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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

497–499

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gönner, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Stunde der Wahrheit. Eine pastoraltheologische Bilanz der Auseinandersetzung zwischen den Kirchen und dem kommunistischen System in Polen, der DDR, der Tschechoslowakei und Ungarn.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. 581 S. 8o = Forschungen zur praktischen Theologie, 14. Kart. DM 138,-. ISBN 3-631-48529-8.

Rezensent:

Rudolf Mau

Die vorliegende Dissertation entstand unter dem Eindruck der "Wende" am Institut für Pastoraltheologie und Kerygmatik der Universität Wien. G., bis 1989 Kaplan in der Erzdiözese Wien, geht es um die Frage, welche Konsequenzen sich für die Kirchen, vorab die Katholische Kirche, aus den Erfahrungen von Christen unter den kommunistischen Regimen im östlichen Mitteleuropa ergeben. Die Ergebnisse solcher Erkundungen resumiert ein ausführliches Schlußkapitel. Es benennt zerstörerische Folgen ("Typen der Schädigung") des Existierens unter kommunistischen Diktaturen, wie z.B. eine "Kontraselektion des Klerus"; Spaltungen, Spitzelwesen; Klerikalisierung unter Ausschluß von Laienengagement; Gettoisierung der Kirche und Störung ökumenischer Prozesse (438-480). Als "kirchlich-pastorale Herausforderung" für die Gegenwart resultiert daraus eine "Absage an alle Ideologien" zugunsten der in allen Le-bensbereichen wieder zu Ehren zu bringenden Wahrheit, d.h. auch einer "ideologiefreien", "auf Freiheitlichkeit aufbauenden Kirche" (480-515; zieht. 509). Um das Feld konkreten Handelns zu markieren, werden Erfahrungen "in" und "neben" jenen östlichen Kirchen benannt. Hier geht es um "Typen lebendiger Strukturen und Lebensformen", gruppiert nach den Stichworten "gesamtkirchliche Aufbrüche" und "Aufbrüche christlicher Gruppen" (515-549).

Das Genannte kennzeichnet die Sichtweise und die Intentionen des Vf.s. Die Kirche muß der "Stunde der Wahrheit", der Situation nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime, gerecht werden. Zu Recht betont der Vf., daß für Theologen aus dem Osten, in einer Welt von Täuschung, Lüge und Doppelzüngigkeit, "Wahrheit" meist noch über der "Freiheit" gestanden habe (14). In differenzierter Schilderung präsentiert das Buch eine Fülle oft widersprüchlicher, vom Vf. umsichtig reflektierter Erfahrungen jener Jahrzehnte. Dabei wird eine Fülle von Material verarbeitet. Das Literaturverzeichnis (über 500 Titel) und vielfältiges Zitieren zeigen, daß es dem Vf. vor allem um das Anhören von Zeitzeugen geht. Jeder Abschnitt der stark gegliederten Darstellung wird mit problem-signifikanten Zitaten eingeleitet. Literatur, die ihre Urteile über die Kirche nur aus staatlichen Akten konstruiert, bleibt ungenannt und unbeachtet.

Beeindruckend ist die Darstellung der stark unterschiedlichen kirchlichen Landschaften und Profile in den vier Ländern, auf die sich die Arbeit bezieht: der stabilen, hierarchisch-sakramental orientierten katholischen Volkskirche in Polen (mit faktischem Ignorieren des Zweiten Vatikanums), der schrumpfenden protestantischen Mehrheitskirche in der DDR, die aber nicht nur "überwintern", sondern auch gesellschaftliche Verantwortung in konträrer Situation wahrnehmen wollte, schließlich der staatskirchlich entmündigten, vom Regime weitgehend in-strumentalisierten Kirchen in der CSSR (mit wiederum unterschiedlichen Befindlichkeiten in beiden Landesteilen, auch einer sich bildenden Untergrundkirche) und in Ungarn.

Das Hervortreten solcher Unterschiede nach den ersten rigorosen Verfolgungsphasen - trotz des prinzipiell gleichförmigen Agierens der kommunistischen Diktaturen - sucht der Vf. von den historischen Hintergründen her zu erklären (Kap.1: "Jahrhunderte, die nachwirken", 15-45), dem Josephinismus in den Ländern der einstigen Habsburgermonarchie (mit wiederum unterschiedlichen Wirkungen bei den Tschechen und den Un-garn), der für Polen charakteristischen Verbindung von Kirche und Volk in historisch permanenter Opposition gegen den fremdherrschaftlichen Staat, und wiederum den protestantisch-deutschen Traditionen auf dem Territorium der DDR.

Eine eingehende historisch-analytische Beschreibung gilt der aggressiv-bedrohlich erfahrenen Realität des Kommunismus (Das "Haus des Absurden", 47-173). Der Vf. skizziert den Weg der Kommunisten zur Macht mit List und Gewalt, betont den Machterhalt als permanent verfolgten Selbstzweck, "Lüge und Phrase" als Fundament dieser Macht. Wie jenes System sich als Haus des Absurden "arrangiert und etabliert", wird sehr lebendig, in bildreich-zupackender Sprache geschildert. Das Gesamtkapitel beschreibt idealtypisch die Baugeschichte jenes "Hauses", charakterisiert "Baumeister" und "Hausmeister", nennt die "Fertigteile" (u.a.: "Wissenschaftlichkeit" als Grund des Totalanspruchs, das Feindbild als "Garant der Ausweglosigkeit", Staatskult als "organisierte Ewigkeit", die die Wahrheit überblendende Fassade als "Zentrum aller Anstrengung"). Vieles wird treffend und empirisch belegbar benannt. Aber trifft ein solches Bild vom Reich des Bösen schon überzeugend die "Wahrheit" jener Absurdität, wenn es bei detaillierter Schilderung von Phänomenen (allein hier mit ca. 50 kurzen Unterabschnitten) die historisch wirksam gewordenen Leitbegriffe Kommunismus und Sozialismus qua Täuschung und Lüge faktisch zum Verschwinden bringt? In späteren Zusammenhängen taucht hier Vermißtes dann doch noch auf, z.B. wenn der Vf. dem positiv gewürdigten ungarischen Bischof Cserhátis be-scheinigt, wegen seines Eintretens für Gerechtigkeit habe er zuerst "dem sozialistischen Aufbruch" näher gestanden "als den kirchlich-feudalen Reminiszenzen Mindszentys" (197).

Das umfangreichste Kapitel gilt den Jahrzehnten der Auseinandersetzung und des "Zueinander von Gesellschaft, Staat und Kirchen" (175-387). G. charakterisiert (1) "das staatliche ,Angebot' an die Kirchen" (unter der Kurzformel: "Die Kirchen dürfen weiterhin existieren, wenn..." 180), beschreibt (2) "die Antwort der Kirchen", (3) "die Antwort christlicher Gruppen" und thematisiert dann (4), für die Phase vor dem Zusammenbruch, "die unterschiedliche Entwicklung [bei den Kirchen] in den einzelnen Staaten". Zum Paradigma der von den Kirchen zu bestehenden "Gratwanderung" (der "immer riskante[n] Grenzgänge mit der ständigen Gefahr der Grenzüberschreitung", EKD-Erklärung 1992) wird die Versuchung Jesu (Mt 4): die des "einfachsten Weges" (des vermeintlich existenzsichernden, ängstlichen Rückzugs aus der Öffentlichkeit), die der "Überschätzung der eigenen Möglichkeiten" (exemplifiziert an Kardinal Mindszenty und der scheiternden vatikanischen Ostpolitik z.Zt. Pius' XII.) und die der "billigen, rücksichtslosen Geschäfte" (des Irrwegs einer "Allianz des neuen Staates mit der alten Kirche", wobei die "alte Kirche" die Merkmale "Privatfrömmigkeit, Liturgiedominanz, Kleruszentriertheit, Weltferne und Repetitionstheologie" hat). Schlimme Beispiele zeigen, was auf solchen Wegen bes. in Ungarn und der CSSR geschehen konnte.

Große Aufmerksamkeit (v.a. im Blick auf das Ende der Diktaturen und auf Chancen eines Neuanfangs) finden die "christlichen Gruppen" - gleichfalls unter dem Aspekt jener Versuchungen. Da ist die Rede vom "Weg über den roten Teppich" (Friedenspriester etc.), vom "Hohlweg" der Untergrundstrukturen (bes. CSSR, mit dem kritischen Hinweis auf einen "Wort"-losen Sakramentalismus), von "verbotenen" (d.h. vom Klerus beargwöhnten und unterdrückten) Wegen abgeschobener "Kritiker zwischen den Fronten", die für eine öffentliche Bewußtseins- und Willensbildung eintraten (der Vf. nennt den kath. Aktionskreis Halle sowie Gruppen in Ungarn und in Schlesien), von "Behelfswegen" eines romantischen Zusammenrückens und von "Ziegenwegen", d.h. einer Wegsuche und -bahnung bei "Lebensgruppen mit alltäglichen und geistlichen Anliegen". Zu letzteren bemerkt G., "fast alle christlichen Gruppen der DDR, die sich gesellschaftspolitisch engagierten", hätten sich "im Umkreis der organisierten (protestantischen) Kirche" gebildet. Anders als in der CSSR und in Ungarn hätten weder Staat noch Kirche sie in den Untergrund gedrängt (288).

Zur katholischen Kirche in Polen wird Würdigendes, aber auch Kritisches ausgeführt. Angesichts der Nach-Wende-Situation zitiert G. Warnungen vor einer totalitären (katholisch-nationalen) Ideologie, einem neuen Getto nach der Devise: "katholische Schriftsteller für katholische Lehrer in katholischen Zeitungen" (548). Ohne die offene Gesellschaft zu akzeptieren, werde die Kirche ihren Auftrag verfehlen.

Zur evangelischen Kirche in der DDR: Da man in ihr über tabuisierte Themen sprechen konnte, sei sie "zur überdimensionalen ,Nische'" und neuen Heimat für eine Alternativkultur geworden (225). Der Behauptung, hier werde ein "Freiraum-Mythos" als "nachträgliche Entlastungstheorie" gepflegt (E. Neubert), begegnet G. u. a. mit dem Hinweis auf Jugendseelsorger und "innerkirchliche Vordenker", die schon beizeiten entsprechende Impulse gaben (z.B. J. Henkys 1977; 226, 247). Gewürdigt wird auch die Bedeutung evangelischer Bildungsstätten für die Sprachfähigkeit bei den neuen, demokratischen Prozessen und die Rolle der evangelischen Kirche bei der friedlichen Revolution (411 ff).

Der Vf. hat sich viel vorgenommen - und Beachtliches geleistet. Eine vielgestaltige Landschaft wird abgeschritten und quasi kartographiert. Der Grad der Durchdringung und Verarbeitung des (bisweilen allzuvielen) Materials verdient Respekt, ungeachtet einzelner Irrtümer (z.B. der Behauptung, das Luthergedenken 1983 sei durch ein gemeinsames Komitee von "LutheranerInnen und DDR-Regierung" vorbereitet worden, 112, oder der Meinung, die 1979 geplante "Vereinigte Evangelische Kirche", als vorwärtsweisende Veränderung gewertet, sei tatsächlich zustande gekommen, 510). Das Buch bietet über das Genannte hinaus viel Bedenkenswertes auf dem Wege (etwa: die Erfahrung der Beichte als Akt der Freiheit und Menschenwürde in einer totalitären Welt, 124) und zeugt Seite für Seite von einer Wißbegier, die sich der befreienden Wahrheit des Evangeliums verdankt und den Erfahrungen von Menschen und Kirchen unter jenen "Versuchungen" gilt. Als Gegenwartsauftrag sieht der Vf. nicht eine neue Herrschaft (der Kirche), sondern das Wahrheitszeugnis von "ChristInnen" in einer offenen, aber zugleich weithin kirchenfernen oder -kritischen Gesellschaft. Der engagierte, hörende Umgang eines jungen katholischen Theologen aus "westlichem" Milieu mit jenen Erfahrungen unter der Frage nach dem Auftrag der Christen und der Kirchen heute verdient Beachtung und sollte über Konfessionsgrenzen hinweg Impulse geben.