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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

596–598

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Überweg

Titel/Untertitel:

Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Bde. 4,1 u. 4,2: Die hellenistische Philosophie. Von M. Erler, H. Flashar, G. Gawlick, W. Görler, P. Steinmetz, hrsg. von H. Flashar.

Verlag:

Basel: Schwabe 1994. XXVII, 490 S. u. VII, S. 491-1272. gr.8°. Lw. DM 248,-. ISBN 3-7965-0930-4.

Rezensent:

Günther Keil

Nach dem Band 3 (Ältere Akademie - Aristoteles - Peripatos) ist nun ein weiterer Band von Überwegs "Grundriß der Ge-schichte der Philosophie: Die Philosophie der Antike" erschienen. Er behandelt die Philosophie nach Aristoteles "ungefähr vom Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) bis zum Untergang des Ptolemäerreiches in Ägypten (30 v. Chr.)" (3). Man kann über diese Abgrenzung streiten: Einerseits zeigt sie sehr gut den Wandel der Einstellung innerhalb der antiken Philosophie von einer vornehmlich pragmatisch-ethischen Fragerichtung zu einer stark religiös geprägten in der darauffolgenden Epoche auf, andererseits zerreißt sie Schulzusammenhänge wie z. B. den der Stoa, indem sie die frühe und mittlere von der späten Stoa trennt. So hat also die Abgrenzung dieses Bandes auch ihren guten Grund. Hellmut Flashar hat wiederum die Herausgeberschaft und Betreuung dieses Bandes (wie schon des Bandes 3) übernommen, aber er hat weithin (mit Ausnahme der Einleitung) anderen Autoren die Feder überlassen.

Dem traditionellen Titel des Überweg "Grundriß der Ge-schichte der Philosophie" zum Trotz handelt es sich in Wirklichkeit um eine Philosophiegeschichte, die ausführlicher und umfangreicher kaum sein kann. Es wird fast nichts ausgelassen, was sich aus dieser Epoche an philosophisch relevanten Fragmenten samt ihrer kritischen Sichtung und ihrer Sekundärliteratur findet. Selbst auf Philosophenbildnisse wird eingegangen! Man wird kaum etwas finden, was man vermißt. In diesem Sinne wird wahrscheinlich dieses monumentale Werk einmal zur ausführlichsten und gründlichsten deutschsprachigen Philosophiegeschichte werden, wenn es über die beiden bisher erschienen Bände hinaus fertiggestellt sein wird (wann wird das sein?). Daß dabei auf weiten Strecken rein philologische Arbeit geleistet wird, liegt in der Anlage des Werkes. Doch wird das philologisch gesichtete Material auch philosophisch durchdacht und durchdrungen dargeboten. Auch hierin wird das Werk den verschiedenen Aspekten, die man von einer sehr ausführlichen Philosophiegeschichte erwartet, gerecht.

Das erste Kap. gilt Epikur (29-202). Das zweite beschäftigt sich mit der Schule Epikurs (Metrodor, Polyainos, Hermarch, Kolotes, Karneiskos, Idomeneus, Polystrat, Philonides, Demetrios Lakon, Zenon aus Sidon, Phaidros, Siron, Asklepiades aus Bithynien, Basilides und Thespis). Dazu kommen Dissidenten, vor allem aber auch Philodem aus Gadara, dem ein längerer eigener Abschnitt (289-362) gewidmet wird. Ein kurzer Abschnitt gedenkt sogar der Frauen aus dem Kepos (287-288), wenn es sich dabei auch zum Teil um Hetären handelt. Das dritte Kap. schließlich behandelt Lukrez (381-490). Diese drei Kap. hat Michael Erler bearbeitet.

Die Darstellung der jeweiligen philosophischen Lehren ist zwar durch viel Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur etwas umständlich (was aber wohl von einem solchen umfangreichen und ins Detail gehenden Werk nicht anders zu erwarten ist), zeichnet sich aber dadurch aus, daß die Einzelheiten aus dem Kern der Lehre und ihren Zusammenhängen heraus gut entwickelt werden. Daß man etwas vermißt, bleibt eine Ausnahme ("Epikur unterscheidet in ,De natura'... mehrere Arten von Erkenntnis..." (136), die man in einer so ausführlichen Philosophiegeschichte gern näher erörtert haben möchte). Epikurs Philosophie wird in ihrem Grundsatz gekennzeichnet: "Epikur ist als ,empirischer Fundamentalist' bezeichnet worden... In der Tat vertritt Epikur einen konsequent atomistisch-sensualistischen Standpunkt...". (126)

Das vierte Kap. (bereits im zweiten Halbband) beschäftigt sich dann mit der Stoa (491-716). Zunächst gilt die Darstellung der älteren Stoa, allen voran ihrem Gründer Zenon aus Kition (518-554), dann werden Schüler Zenons (Persaios aus Kition, Philonides Theben, Dionysios aus Herakleia, Ariston aus Chios, Herillos aus Kalchedon, Kleanthes und Sphairos) (555-583) vorgestellt, schließlich werden ausführlich Chrysipp aus Soloi und dessen Schüler und Nachfolger abgehandelt (584-645). Nun folgt die mittlere Stoa. Nach ihren Hauptvertretern Panaitios aus Rhodos (und seinen Schülern) (646-669) und Poseidonios aus Apameia (670-705) werden noch die Entwicklung der Stoa bis zur zweiten Hälfte des 1. Jh.s v. Chr. bearbeitet. Dieses Kap. über die Stoa schrieb Peter Steinmetz.

Die Darstellung der Lehre schon Zenons selbst scheint uns aus einer weit größeren Distanzierung zu ihr geschrieben worden zu sein als etwa Erlers Darstellung der Lehre Epikurs; so werden z. B. Widersprüche bei Zenon geradezu gesucht. So gleich zu Beginn der Doxographie: "Sie" (die Schriften Zenons) "sind aber auf ein System hin angelegt, jedoch nicht soweit aufeinander abgestimmt, daß keine Widersprüche zwischen ihnen stehengeblieben wären" (525). Das ist nun weiter kein Schade, aber wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß die Gedanken auch der mittleren Stoa zwar ausführlich entwickelt, aber nicht in ihrem zwingenden inneren Zusammenhang dargestellt worden sind.

Auch scheinen Überinterpretationen nicht immer vermieden worden zu sein (z. B. "Über die Untersuchungen des Poseidonios zur Logik und zu ihren Teilgebieten sind nur wenige Nachrichten aus der Antike erhalten. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, Poseidonios habe die Logik vernachlässigt" [684]; woher weiß das aber der Vf. bei dieser Quellenlage so apodiktisch?). Dennoch handelt es sich zweifellos um eine solide, gründliche Arbeit. Das Grundanliegen der Stoa wird vom Vf. so beschrieben: "Auch die stoische Philosophie ist bei aller theoretischen und dialektischen Grundlegung und Durchdringung in starkem Maße darauf ausgerichtet, in den unruhigen und durch raschen Wechsel charakterisierten Zeitläufen... dem entwurzelten, isolierten und hilflos dem Walten des blinden Zufalls... sich ausgesetzt fühlenden Menschen den Weg zum rechten Leben und damit zum Glück... zu weisen" (496).

Das fünfte Kap. ist überschrieben: "Älterer Pyrrhonismus. Jüngere Akademie. Antiochos aus Askalon" (717-990). Behandelt werden Pyrrhon aus Elis, dessen Schüler, vor allem Timon aus Phleius, dann aus der jüngeren Akademie Arkesilaos, Lakydes und seine Nachfolger, Karneades und die Akademie zwischen Karneades und Philon, dann Philon aus Larissa selbst und Antiochus aus Askalon und seine Schüler. Dieses fünfte Kap. schrieb Woldemar Görler. Mit dem sechsten Kap., das Cicero gilt (991-1168), schließt dann der Band. Es stammt teils aus der Feder von Günter Gawlick, teils von Woldemar Görler.

Wieder macht das starke Interesse am Philologischen die Darstellung breit und umständlich, aber sie ist dennoch auch philosophisch gut durchdrungen und durchdacht. Die Rekonstruktionsversuche, die bei Pyrrhon und der jüngeren Akademie aus der Quellenlage heraus unumgänglich sind, erscheinen überzeugend, auch wenn es dabei naturgemäß ohne eventuelle Überinterpretationen nicht abgehen kann. Andererseits ist der Vf. mit seinen Interpretationen sehr vorsichtig, was eine aus Karneades zufällig herausgegriffene Stelle beweisen mag: "Keiner dieser Deutungen findet einen Anhalt in den Texten. ...mehr spricht jedoch dafür, daß Karneades weniger streng gedacht hat, als manche seiner modernen Interpreten..." (874). So hat der Vf., was er sich vorgenommen hat, auch durchgeführt: "Dem vornehmlich an ,gesicherter Lehre' interessierten Leser wird damit viel Geduld abverlangt, auch einiges an Enttäuschung zugemutet, denn nur wenig ist wirklich ,gesichert'. Aber es wird durchweg versucht, ihn vor Täuschung zu bewahren" (723).

So liegt nun der zweite die Antike betreffende Band dieser breit angelegten Philosophiegeschichte mit philologischem Akzent, aber nicht ohne Berücksichtigung der spezifisch philosophischen Interessen vor. Hoffentlich kann in nicht allzu langer Zeit das Ganze abgeschlossen sein. Das Werk dürfte sich ausgezeichnet zu eindringenden Studien eignen, besonders weil kaum einer die Quellen selbst, die zumeist nur in verstreuten Fragmenten vorliegen, genau kennen kann. Deshalb kann auch dieser Band des Überweg für intensive philosophiehistorische Studien nur empfohlen werden.