetisierung der Theologie und der Kirche für ihre Grunddimension Diakonie mit dem "hermeneutischen Primat der Praxis vor der Theorie" (32) ist nach wie vor im katholischen wie im protestantischen Spektrum an der Tagesordnung. Dafür hat der Verfasser einen entscheidenden Beitrag geleistet, auch im ökumenischen Sinne, denn die diskutierten Probleme sind für Diakonie wie Caritas gleichermaßen relevant. Haslingers Buch dient der Praxis in hilfreicher Weise, indem er - unter grundlegender Einbeziehung der Perspektive der betroffenen Menschen - theologisch verantwortet und konzeptionell die Probleme angeht, vor denen Diakonie und Caritas im Kontext ihrer Kirchen angesichts der heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen stehen.