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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

874 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Løgstrup, Knud E.

Titel/Untertitel:

Ursprung und Umgebung. Betrachtungen über Geschichte und Natur. Metaphysik III. Übers. von R. Løgstrup.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. X, 328 S. 8o. Lw. DM 98,-. ISBN 3-16-145975-X.

Rezensent:

Eckhard Lessing

Der anzuzeigende, wiederum vorzüglich übersetzte dritte Band der Løgstrupschen Betrachtungen (zu Bd. 1 vgl. ThLZ 118 [1993], 430 f.; zu Bd. 4 ThLZ 116 [1991], 213 ff.) umfaßt fünf Teile: Das Sinnesempfinden; Die Vernunft in der Geschichte und in der Natur; Die Sprache und die Vernunft im Universum; Phänomen, Geschichte und Empirie; Geschichtlichkeit und Geschichte. Nur der erste Teil ist noch von dem 1981 verstorbenen Autor vorbereitet worden. Die übrigen Teile wurden aus vorhandenen Manuskripten und früheren Veröffentlichungen nach einem im Umriß vorhandenen Plan zusammengestellt. Insgesamt ergeben sich daraus keine Beeinträchtigungen. Einige Wiederholungen und manche aphoristische Kürze wären im anderen Falle aber wohl vermieden worden.

Bedeutungsvoll sind vor allem L.s Abhandlungen zum Naturverständnis, also insbesondere die Teile 1-3. Hingegen bringen die Ausführungen zum Geschichtsverständnis vielfach Erwägungen, wie sie insbesondere aus dem Umkreis der Existenzphilosophie bekannt sind. Sie erhalten allerdings dann eine eigene Färbung, wenn sie mit dem Thema Natur verknüpft werden.

Die Frage, um deren Klärung es L. geht, behandelt der erste Beitrag, der das Thema des gesamten Bandes direkt ins Auge faßt: Umgebung oder Ursprung? Die alternative Formulierung meint die nach L.s Auffassung ausweglose Lage, daß das Universum einerseits als bloße Umwelt betrachtet wird, insbesondere in den Naturwissenschaften, andererseits dessen Ursprung im menschlichen Bewußtsein verwurzelt sein soll. Diesem Denken setzt L. die These entgegen, daß über das Universum als Umgebung so zu reflektieren ist, "daß es zugleich unser Ursprung ist" (3). Insoweit wird zugleich eine Abkehr von einem Kantischen Denkansatz postuliert. Diese Abkehr zeigt sich insbesondere in der Kritik an der Kantischen Unterscheidung von Rezeptivität und Spontaneität. Das Sinnesempfinden ist nicht rezeptiv, sondern "abstandslos" (6); dank der "Weite" und "Prägnanz" der Sprache, dem Leitthema des ersten Bandes, gewinnen wir Abstand.

Die Unterscheidung von Abstand und Abstandslosigkeit erlaubt, ein weites Problemfeld ins Auge zu fassen. L. kann mit ihrer Hilfe erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische, ethische und ästhetische, vor allem aber anthropologische Fragen in ein neues Licht stellen, wobei sich das Verhältnis von Nichtsprachlichkeit und Sprachlichkeit immer wieder als Grundproblem erweist.

In besonders charakteristischer Weise wird das in bezug auf die Sinne des Menschen erörtert. L. ist bestrebt, in Anwendung der phänomenologischen Methode der Reduktion - auch im vorliegenden Band ist die Verpflichtung Hans Lipps gegenüber immer wieder deutlich - das, was unbesehen zusammengedacht wird, in seiner Sonderheit zu erfassen. Darum muß eigens begriffen werden, daß in den Sinnen das Universum über den Menschen verfügt und die Sprache in das Sinnesempfinden nichts hineinlegen kann. Das sprachliche Verstehen läßt zwar die Unmittelbarkeit hinter sich. Es darf aber nicht zu einer Distanzierung von den Sinnen führen, wenn nicht der Mensch zu einer "Randexistenz" (vgl. bes. 23 ff.) im Universum werden soll. Genau dies ist das Problem neuzeitlicher Wissenschaft. L. spricht verallgemeinernd "von einer Kultur, die vom Gedanken der Vernunftlosigkeit fasziniert ist" (109); sie bedroht das Selbstverständnis des Menschen.

Konsequenzen hat diese Sicht etwa für das Wahrheitsproblem (vgl. bes. 170 ff.; 178 ff.). L. votiert für die sog. Korres-pondenztheorie, allerdings in einem modifizierten Sinn. Er behauptet nicht, daß eine Aussagenüberprüfung auf der Basis einer Sonderung von Sprache und Wirklichkeit vorgenommen werden kann. Ohne sprachliche Vermittlung gibt es keine Wahrheit. Insofern bleibt die Möglichkeit der Skepsis. Aber es gibt den Vergleich. Er intendiert "die Verselbständigung des Verstandenen" (173); "sie findet sich anläßlich dessen ein, daß es eben die Beziehung zur nicht-sprachlichen Wirklichkeit ist, die von der Sprache vermittelt wird". (172) Im Falle des Gelingens läßt sich die Sprache "zugunsten des Verstandenen" (ebd.) übersehen. Wir sind bei dem, was die Sinne uns reichen und lassen letztlich das Universum den Ursprung sein.

L. betont nun allerdings, daß diese Sicht nur im Bereich der Natur Geltung hat. Deshalb muß gefragt werden, ob auch zwischen Geschichte und Universum eine Verbindung besteht. Sie ist gegeben, wenn auseinandergehalten wird, "was die Geschichte bestimmt und was das bestimmt, was wir unter Geschichte verstehen" (183). Das letztere führt in den Bereich der Invarianzen, ohne die die Stellung des Menschen im Kosmos nicht verstehbar ist.

Die Durchführung dieses Gedankens erfordert eine Vielzahl von Einzelreflexionen. Besonders wichtig sind die Darlegungen zu Typus und Exemplar (bes. 160ff) sowie zur analogen Ordnung (bes. 131 ff.; 143 ff.). Sie ergänzen recht glücklich die in "Schöpfung und Vernichtung" entwickelten Gedanken. Das gilt auch bezüglich des Verständnisses von Schöpfung und Vernichtung selbst. Denn von geschichtlichen Invarianzen zu sprechen, ist auf dem Hintergrund griechischen Seinsdenken nicht möglich (vgl. bes. 140 ff.), sondern nur, wenn das Universum erschaffen ist. Allein unter dieser Voraussetzung vermag es unsere Umgebung zu sein. Darum münden L.s Überlegungen in, vielfach ökologische Gesichtspunkte mitaufnehmende, "schöpfungsphilosophische" Erwägungen ein. Hier liegt der hauptsächliche und eigentliche Beweggrund seines Denkens und damit in der Frage nach der Metaphysik des Christentums. Auch wenn es hier - wie mehrfach hervorgehoben wird - um ein spekulatives Problem geht, darf es nicht abgewiesen werden, weil uns die Phänomene darauf hinführen. Freilich handelt es sich nicht um die Möglichkeit einer "starken" Schöpfungsphilosophie, sondern um eine solche, die um die Zerbrechlichkeiten der geschaffenen Welt weiß. Aber gerade solche Zurücknahme entspricht der so weitgehend verkannten Ohnmacht des Sinnesempfindens, ohne das unsere Vernunft nicht zu agieren vermag.