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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

747 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fechtner, Kristian

Titel/Untertitel:

Volkskirche im neuzeitlichen Christentum. Die Bedeutung Ernst Troeltschs für eine künftige praktisch-theologische Theorie der Kirche.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995. 229 S. 8o = Troeltsch-Studien, 8. Kart. DM 78,-. ISBN 3-579-00101-9.

Rezensent:

Hans-Richard Reuter

Im 20. Jh. hat sich kaum ein Theologe mit vergleichbarer Intensität an den sozialen Gestaltungsproblemen des Protestantismus abgearbeitet wie Ernst Troeltsch. Der prekären Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Religion, Christentum und Kirchen in der durch Säkularisierung, Individualisierung und Pluralismus gekennzeichneten Moderne, der er sich mit schonungsloser Offenheit am Beginn unseres Jahrhunderts stellte, sehen sich die verfaßten Kirchen an dessen Ende verschärft ausgesetzt. Eine Arbeit, die den Beitrag Troeltschs zu einer praktischen Ekklesiologie der Volkskirche erkundet, ist darum an der Zeit. Sie verdient auch deshalb Interesse, weil Stellenwert und Tragfähigkeit von Troeltschs Kirchenkonzeption soziologisch, aber auch theologisch stets umstritten geblieben ist: Wo sie lediglich als Negativfolie für eine Theorie des neuzeitlichen, nach- und außerkirchlichen Christentums gelesen wird, da zieht seine verfaßte Sozialgestalt kein eigenes konstruktives Interesse auf sich, wo man sie hingegen mit der Elle dogmatischer Ekklesiologien mißt, da scheint bloß noch eine religionssoziologische Auflösung des Kirchenbegriffs konstatierbar zu sein.

Jenseits dieser Alternative argumentierend kommt der Marburger Dissertation das Verdienst zu, konzentriert und im Zusammenhang der Frage nachzugehen, wie sich bei Troeltsch die historisch-soziologische Außensicht mit der religiös-theologischen Innensicht zu einer Theorie der Kirche in praktischer Absicht verbindet und welche Bedeutung seine Konzeption für eine gegenwärtige "kritische Theorie des volkskirchlichen Geschehens" (26) besitzt. Nach drei kurzen Abschnitten zur ekklesiologischen und praktisch-theologischen Rezeption Troeltschs (II), zu der in seinen Arbeiten vorausgesetzten und geleisteten Zeitdiagnose (III) und zum theoretischen Problemhorizont seiner Kirchentheorie (IV) behandelt der Vf. in den drei zentralen Kapiteln zunächst Troeltschs ,Soziologie des Christentums auf historischer Grundlage' (V), sodann ,Systematische Aspekte einer Theorie des Christentums und der Kirche in der Neuzeit' (VI), um anschließend ,Elemente einer praktischen Ekklesiologie' (VII) zu erheben.

Auf Grund der gewählten Methode - einer immanenten Werkinterpretation der einschlägigen Schriften aus der Heidelberger Zeit - geraten Seitenblicke auf das intellektuelle und theoretische Umfeld der Arbeiten Troeltschs weitgehend in die Fußnoten. Doch werden z.B. plausible Gründe gegen die Annahme einer einseitigen Abhängigkeit von Max Weber geltend gemacht, was sich unter anderem an Troeltschs eigenständigem, nämlich deskriptiv und normativ gefaßtem Begriff des Idealtypus erweist. Kap. VI führt denn auch in erhellender Weise vor, daß die berühmte Kirche-Sekte-Mystik-Typologie nicht organisationstheoretisch verkürzt gelesen werden darf, sondern als "Versuch einer Formgeschichte und Systematik religiöser Vergesellschaftung" zu interpretieren ist, "in der neben spezifisch organisatorischen Merkmalen die Art der Gemeinschaftsbildung und -bindung, die Beteiligungsformen der Individuen und deren Frömmigkeitspraxis sowie die verschiedenen Modi der Traditionsvermittlung und -beziehung differenziert zur Geltung gebracht werden sollen" (107). Anhand der Erweiterung des Kirche-Sekte-Duals durch den Typus der "Mystik" arbeitet der Vf. heraus, daß sich mit der Akzentuierung des mystisch-spiritualistischen Typus nicht nur das soziologische Interesse verbindet, den modernen Individualisierungsprozeß auch im Binnenraum des Christentums auszumachen (102). Vielmehr ordne Troeltsch der "Mystik" durchaus ein theologisch reflektiertes soziales Leitbild zu, nämlich eine kommunikativ verfaßte, in freier religiöser Mitteilung und Aneignung begriffene Gemeinschaft von Individuen, für die Schleiermachers Kirchenbegriff Pate stehe.

Kap. VII ist Troeltschs kirchenpolitischen und -reformerischen Interventionen gewidmet. Diese plädieren - so wird gezeigt - nach innen für ein Vermittlungsmodell, das alle drei idealtypischen Lebensformen des Christentums im Konzept einer offenen, durch statutarische Bekenntnisse ungebundenen Volkskirche integriert und das zwischen Durchsetzung und Begrenzung des religiösen Individualismus eine pragmatische Mitte hält. Die hier einschlägigen Beiträge Troeltschs treten nach außen dafür ein, den unumkehrbaren Prozeß der institutionellen Entflechtung von Kirche und Staat als Herausforderung für ein neues kulturelles Bündnis von Religion und Gesellschaft zu verstehen - wofür paradigmatisch seine (höchst aktuellen) Stellungnahmen zur zeitgenössischen Debatte um den schulischen Religionsunterricht ausgewertet werden (154 ff.).

Troeltschs Konzeption wird in einem Schlußkapitel des Buches (VIII) mit der neueren praktisch-theologischen Grundsatzdebatte in Kontakt gebracht. Der Gewinn, der aus seiner Lektüre zu ziehen ist, beschränkt sich aber keineswegs auf diese theologische Teildisziplin. Dies gilt auch dann, wenn man den Orientierungswert des eher diffusen Begriffs "Volkskirche" zurückhaltender einschätzt als die angezeigte Arbeit. Der Zugang "ad vocem Troeltsch" schließlich, den der Vf. einer überlieferten Maxime Walter Benjamins gemäß (9) eröffnen möchte, wäre durch regelmäßige Zusatzverweise auf die in Band II und IV der ,Gesammelten Schriften' aufgenommenen Texte erleichtert worden.