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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

748 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fitschen, Klaus, u. Reinhart Staats [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Politische Bußtagsworte.

Verlag:

Kiel: Luth. Verlagsgesellschaft 1995. 207 S. gr. 8o. Kart. DM 19,80. ISBN 3-87503-0077-X

Rezensent:

Wiebke Köhler

Seit dem 22. November 1995 wird der Buß- und Bettag nicht mehr unter der Voraussetzung eines staatlichen Feiertags begangen. Allerdings hat das, wie man sich in vielen Gemeinden überzeugen konnte, de facto seine Bedeutung im Gemeindeleben gestärkt. Evangelische Christen haben sich bewiesen, daß sie auf diese Gelegenheit zur Besinnung auf die Pflicht zum "Gottesdienst im Alltag der Welt" (E. Käsemann zu Rö 12) nicht verzichten wollen. Mit der wohltuenden Erfahrung des neu erwachten Interesses am Buß- und Bettag ausgestattet, habe ich den vorliegenden Sammelband von "politischen Bußtagspredigten" gelesen.

Daß wir uns seit dem vergangenen November in einem neuen Abschnitt der Geschichte des Buß- und Bettages befinden, ist Grund für ein Interesse an seiner Form und Entwicklung. Darum geht es in den einleitenden beiden Aufsätzen: zunächst von Klaus Fitschen zur Geschichte des Buß- und Bettages und dann von Reinhart Staats zu seiner theologischen und politischen Bedeutung. Fitschen gibt neben der soliden historischen Information auch Hinweise darauf, was zur Auswahl der Bußtagspredigten geführt hat. Es sind Predigten angefangen bei Luther, über Spener, Schleiermacher bis hin zu Friedrich Naumann und den Heroen der Vor-und Nachkriegszeit: Barth, Bonhoeffer, Dibelius, Albertz usw. Diese und die weniger bekannten, aber nicht weniger interessanten ,Bußtagsprediger' wie z. B. der sächsische Oberhofprediger von Ammon, der niedersächsische Erweckungsprediger Harms oder auch der im Dritten Reich gegen die Judenverfolgung predigende von Jan werden jeweils mit einer kurzen biographischen Einführung vorgestellt. Außerdem wird die sozio-politische Situation der Predigt erläutert, sodaß man einen Endruck von ihrer politischen und kirchlichen Wirkung erhält. Alle Predigten stammen aus dem deutschen Sprachraum, d. h., es sind auch Beispiele aus der Schweiz vertreten (für mich eine Entdeckung: die "Bettagsmandate" des "Ersten Staatsschreibers" Gottfried Keller).

Für die Moderne fehlen allerdings ostdeutsche Predigten ("lagen uns leider nicht vor", 9). Auch österreichisch-protestantische Zeugnisse ("die Situation... ist... nicht vergleichbar", ebd.) fehlen. "Leitlinie" für die Aufnahme ist "der Gehalt an zeitgeschichtlichen Reflexen" (ebd.) Nach der Lektüre der tatsächlich ausgewählten Predigten wüßte ich aber gerne mehr über die Auswahlkriterien. Warum fehlen Predigten von Vertreterinnen und Vertretern der Politischen Theologie, der Befreiungstheologie, überhaupt von Theologen, die nach 1945 geboren sind?

Darauf findet man wohl eine Antwort, wenn man sich das theologisch-staatsbürgerliche Konzept des Buß- und Bettages vor Augen führt, wie es Staats in seiner Einleitung darstellt. Er orientiert sich an den Erläuterungen der Nordelbischen Kirchenleitung zu der von ihr betriebenen "Volksinitiative zur Erhaltung des Buß-und Bettages" (9). Diese Erläuterungen sind daran interessiert, in einer theologisch nicht überfordernden Weise einer christlichen Allgemeinheit den bisherigen Status des Tages zu beschreiben und zu rechtfertigen. Staats entfaltet unter Bezugnahme darauf zunächst ein Konglomerat verschiedener Aspekte seines Verständnisses von Buße. Aus der ersten der 95 Thesen Luthers folgert er, daß "das christliche Leben... der steten Verbesserung bedarf", deshalb muß Buße "eingeübt" (ebd.) werden. Dafür stelle die moderne Gesellschaft allerdings keine hinreichenden Institute zur Verfügung, vielmehr verhindere die medialisierte Mitwelt eine unmittelbare Zuständigkeit des Einzelnen in Gewissensprüfung und tätiger Reue. Auch die kirchliche Praxis hindere z. B. in der zu kritisierenden Psychologiesierung der Seelsorge eigentliche Buße. Dabei stifte recht praktizierte Buße ein "Gemeinschaftsbewußtsein aus der Selbsterkenntnis der täglichen Schuld des je einzelnen" und steuere gegen die beklagenswerte Entwicklung zu einer "deutschen Gesellschaft von Egoisten" (10).

Ich möchte aus der Gemengelage dieser Argumentation die Punkte herausgreifen, die es mir verständlich machen, warum diese Predigtsammlung keine zeitgenössischen Laienpredigten, keine feminstisch-theologischen, keine befreiungs-theologischen und keine politisch kontroversen Predigten beinhaltet und auch auf die Bußpredigten, die zur Wende in der ehemaligen DDR beigetragen haben, verzichtet hat. Es handelt sich hier nämlich nach meiner theologischen Überzeugung um ein verengtes Verständnis von Buße, das auf die Konzeption und das Verständnis von Buß- und Bettag Auswirkungen hat. Luther hat in den 95 Thesen den auf kasueller Ebene instrumentalisierten Bußbegriff der spätmittelalterlichen Kirche entgrenzt und gerade so existentialisiert, daß er die Beschreibung der christlichen Lebenshaltung im Ganzen wird. Insofern verbietet sich die unmittelbare Anwendung dieses Bußbegriffs auf einen kirchlichen Feiertag, wie er der Buß- und Bettag ist. Man muß vielmehr in grundsätzlichen Überlegungen zur theolgoischen Textur dieses Tages eine Verhältnisbestimmung zwischen den kasuell-institutionell geübten Bußriten und dem existenzbestimmenden Bußbegriff Luthers vornehmen. Das leisten aber weder die nordelbische "Volksinitiative" noch im Anschluß daran Staats. So bleibt auch das Politikverständnis, das zugrunde liegt, unscharf. Z. B. die gut gemeinte Voraussetzung, daß nämlich "christliche Gemeinde und politische Gemeinde und Staat ein gemeinsames Interessse: das Wohlergehen ihrer Menschen" (ebd.) haben, ist theologisch völlig unproduktiv, denn Politik wird christlicherseits zum Thema, weil das nicht der Fall ist. Könnte man ein ruhiges und gottwohlgefälliges Leben im Schutz der Staatsmacht führen, müßte diese von den Pervertierungsgefahren menschlicher Sünde frei sein. Christliche Buße - ob kasuell gebunden oder nicht - wird immer den Finger auf die Wunden legen, die die sündigen Menschen sich beifügen und deren Folgen sich zur Sündenmacht verdichten, die öffentliches und privates Leben vergiften kann. Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund des inzwischen gerade durch die Abschaffung des staatlichen Feiertages gewandelten Bewußtseins für einen Buß- und Bettag in den evangelischen Gemeinden fehlt mir in der Predigtsammlung "Politische Bußtagsworte" am Ende der theologische und politische Pfeffer.