Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

592–596

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Marquard, Odo

Titel/Untertitel:

Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen.

Verlag:

München: Wilhelm Fink Verlag 1995. 158 S. 8°. Kart. DM 28,-. ISBN 3-7705-3065-9.

Rezensent:

Philipp Stoellger

Nichts Neues, leider, sondern die üblich gewordene Wiederkehr des Gleichen, das schon andernorts zu lesen war, bietet Marquard in seinem neuen Aufsatzband, der dennoch in dieser unspektakulären Unvollkommenheit glücklich zusammengestellt ist. Statt sich selber die verstreuten, manchesmal mehr versteckten als veröffentlichten Brosamen zusammenzusuchen, hat man hier eine Auswahl der Einfälle aus den Jahren 1978-1994 versammelt - konsequent nach der auch editorisch geltenden Devise: ",Alles oder Nichts'" sei für den Menschen "keine praktikable Devise: Das Menschliche liegt dazwischen, das Wahre ist das Halbe" (9). Wenn man schon auf den ganzen Marquard verzichten muß, hat man hier wenigstens den halben dieser Jahre; aber wie bei Gedichtsammlungen so bei Aufsatzbänden macht die Komposition die Melodie. Das durchgängige Leitmotiv der neun Aufsätze ist unüberhörbar ,die halbe Wahrheit': das "Glück im Unglück" mit dem Akzent auf der "Verteidigung des Unvollkommenen" (9), das er im ersten wie im letzten Text explizit entfaltet: "Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie" (11-38) und "Der Mensch ,diesseits der Utopie'. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen Anthropologie" (142-155) schreiten den Horizont ab, in den eigens die Entwicklung des Autors einzuzeichnen wäre. Im Hintergrund klingt dabei stets das Credo des im Laufe der Jahre vom Geschichtsphilosophen zum Anthropologen konvertierten Skeptikers mit: "Jeder Mensch ist - aus Mangel an Absolutheit - ein primärer Taugenichts, der sekundär zum homo compensator wird" (9; vgl. O. Marquard, "Anthropologie" und "Kompensation", in: HWbPh); die anthropologischen wie hamartiologischen Abgründe allerdings, die man hier vermuten könnte, kommen nicht zum ,tragen' - vielleicht weil es Marquard vor allem und im letzten um das Glück geht, um des Menschen Kompensationsmächtigkeit.

Statt einer monographischen Entfaltung seines Grundgedankens bietet der Vf. mit seiner Aufsatzsammlung eine synekdochische Darstellung, eben ,stattdessen', so daß es dem homo lector aufgegeben ist, den Gedankengang zu entfalten. Dessen prägnante Zusammenfassung gibt Marquard - glücklicherweise - aber eingangs selber: "Menschenmöglich ist nicht das vollkommene Glück, sondern - inmitten von Übeln - das unvollkommene: das ,Glück im Unglück'. Die menschliche Vernunft ist nicht die absolute Vernunft, sondern die nichtabsolute: die ,Vernunft als Grenzreaktion' [39-61]. Bei den Menschen - wollen sie ihre Normen durch ein diskursives Über-Wir ab ovo absolut erzeugen - ist ihr Tod stets schneller als diese Erzeugung. Darum bleiben die Menschen auf Traditionen angewiesen; so gibt es ,die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten' [62-74]. Die ,Neugier als Wissenschaftsantrieb' [75-91] kommt nicht zur absoluten Wahrheit, sondern zur nichtabsoluten: Die Wahrheitsbindung der Wissenschaften lebt von ihrer Irrtumslizenz und ihrer Häresieunfähigkeit. Wer von der Welt absolute Vollkommenheit erwartet und dabei die Natur als Erlösungsgröße ins Spiel bringt, landet im ,futurisierten Antimodernismus' [91-107]: im Aufklärungswiderruf. Auch die Geisteswissenschaften - die glücklicherweise nicht erlösen, sondern nur kompensieren - sind nicht der absolute Geist, sondern gerade der nichtabsolute: die ,verspätete Moralistik' [108-114] der verspäteten Nation. Sie brauchen ,Pluralismus' [115-122]: Sie haben keine absolute Position, sondern kontingente Positionen, zum Ausgleich allerdings viele. Die Philosophie riskiert den Weg ins Unmenschliche, wo sie - etwa in der Weimarer Republik - als ,Verweigerte Bürgerlichkeit' [123-141] die absolute Attitüde des antibürgerlichen Ausnahmezustands der Revolution oder der Eigentlichkeit verklärt; vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet, wer die Bürgerlichkeit akzeptiert. Denn wenn der Mensch das Absolute sein will, erliegt er zerstörerischen Illusionen; darum braucht es - zur Ernüchterung - eine skeptische Anthropologie, die - wie Helmuth Plessner schrieb - auf ,den Menschen diesseits der Utopie' aufmerksam ist: auf den endlichen Menschen" (9 f.).

Die Menschen "brauchen Entlastung vom Absoluten und dafür das Unvollkommene: vielleicht sogar ein wenig auch jene unvollkommene Apologie des Unvollkommenen, die dieses Buch ist" (10). ,Das' Absolute scheint mir für Marquard noch vor allem der absolute Anspruch von totalen Theorien zu sein, nach Art der Geschichtsphilosophien, denen gegenüber er selber dauernder Entlastung bedarf. Wie grundsätzlich diese Angewiesenheit auf Absolutismusdistanz jedoch ist, würde deutlicher mit einer Entfaltung von Hans Blumenbergs Topos des "Absolutismus' der Wirklichkeit", demgegenüber der verborgene Doppelsinn des ,homo compensator' hervortreten würde - wofür man vermutlich sogar mit Marquards Zustimmung rechnen könnte gemäß seiner Worte "wenn Hans Blumenberg recht hat, und natürlich hat Hans Blumenberg recht" (46). Wenn die Wirklichkeit, in der wir leben, als absolutistisch verstanden wird, ergeben sich zwei Grenzbegriffe des Kompensators: derjenige, der sich ständig aus dem Staub macht, der vor jedem Handlungszwang zur Kompensation der Kompensation ad infinitum flieht und so in seiner Handlungsflucht, sei es resigniert, sei es listig, fröhlich bleibt in seiner Schwäche ohne jeden Willen zum Machen; dementgegen stünde der starke ,homo compensator', der es spätestens mit der nächstbesten Kompensation erfolgreich aufnimmt und so im Grunde kompensationsunbedürftig ist. Der schwache "homo compensator" wäre immer schon der absolutistischen Wirklichkeit ausgeliefert und wesentlich wirklichkeitsflüchtig, der starke hingegen müßte bei noch so mächtiger Kompensationsfähigkeit gewärtig sein, daß die Kompensate sich verselbständigen und bedrohlich werden können. Diese Grenzen des "homo compensator" bleiben indes bei Marquard unthematisch. Eine derartige - kalkulierte? - hintergründige Undeutlichkeit erlaubt es ihm, in seiner Formel anthropologischer Skepsis einen Untergrund erstaunlicher Zuversichtlichkeit mitschwingen zu lassen, der bei noch so großem Unglück ein immerhin tragfähiges Glück erwarten läßt nach der Devise des Dichters: "wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" (32). Der Abgrund immer noch größerer Entlastungsbedürftigkeit käme aber erst zum Vorschein, wenn das hier noch grundlegende Vertrauen in den Willen zum Machen sistiert würde nach dem Motto: ,wo aber Gefahr ist, bleibt das Rettende aus'. Im Blick auf die Überlebensfähigkeit des Menschen angesichts der absolutistischen Wirklichkeit ist jedenfalls der Antitopos des "homo compensator" teils frommer Wunsch, teils immer schon vorgängige Realität, so daß die Entlastung, auf die Marquard aus ist, stets zu spät kommt.

Lebensweltmotiv (147) und Ernüchterungsmotiv (150) seien zusammen das primum movens der Kompensations-Anthropologie, die dementsprechend labil sei. Sie sei früh schon in Biologie und Belletristik zerfallen, was "mitnichten ein Unglück, sondern - ganz im Gegenteil - ein Glück" sei (150). So existiere sie "nicht als Fach, eher schon als Stil: Darum sind die besten Bücher der philosophischen Anthropologie gute Philosophie, die gute Literatur sind" (52). So sehr man hier Marquard zuzustimmen geneigt sein mag, erscheint es doch seltsam, daß ausdrücklich werden muß, was sich bei einem hochdekorierten philosophischen Belletristen - welch ein Glück - von selbst versteht. In seiner vermutenden Empfehlung, daß der Mensch vielleicht Marquards "Apologie des Unvollkommenen" brauche (10), scheint mir so gesehen sogar ein wenig Zweifel des Skeptikers mitzuklingen, ob es denn seiner Apologetik noch bedürfe, da doch der "homo compensator" ihr immer schon voraus sein dürfte. Wenn dem homo lector es erst noch gesagt werden muß, was für ihn gut sei, jene "Unvollkommenheit, die dieses Buch ist", ahnt man eine wirklich neue Spitze der Skepsis Marquards: den Selbstzweifel, ob man seiner noch bedürfe.

Im folgenden bestätigt sich diese Ahnung indes kaum, sondern Marquard zweifelt sich immer wieder hindurch zum Glück. Im Nachklang großer Linien geschichtsphilosophischer Orientierungen sucht er den Anfang des Unglücks als Thema der Frage nach dem Glück und findet ihn im Christentum (13 f.). Nicht nur, daß die skeptische, spätere Weisheit Israels hier geschichtsphilosophisch übersprungen wird, es ist auch die lebenswelthermeneutische Frage nach der Frage, auf die die Suche nach dem Glück die Antwort finden wollte, nicht gestellt. Liegt doch schon der frühesten Frage nach dem Glück dessen Fraglichkeit im Rücken, eine Selbstverständlichkeit des Unglücks als Horizont der ersten Fragen.

Marquards Geschichte menschlichen Umgangs mit dem Unglück reicht von dessen "Teleologisierung" bei Leibniz (16 ff.) über die "Neutralisierung" bei Kant (20 ff.) zur "Balancierung" kraft Kompensation (22 ff.) und "Aktualisierung" (29 ff.) nach dem Schema "Glück durch Unglück" (30) etwa in der Psychoanalyse und der Theorie der Kunst Joachim Ritters (34 f.). Den Hintergrund der Aktualität der Kompensationsfigur als dem Umgang mit dem Unglück bilden nach Marquard zwei Epochenschwellen: das Scheitern der Teleologisierung in der Theodizee Leibniz', die von der Geschichtsphilosohie beerbt wurde, und wiederum das Scheitern von deren Teleologisierung (34), das nicht nur den Vf. zur Anthropologie führte - woran sich denn auch Marquards Seinsgrundsatz anschließt: "je compense, je suis" (36). Dieses Vertrauen, wenn nicht auf eine ausgleichende Gerechtigkeit, so doch auf eine ausgleichende Kompensationsfähigkeit des Menschen scheint aber auch dem Vf. letztlich zu harmlos. "Schließlich gibt es das Inkompensable: das Unglück, zu dem es kein Glück gibt, das ein Ausgleich sein könnte. Darum muß man philosophisch aufmerksam sein wohl auch auf das Unglück im ,Glück im Unglück' und darauf, daß es irgendwie stets das letzte Wort behält" (37). Wenn dem aber so ist, dann trägt der Kompensationsgedanke nicht, wo es Ernst wird mit dem Unglück: "das Unglück wird durch die Kompensationen in der Regel nicht gelöscht, sondern eben nur [aber immerhin und anscheinend stets?] kompensiert" (36). In diesem ,nur' liegt die bezeichnend marginale Ahnung der ,Unersetzlichkeit' des Unglücks - nur geht die Aufmerksamkeit des Vf.s vor allem auf die Kompensationskraft des unglücklichen homo compensator. Selbst das letzte Unglück, der Tod, wäre zu kompensieren wünschenswert nach dem Motto: "Am besten ist es, nicht geboren zu sein", aber von diesem das Leben verwünschenden Glück gelte: "Doch... wem passiert das schon?'" (mit Alfred Polgar?; 38). Skepsis der Skepsis gegenüber scheint mir daher nötig, nicht um sich ihrer zu entledigen, sondern um sie vor dem Selbstvertrauen einer frühen Weisheit zu bewahren, die das bittere Unglück des Exils und die völlige Verborgenheit des Glücks noch nicht geschmeckt zu haben scheint, oder aber diesen wohlbekannten Geschmack um jeden Preis zu vergessen wünscht.

Von seiner - notgedrungen nur begrenzt - skeptischen Anthropologie her erscheint Marquard die "Vernunft als Grenzreaktion" (39 ff.) wie Lachen und Weinen. Seine Genealogie der die Übel inkludierenden und nicht exkludierenden Vernunft läßt sie, neuzeitlich durch die Unvermeidlichkeit der Übel umgeformt, als Glück im Unglück erscheinen, als ,humorige' Vernunft, die "trotzdem denkt" (61). Angesichts des neuzeitlichen ,unglücklichen' Legitimationsdruckes der Vernunft werden entsprechend die unvermeidlichen "Üblichkeiten" (62 ff.) zum Glück im Unglück der Entselbstverständlichungszwänge. Nur - welche Üblichkeiten sind es denn, die in lebensweltlicher Fraglosigkeit das glückliche "Lob der Trägheit" tragen (65)? Der Trägheitsgrundsatz "Die Beweislast hat der Veränderer" (64) scheint von Unglück und Kompensationsbedürftigkeit seltsam wenig berührt. Mit entsprechender Glückseligkeit beurteilt Marquard daher auch den menschlichen Trieb der Neugier, dessen neuzeitliche Neutralisierung - getreu nach Blumenberg - durch den Nominalismus erzwungen worden sei (76 ff.). Nach den konfessionellen Bürgerkriegen erst sei die Hermeneutik erfunden worden als "nichtabsolute Lektüre" des "nichtabsolute[n] Buch[es]" (81). Sieht man von der fehlenden Aufmerksamkeit auf die Reformation ab, obwohl Marquard immerhin seine evangelische Herkunft verrät (92), muß man doch immerhin fragen, ob die Anfänge ,antidogmatischer' und somit scheinbar ,antiabsolutistischer' Bibellektüre im Ernst neutral genannt werden können? Die Konfessionskriege als movens der kompensierenden Leser'neutralität' könnten einen darüberhinaus fragen lassen, ob jenseits dieses historischen Hintergrundes nicht eine funktionale Verschiebung der angeblichen Neutralität erfolgte? Die Neutralität der Neugier kann zudem nicht bloß ein fragloses Glück bedeuten, denn die "Wahrheitsbindungsklausel" gerät für Marquard zum bloßen "Nichteinmischungsprinzip" (84) mit der "Lizenz zum folgenlosen Irrtum" (85), was mir zumindest mehr (unglücklicher) Wunsch als Wirklichkeit zu sein scheint. Seine lebensweltferne Alternative von Häretisierung resp. Hypermoralisierung (83 ff.) versus völliger Neutralisierung der Neugier versucht so, auf Kosten der faktischen Verflochtenheit und perspektivenabhängigen Mehrdeutigkeit, Un-glück und Glück passend zu verteilen.

Wie es gegen das zeitgenössische Unglück des "Antimodernismus" der Ökologie- und Friedensbewegung (92 ff.) die Kultur als Umwelt zu schützen gelte, um noch größeres Unglück zu vermeiden, so vermögen generell die Geisteswissenschaften als "Verspätete Moralistik" (108 ff.) "jene lebensweltlichen Verluste zu kompensieren, die die durch die experimentierenden Naturwissenschaften angetriebenen Modernisierungen herbei-führen" (108). "Geschichten sind wahrheitsfähig. Man kann mit Geschichten argumentieren" (110) - nur wo und wie? Geisteswissenschaften mögen zwar manche Verluste kompensieren können, aber sie insgesamt und zudem die Narrativität als Kompensat zu verstehen, bringt eine Verzweckung mit sich, die eine glückliche Zwecklosigkeit unglücklich zu reduzieren droht. Die hermeneutische Allmacht seines Kompensationsprinzips scheint mir hier von Marquard nicht mehr gebändigt zu werden und ihn zu allzu kurzen Schlüssen zu verführen. Vereint mit einer zu starken Alternative (angesichts des Schicksals der Weimarer Republik) spitzt er die These sogar noch zu: "Schwierigkeiten beim Jasagen zur modernen Welt entstehen auch durch Abwehr des Kompensationsgedankens" (112); nur - ist denn Ja versus Nein die angemessene Beschreibung eines Gegenwartsverhältnisses? Es scheint die Kompensationsfigur die Unterscheidungsfähigkeit und die zögernde Suche nach Bestimmtheit in Mitleidenschaft zu ziehen.

So richtig der Widerspruch gegen absolutistische Monismen, so fraglich ist die fraglose Affirmation des Pluralismus als dem Apotropaion. Er sei das "Remedium gegen hermeneutische Bürgerkriege" (118); nur welchen Pluralismus meint Marquard? Wenn er auch - mit Werner Beckers Unterscheidung - der "auf sanfte Weise verbindlichen Intention" des ,Eigentümlichkeitspluralismus" das Wort redet (121), so sei doch auch der "Wettbewerbspluralismus" "eine sanfte und keine absolute Verbindlichkeit" (120), was aber schon angesichts von Weltbildkonkurrenzen fraglich wird und im Horizont des Wirtschafts- (über)lebens noch weniger evident ist. Je genauer man hinsieht, um so schwerer scheint es, das Glück der Kompensation genau auszumachen, und desto weniger scheint die Kompensation immer ein Glück zu sein. Was wäre, wenn Kompensationen das zu kompensierende Unglück nur noch größer werden ließen? Marquards skeptischer ,Sterblichkeitsglaube' läßt hier letztlich erstaunlich viel zu wünschen übrig.

Angesichts von so viel Fraglichkeit scheint denn auch der Zweck der "Apologie des Unvollkommenen" voll erfüllt, wenn vielleicht auch in ,halber' Wahrheit und in anderer Weise, als intendiert war. Letztlich kann man fragen: Welches Glück war es denn, das wir zu erreichen hofften? Und welches Unglück ist es denn, das wir vergessen oder vermeiden wollen?