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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

836–838

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Söling, Caspar

Titel/Untertitel:

Das Gehirn-Seele-Problem. Neurobiologie und theologische Anthropologie.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1995. XIII, 329 S. gr.8. Kart. DM 78,-. ISBN 3-506-78586-9.

Rezensent:

Ulrich Eibach

Die Arbeit wurde als Dissertation an der Kath.-Theologische Fakultät der Universität Münster angenommen. Die Neurobiologie ist zum internationalen Forschungsschwerpunkt erhoben worden. Sie schickt sich an, das durch die Jahrhunderte hindurch von Philosophen und Theologen erörterte und bisher unlösbare Leib-Seele-Problem einer naturwissenschaftlichen Klärung zuzuführen. Dabei kommt es, wie schon bei Descartes, zur Verlagerung des Leib-Seele- auf das Gehirn-Bewußtsein-Problem. Die Frage, wie Bewußtsein entsteht, wird dabei zur theoretischen Schlüsselfrage.

Söling stellt die wesentlichen neueren Theorien von Neurophysiologen zum Gehirn-Geist-Problem dar, zunächst den "panprotopsychistischen Identismus" des Biologen Bernhard Rensch (88 ff.). Rensch geht davon aus, daß allen physischen Prozessen, auch denen in der unbelebten Materie, protopsychische Prozesse innewohnen. Danach scheint das ",Psychische' in all seinen Fa-cetten... eine Spielart des ,Materiellen' bzw. umgekehrt zu sein" (97), so daß in der Phylogenie mit immer komplexeren materiellen Systemen auch komplexere psychische Leistungen, zuletzt das Bewußtsein, entstehen (emergistischer Monismus), der Geist aber auch mit dem Zerfall des individuellen Systems vergeht. Sehr kritisch behandelt S. den von katholischen Theologen meist positiv rezipierten "dualistischen Interaktionismus" des Nobelpreisträgers John Eccles (100 ff.), der von einer ontologischen Unabhängigkeit der Geistseele vom Gehirn ausgeht.

Unter Berufung auf den Indeterminismus der Quantenmechanik betont Eccles, daß der Geist gegenüber der Materie (Gehirn) frei ist und diese bestimmen kann. Im Gegensatz zu Eccles vertritt der Nobelpreisträger Robert Sperry (114ff.) einen monistischen Interaktionismus, wonach der Geist eine emergente Systemeigenschaft der Materie sei, sich "Bewußtsein als Leistung des Gehirns", aber "nicht durch die Eigenschaften seiner Bestandteile erklären läßt" (115), es also etwas Neues gegen-über den Einzelvorgängen des Gehirns darstellt, aber dennoch - im Gegensatz zur Sicht Eccles - keinen eigenen ontologischen Status habe, also auch mit dem Tod des Gehirns verlorengeht (117). Ebenso wie bei Rensch bleibt bei Sperry der Begriff "Emergenz des Bewußtseins" unklar. S. sieht in der vor allem von Biologen wie Gerald M. Edelman vertretenen systemischen und informationstheoretischen Sicht die weiterführenden Ansätze (128 ff.). Edelman will Freuds Anliegen, die Psychologie in Neurophysiologie zu überführen, vollenden.

Bewußtsein ist für ihn das Endprodukt der Phylo- und Ontogenese eines mit der Umwelt in Wechselbeziehungen stehenden informationsverarbeitenden Systems, das Bewußtsein (Ge-dächtnis, Lernen usw.) und Geist durch die selektierte und ge-zielte Verarbeitung von Informationen von selbst hervorbringt (Selbstorganisation). Bewußtsein und Geist sind also nach diesem "neuralen Darwinismus" Anpassungsstrategien des Sy-stems Gehirn zum Zweck der Optimierung des Überlebens des Organismus. Danach besteht der "entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier... in der Fähigkeit des Menschen zu kommuniziertem Lernen", was die "adaptive Nachahmung von Werten und die Konvention über Werte" unter Menschen voraussetzt (141). Bei dieser Informationsverarbeitung ist das Ge-hirn nicht determiniert, sondern reagiert mit höherer Entwicklung immer flexibler und eigenständiger auf die Umwelt, was die Freiheit des Geistes ausmacht.

S. unternimmt dann eine wissenschaftstheoretisch kritische Sichtung der von ihm dargestellten Ansätze, betont zu Recht, daß das "Wie" der von monistischen Ansätzen behaupteten "Emergenz" des Bewußtseins aus Gerhirnprozessen ungeklärt bleibt (144, 147), daß viele Aspekte des Seele-Problems dabei ausgeblendet werden (z. B. subjektive Erleben), diese Ansätze daher methodisch "seelenblind" seien (152), daß der Mensch sich nicht dadurch vollständig erfassen und beschreiben könne, daß das "Gehirn" seine eigenen Leistungen beschreibt (Gödelsche Theorem). Dennoch sieht er in dualistischen Theorien (J. Eccles u. a.) keine weiterführenden Ansätze, sondern nur in der Ausweitung der Basis der Systemtheorie (ohne den Reduktionismus von Edelman u. a.). Eine solche Systemtheorie biete sich als Synthese der verschiedenen Ansätze an (147).

Im theologischen Teil stellt S. die Sicht des Leib-Seele-Problems bei P. Teilhard de Chardin, Karl Rahner und Joseph Ratzinger dar. Er meint, daß Theologen die Pflicht haben, "zu den Naturwissenschaften kompatible Deutungen von Welt und Kosmos vorzunehmen" (234), also auch ihre Aussagen über die Seele mit den Theorien der Neurophysiologen kompatibel zu gestalten. Entsprechend fragt er, wie die genannten Theologen diesem Anspruch gerecht werden. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Erkenntnisse der Naturwissenschaften Basis und Maßstab des theologisch sinnvoll Aussagbaren sind. "Das größte Problem besteht (dabei) darin, Bewußtsein und Materie in Einklang zu bringen und ferner eine Perspektive über den Tod hinaus zu geben, die in der Theologie die ,Unsterblichkeit der Seele' genannt wird" (234).

Eine "Synthese naturwissenschaftlicher und theologischer Erkenntnis" hält S. nur auf der Basis der Systemtheorie für möglich, genauer, der "Selbstorganisation" von biologischen Systemen, also der Hervorbringung (Emergenz) "neuer Eigenschaften, die sich nicht aus den Elementen des Vorhergehenden ableiten lassen" (238). Selbstorganisation ist dabei der Fremdorganisation entgegengesetzt (243 f.), wie sie in dualistischen Systemen vorausgesetzt wird, in denen die Seele (bzw. der Geist) den Körper (bzw. das Gehirn) formt (oder umgekehrt). Die Seele muß mithin als Systemeigenschaft verstanden werden, die das System (entweder nur das Gehirn oder der ganze Organismus) aus sich selbst hervorbringt. Im systemtheoretischen Ansatz könne der scheinbare Widerspruch zwischen Ma-terie und Geist überwunden werden (257). Die Fähigkeit eines Systems zur Selbstorganisation sei zugleich Fähigkeit zur "Selbsttranszendenz", also "die Fähigkeit eines Seienden zu einer freien Dynamik, die über sich selbst hinausgeht". Von diesem Ansatz aus stellt S. eine Beziehung zu K. Rahners Verständnis von Gott als Grund alles Seins her. Entsprechend ist die Seele als "Gottesrelation" zu verstehen, die zu "Gott als Grund in Beziehung steht (259).

Im Unterschied zu allen anderen "Subsystemen" des Gesamtsystems (Kosmos) kann sich das Subsystem "Mensch" zu Gott als dem "Grund aller Systemhaftigkeit", also zu seinem eigenen Grund verhalten (260). Diese bewußte Gottesrelation wird al-lerdings durch die "Systembedingungen des Körpers bzw. des Gehirns konstruiert", organisiert; sie kommt ihm nicht von außen als "Fremdorganisation" zu. Unsterblichkeit der Seele soll dann "die fortbestehende Relation zwischen dem Subsystem Mensch und Gott als einem Grund" sein (261). Die endgültige Vollendung des Menschen soll als endgültige "Vernetzung" zwischen Gott und Mensch, Gott und Kosmos, mit Teilhard de Chardin als "Apotheose der Materie" verstanden werden, in der der einzelne als einzelner "aufgehoben" sein und nicht untergehen soll.

Diese Behauptung ergibt sich schwerlich aus der Systemtheorie, da die einzelnen Subsysteme im Gesamtsystem wirklich nur radikal vergängliche Größen sein können. Das Problem der "Unsterblichkeit der Einzelseele" läßt sich auf diese Weise wenigstens nicht lösen. Das System selbst garantiert durch seine Selbstorganisation nicht "Unsterblichkeit", sondern Sterblichkeit, die Basis der immer neuen Selbstorganisation des Systems ist. Mithin kann Unsterblichkeit nicht aus dem System selbst, sondern nur durch eine "Fremdorganisation" kommen, durch Gott, der zwar ontologischer Grund des Systems, aber nicht Teil des Systems ist, sondern sein "Schöpfer", und der insofern auch den innersystemisch notwendigen Tod besiegen kann.

Der Versuch des Autors, das Gehirn-Seele-Problem auf der Basis der Systemtheorie zu lösen und die theologische Seelenlehre mit diesem Ansatz kompatibel zu machen, paßt nicht nur das Seelenverständnis, sondern auch das Gottesverständnis in die Systemtheorie ein. Auch auf S.s Versuch, das bisher ungelöste Leib-Seele-Problem zu lösen, trifft die von ihm zitierte Aussage des Neurophysiologen O. Creutzfeld zu (81), daß "sie nichts wesentlich Neues zur Problemlösung beiträgt", wohl aber etwas über den Denkhorizont des Autors aussagt und über sein Bemühen, die theologische Anthropologie mit der Neurobiologie ins Gespräch zu bringen, allerdings doch um den Preis, daß sie - als ein letztlich überflüssiger Zusatz - in der neurobiologischen Systemtheorie auf- und untergeht.