Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

481–484

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Popper, Karl R.

Titel/Untertitel:

Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Teilbd. I: Vermutungen.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. XIII, 369 S. gr.8o = Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 86. Kart. DM 49,-. ISBN 3-16-944809-9.

Rezensent:

Hermann Deuser

Mit größtem Understatement muß gesagt werden: Dieser Band ist lesenswert! Und das gerade auch im Blick auf die deutsche Theologiegeschichte dieses Jh.s. Die hier im ersten Band der Vermutungen und Widerlegungen gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftstheorie stammen im einzelnen aus den Jahren 1946 bis 1960, wurden 1963 unter dem Originaltitel Conjec-tures and Refutations publiziert - und erst jetzt ins Deutsche übersetzt (von Gretl Albert, Melitta Mew, Karl R. Popper, Georg Siebeck). Natürlich war Sir Karl Popper (*1902 in Wien, 1994 in London) seit seiner Logik der Forschung (1934) im Umfeld der positivistischen Theoriedebatten in der ersten Hälfte des Jh.s und dann vor allem seit Ende der sechziger Jahre im bekenntnisartig geführten Positivismustreit in der deutschen Soziologie (1968) durchaus geachtet und bekannt, aber sein Methodenbegriff der Wissenschaftsauffassung hat jedenfalls in Deutschland, in Theologie und Religionsphilosophie, kaum Schule machen können. Denn Popper ist - metaphysisch gesehen - geradezu kämpferisch antiautoritär (das betrifft die theologische Dogmatik ebenso wie Wesensbegriffe in der Religionstheorie), und er ist auf der anderen Seite, der empiristischen Wissenschaftstradition, überraschend dezidiert gerade kein Positivist. Letzteres überraschend zu finden, setzt aber bereits das typische Denkschema der vergangenen 50 Jahre voraus, während Popper selbst schon sehr früh gerade diese falschen Alternativen im Wissenschaftsbegriff durchschaut und verlassen hat. Was wäre gewesen, wenn die faktische Nähe im Begriff der Kritik zwischen Popper und Adorno 1969 in der politischen wie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nicht mißverstanden und verzerrt, sondern verstanden und konstruktiv bearbeitet worden wäre - anstatt auf der einen Seite (der Kritischen Theorie) eine gesellschaftstheoretisch begründete Fundamentalkritik zu einer schwer kontrollierbaren Praxis zwingen zu wollen, deren Gegner dann allesamt und pauschal als "Positivisten" erscheinen mußten, und auf der anderen Seite (des Kritischen Rationalismus) Engagement, Existentialität und Lebenswelt generell als unwissenschaftlich zu verdächtigen und in reflektierender Distanz dem schnellen Ideologieverdacht zu überlassen?

Auf die Frage nach der Wahrheit gibt Popper zur Antwort, "daß es unsere Pflicht ist, uns der Wahrheit unterzuordnen; und daß die Wahrheit über jeder menschlichen Autorität steht" (so im Einleitungsbeitrag der Vermutungen, a.a.O. 44, einem Aufsatz aus dem Jahr 1960, Von den Quellen unseres Wissens und unserer Unwissenheit). Sicherlich, das ist in Ton und Geste viel zurückhaltender und klingt im naturwissenschaftlichen Kontext Poppers anders als der "emphatische Begriff der Wahrheit", wie ihn Adorno zur selben Zeit von einer Wissenschaft forderte, die diesen Begriff noch verdiente. Doch die Differenz verliert an Schärfe, bedenkt man, daß es beiden Seiten um die Übergänge zwischen wissenschaftlicher Methode und geschichtlicher Wirkung zu tun ist; der leidenschaftliche Zugriff ist jeweils sehr eigen, gemeinsam aber der Wille, den gesellschaftlichen und po-litischen Lügen die wissenschaftliche Legitimation zu entziehen.

Weil nach 1969 aber die falschen Alternativen dominierten, ist jedenfalls Popper neu zu entdecken. Nach seiner - in der Logik der Forschung im Detail erarbeiteten und in den Vermutungen immer thesenartig und exemplarisch wiederholten - Auffassung ist der Wissenschaftsbegriff methodisch allein so zu fassen, daß seine Begründung weder rationalistisch (Beispiel: Descartes) auf die Autorität letzter Einsichten noch empiristisch (Beispiel: F. Bacon) auf erste Beobachtungsdaten zurückgreifen kann. Jede positive Bestätigung (Verifikation) einer Theorie bleibt so oder so problematisch, weil sie immer schon im Kontext von Erwartungen, d.h. von Theorien vorgenommen wird und auch gar nicht anders vorgenommen werden kann. Poppers Korrektur der bisherigen Erkenntnistheorien ist deshalb so einschneidend, weil seine Favorisierung der Falsifikation nicht einfach eine Umkehrung des Verfahrens der Verfikation darstellt, sondern einen völlig neuen Orientierungshorizont im Blick auf Wissenschaft absteckt: Wir haben zuerst nichts als hypothetische Erwartungen (Vermutungen), und je exakter diese dann formuliert werden, desto präziser kann es zu Widerlegungen kommen - und darin allein besteht der Triumph der Induktion, genau diese indirekte und methodische Verbesserung der Vermutungen immer wieder neu ins Spiel zu bringen. Mehr ist von Wissenschaft berechtigter- und glücklicherweise nicht zu erwarten!

Oder doch? Denn dieser Wissenschaftsbegriff (der bewußten und kontrollierten Beschränkung auf die Methode der Falsifikation) hat politische und gesellschaftliche Folgen: Wahrheit ist nicht zu haben, sondern immer wieder zu suchen; Toleranz ist geboten, nicht nur, weil alle Menschen faktisch irren können, sondern weil die Überprüfung von Irrtümern das Beste ist, was von menschlichem Bemühen gesagt werden kann und menschlichem Zusammenleben überhaupt Verheißung gibt. Allein das Methodenbewußtsein der Falsifikation sichert vor erstarrtem Dogmatismus, der die Welt in sein Schema pressen will und dem wissenschaftlichen Geist spottet.

Popper bleibt aktuell, sofern sein Methodenbegriff der Wissenschaft im Vordergrund steht. Die vorliegende Edition der Vermutungen - und sie ist mit ihren neuen Anmerkungen und Querverweisen zum übrigen Werk wie eine Ausgabe letzter Hand! - belegt immer wieder das Selbstbewußtsein des Autors, eben diese bescheidene Stellung der Wissenschaft bereits sehr früh entdeckt und dann überzeugend auch formuliert zu haben. Daß diese Entdeckung auf dem Niveau der modernen Logik, Mathematik und Physik aber weitgehend ohne die Kenntnis und das Gespräch mit den schon vorausliegenden Kosmologien kongenialer Theorieentwürfe von Ch. S. Peirce und A. N. Whitehead auskommen muß, signalisiert eine zweite ungenutzte Chance der Wissenschaftsverständigung dieses Jh.s. Poppers Falsifikation als Wissenschaftsprinzip wurde unter dem Begriff des Fallibilismus seit den 90er Jahren des 19. Jh.s von Peirce entwickelt, dies aber ist bis zur Mitte dieses Jh.s faktisch nicht bekannt geworden. Seit 1960 (im letzten Beitrag des vorliegenden Bandes) nennt Popper auch Peirce und spricht von "Falsifikationisten oder Fallibilisten" (332).

Doch es geht nicht nur um den wissenschaftshistorischen Aspekt, den Vorgänger nicht gekannt zu haben, sondern entscheidend darum, ob Poppers trotz aller Sprengung der positivistischen Restriktionen festgehaltene Abwehr der zuletzt doch als unwissenschaftlich geltenden Metaphysik nach seiner eigenen Wissenschaftsauffassung wirklich begründet ist. Peirce' Fallibilismus und Induktionstheorie stehen Popper derart nahe, daß es verwundert oder tragisch erscheinen muß, warum hier der wissenschaftssystematisch konsequente nächste Schritt nicht getan wurde. Ich erläutere dies im Blick auf kosmologische, metaphysische und religionsphilosophische Fragen an den folgenden Beispielen:

1. Popper verteidigt vehement (z.B. gegen den frühen Wittgenstein) die aus den Naturwissenschaften (immer wieder am Beispiel der Vorsokratiker und Platons, aber ebenso auch am Beispiel Kants) stammenden Sachprobleme der Philosophie. Da ist es nur ein kleiner Schritt, von der geschichtlichen Wirksamkeit der Prüfungsmittel der Induktion und Deduktion ausgehend, nach ihren realen Verankerungen im Prozeß der Evolution zu fragen, kurz: nach einer Kosmologie auf dem Stand der Einsichten des Fallibilismus. Genügt es da wirklich, sich auf die Wahrheit als "regulatives Prinzip/regulative Idee" (329, 359) zu berufen, wenn die Probleme der Philosophie samt ihrer schrittweisen Lösungen als real gelten sollen?

2. Poppers Begriff der Vermutung, die risikoreich Neues entdeckt, das dann der Prüfung auszusetzen ist, widerspricht dem naturwissenschaftlich üblichen Glauben an die Induktion und zeigt die wirkliche Kraft dessen, was Peirce mit dem divinatorischen Instinkt der Abduktion formuliert hat. In Poppers Worten: Wir machen "den Sprung zu Konklusionen" (66) aufgrund "angeborener Verhaltensweisen" und ",instinktiver' Erwartung" (68). Gegen Hume muß deshalb gesagt werden, daß diese Art der Hypothesenbildung eben nicht irrational, sondern methodisch notwendig ist (74 f.). - Wenn das aber so ist, warum muß im kämpferischen Ton der positivistischen Debatten noch an der Abwehr von Gewißheitsbildungen (Glauben) als bloß psychologischer Zustandsbeschreibungen festgehalten werden (332), anstatt - wiederum - die reale und logisch gesehen konstitutive Funktion solcher Gewißheits- und Hypothesenbildung zu erkennen, die die deduktive und induktive Prüfung gerade nicht ausschließt? Poppers Vernachlässigung des religiösen Glaubens, d.h. die Verrechnung z.B. Luthers als einer Standpunktphilosophie verifikationistischer Wahrheitsoffenbarung (22), erscheint auf dem Hintergrund (instinktiv) notwendiger Hypothesenbildung nicht zwingend und nicht mehr überzeugend.

3. Popper verteidigt den Fortschritt der Wissenschaft, nicht die Kumulation von Wissen (312), auch nicht blanken Geschichtsoptimismus, aber die kontrollierende Verbesserung, "näher an die Wahrheit heran[zu]kommen" (337). Wird die Wissenschaft essentialistisch überhöht oder instrumentalistisch reduziert - das kann Popper sehr überzeugend demonstrieren (Kap. 3) -, so verliert sie die ihr eigentümliche Kraft der methodischen Selbstkontrolle. Schade nur, daß Popper den Pragmatismus, wie in der kontinentalen Philosophie dieses Jh.s üblich, als eine Spielform des Instrumentalismus verstanden hat (323). Es wäre sonst möglich geworden, die auf denkbare Handlungen bezogene Selbstkontrolle mit den in ihr vorausgesetzten und praktizierten Universalien (174) zusammenzudenken. Es ist die im wissenschaftlichen Verfahren von Vermutung und Widerlegung zum Zuge kommende Realität von Regelmäßigkeiten und spontanen Entdeckungen, die philosophisch bei Popper im Grunde verteidigt, aber niemals versucht wird, auf einen eigenen Begriff zu bringen. Hier liegt das Defizit, keinen neu zu bestimmenden Begriff von Metaphysik bezüglich der (nicht-empirischen) Realität von methodisch wirksamen Allgemeinbegriffen konzipieren zu wollen. An diesem Punkt sperrt sich Popper gegen die Konsequenzen seiner eigenen Wissenschaftssystematik und bleibt stattdessen bei einem Begriff von unwissenschaftlich = metaphysisch; z.B. expliziert an der eklatant falschen, aber doch (in Poppers Augen) unwiderlegbaren Positivität von Existenzsätzen über die "Erscheinung des Teufels" (363).

4. "Für den Naturwissenschaftler ist die Spezialisierung eine Versuchung; für den Philosophen ist sie eine Todsünde" (199); für die Theologie, so möchte ich hinzufügen, ein Widerspruch in sich! Das aber setzt - im Sinne von Poppers Konzeption von Philosophie als Wahrheitssuche - die reale Kontinuität der Wissenschaften auch mit den Bereichen des Lebens (oberhalb und unterhalb der gedachten Abgrenzungslinie des Wissenschaftlichen) voraus, die offenbar nicht zur Wissenschaft gehören wollen, können oder dürfen. Wenn hier keine künstlichen Barrieren errichtet werden sollen (und Popper hat dazu eigentlich gar keinen Anlaß), welchen Sinn macht es dann noch, "philosophische Theorien" als "metaphysisch" bzw. "unwiderlegbar" abzuwerten und von "logisch-mathematischen" und "empirisch-wissenschaftlichen" auszugrenzen (286 f.)?

Darin bleibt bis zuletzt der Eifer alter Diskussionen zwischen methodischer Wissenschaft auf der einen Seite und dogmatischer Metaphysik auf der anderen zu spüren. Popper hat für die erste Auffassung, wie er es zu einem Aspekt seiner Wahrscheinlichkeitstheorie ausgedrückt hat, "ununterbrochen gepredigt" (317)! Immer als Folge der frühen Entdeckungen in der Logik der Forschung. Insofern sind die hier vorliegenden Aufsätze auch wie ein - überwiegend populär gefaßter - Kommentar zu dem berühmten Vorgänger von 1934 und dessen seitdem unermüdlichen Zusatzkapiteln (bis 1994) zu lesen. Thematische Wiederholungen gehören deshalb zu diesem Band der Vermutungen ebenso wie der immer präzise, in den Beispielen manchmal humorige, im besten Sinne angelsächsische Stil dieses Predigers der Wissenschaft als Methode von Versuch und Irrtum. Da bleibt nur noch anzumerken, daß dieses Fortschritts- und Methodenbewußtsein auch schon eine alte scholastische Weisheit gewesen ist: "Dicebat Bernardus Carnutensis nos esse quasi nanos, gigantium humeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantium" (Johannes von Salisbury, Metalogicus l. 3, c. 4 [MPL 900]; vgl. M. Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode II, [1911] 1961, 440).