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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

587–590

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Honnefelder, Ludger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Einheit des Menschen. Zur Grundfrage der philosophischen Anthropologie.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1994. 181 S. gr.8°. Kart. DM 36,-. ISBN 3-506-73960-3.

Rezensent:

Hermann Fischer

Die vorliegende Publikation bewegt sich in der Kontinuität der vielfältigen Versuche gegenwärtiger katholischer Religionsphilosophie, die anthropologische Fragestellung weiterhin wahrzunehmen, nachdem ihr in der zünftigen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s nur noch eine vergleichsweise untergeordnete Bedeutung zukommt. Der Band dokumentiert Referate anläßlich einer Tagung in Erfurt im Januar 1992 von Theologen und Philosophen, die das Fach Philosophie im Studium der katholischen Theologie vertreten. Die anthropologischen Einsichten werden auf dem Hintergrund christlicher Grundannahmen entwickelt und gewinnen von daher ihr Zuspitzungen. Die ehemalige DDR, genauer: das Philosophisch-Theologische Studium Erfurt, damals einzige Ausbildungsstätte für katholische Theologen, veranlaßt im letzten Beitrag des Bandes zu Reflexionen auf die spezifische Dringlichkeit christlich-anthropologischer Fragestellungen angesichts von über 4 Jahrzehnte wäh-renden Erfahrungen mit dem "real existierenden Sozialismus".

Leitthema der einzelnen Abhandlungen ist die Frage nach der Einheit des Menschen. Sie klingt bereits im "Vorwort" an und wird dann im ersten Beitrag von Ludger Honnefelder (9-24: "Das Problem der Philosophischen Anthropologie: Die Frage nach der Einheit des Menschen") in ihrer grundsätzlichen Bedeutung exponiert. Wie läßt sich angesichts der fundamentalen Doppelperspektive des Menschen als Körper und Geist seine Einheit verstehbar machen? Diese Kardinalfrage Pascals hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren, sie verschärft sich geradezu angesichts des mit den neuen Humanwissenschaften angewachsenen Wissens über die konstitutiven Elemente menschlichen Seins, das mit dem Differenzierungspotential auch zersplitternde Erkenntnistendenzen befördert.

Die anthropologische Forschung steht vor der Aporie, daß die Außen- und Beobachterperspektive ihres Gegenstandes durchkreuzt wird von der Selbsterfahrung des "Ich", also von einer Innen- und Teilnehmerperspektive, die sich grundsätzlich aller gegenständlichen Erkenntnis entzieht. "Wenn aber das Ich kein Sachverhalt und die Ich-Erfahrung keine gegenständliche Erkenntnis ist, kann auch die Einheit von Leib und Ich, von gegenständlicher Erfahrung und Selbstwahrnehmung weder reines Korrelat der aus der Beobachterperspektive erfolgenden gegenständlichen Erkenntnis noch reines Korrelat der aus der Teilnehmerperspektive geschehenden Selbstwahrnehmung sein, sondern allein in der Verschränkung zweier unzurückführbar verschiedener Perspektiven erfaßt werden" (11). Der Mensch ist sich selbst zugleich das Vertrauteste und Fremdeste, die Frage nach seinem einheitlichen Sein läßt sich nicht unmittelbar beantworten, sondern nur im Rückgang auf umfassendere Deutungen. Die Arbeit an diesen Problemen in der Geschichte der Philosophie von der Antike bis hin zu den Konzeptionen neuzeitlicher philosophischer Anthropologie bei M. Scheler, H. Plessner und A. Gehlen läßt zugleich die Defizite der Deutungen erkennen. Die anthropologische Grundstruktur "vermittelter Unmittelbarkeit" bedarf zu ihrem Verständnis einer über die Empirie hinausgehenden Theorie (21), die Honnefelder aber le-diglich in ihrer Unausweichlichkeit verdeutlicht, ohne sie selbst zu entwerfen. Freilich wird in Andeutungen sichtbar, daß solch einer überempirischen Theorie diejenigen Aufgaben zufallen, die in der philosophischen Tradition von der Metaphysik wahrgenommen worden sind, die sich ihrerseits auf letzte religiöse Annahmen gründete.

In den so umrissenen Rahmen werden nun in den folgenden Beiträgen die einzelnen Problemkomplexe eingezeichnet und diskutiert. Gerd Haeffner (25-40: "Die Einheit des Menschen: Person und Natur") thematisiert die Natur- und die Freiheits-kausalität des Menschen und kommt zu dem - schon von Kant vorweggenommenen - Ergebnis: "Es steht uns kein empirisch einlösbarer Begriff der Natur und somit der Menschennatur zur Verfügung, aus dem man die Personwürde ohne Zirkel ableiten könnte" (36). - Wilhelm Schmidt-Biggemann skizziert in grossen und auch sehr globalen Schritten (40-58: "Person-Seele-Subjekt") die Entwicklung des Begriffsfeldes Person-Seele-Subjekt von Boethius bis zu J. G. Fichte und dessen kritischer Auflösung von Nietzsche bis Derrida, um am Ende zu fragen, was denn von einer Philosophie zu halten sei, die sich mit der Destruktion des Person-Begriffs den Ast absägt, auf dem sie selbst sitzt und Problembewältigung durch Problembeseitigung leistet (58). - Christian Kummer (59-72: "Evolution-Genom-Person") fragt, wie kohärent sich der Mensch aus seiner biologischen Herkunft erklären lasse. Die Fragestellung impliziert dabei eigentlich schon die Antwort, sie legt sich jedenfalls nahe. Am Leitfaden der drei Begriffe "Evolution", "Genom" und "Person" weist der Vf. nach, daß sich biologischen Einsichten keine hinreichenden kritischen Gesichtspunkte gegen die dualistische Auffassung vom Menschen entnehmen lassen und daß die Biologie mit dem Versuch einer einheitlichen Deutung des Menschen überfordert ist (72). - Edmund Runggaldier gibt in seinem Beitrag (73-90: "Mind-Brain") einen Überblick über die Leib-Seele-Diskussion in der analytischen Philosophie und konzentriert sich dabei auf solche Ansätze, "die das Leib-Seele-Problem physikalistisch im Sinne der Identitätstheorie und des Funktionalismus zu lösen versuchen" (73). Dabei macht der Vf. auf die Schwierigkeiten und Probleme dieses Ansatzes aufmerksam und versucht zu zeigen, daß sich die Vertreter solcher Konzeptionen von einer bestimmten "physikalistischen Ontologie" leiten lassen, die für fundamentale menschliche Phänomene keinen Raum mehr bietet. Vor allem Versuche, das Leib-Seele-Problem identitätstheoretisch zu erörtern, werden in ihren aporetischen Behauptungen vorgeführt (vgl. bes. 79-86 und 90). - Josef Rauscher (91-120: "Metaphysische Einsamkeit und/ oder geschichtliches Miteinandersein") setzt zu dem originellen, wenngleich riskanten und auch etwas langatmigen Versuch an, zwei in Stil, Methode und Grundannahmen "völlig engegengesetzte Denker" wie den jüdischen Sozialanthropologen A. J. Heschel und L. Wittgenstein zu parallelisieren. - Severin Müller (121-140: "Einheit des Menschen und Pluralität der Kulturen") erörtert Probleme des Zusammenhangs von kultureller Pluralität und verbindlicher Identität. Für die Frage nach der Identität des Menschen gewinnt Kants Konzeption der "transzendentalen Apperzeption" Bedeutung, und der Vf. versucht in Ansätzen, dieses Konzept auch für das Verstehen fremder Kulturen zur Geltung zu bringen (139 f.).

Claus-Peter März (141-155: "Geschenkte und ergriffene Zuversicht") greift die Themenstellung des Bandes im Modus der Exegese auf und versucht mit einer Erörterung über die Gewißheit des Glaubens im Hebräerbrief, spezielle Aspekte der Forschung an diesem Brief für die anthropologische Fragestellung fruchtbar zu machen. Im letzten Beitrag (157-171: "Zugänge zur Transzendenz") reflektiert Konrad Feiereis, der einzige Religionsphilosoph des Symposions, der über 4 Jahrzehnte in der ehemaligen DDR in Erfurt gewirkt hat, über "Erfahrungen aus vier Jahrzehnten des ,realen Sozialismus'" und weist auf die lebenspraktische Bedeutung religionsphilosophischer Arbeit in einem durch religiöse Bildungsversteppung ausgedörrten Land hin. Dafür kommt dem Phänomen der "Transzendenz" eine hervorragende Bedeutung zu, die Feiereis im Anschluß an Sören Kierkegaards Stadientheorie zu drei Problemfeldern ausdifferenziert: 1. Transzendenz im ästhetischen Erkennen (158-163), 2. Transzendenz im ethischen Erkennen (163-167) und 3. Transzendenz im religiösen Erkennen (167-171). Die Erwägungen beeindrucken durch den reichen Erfahrungsschatz des Autors, durch die Umsicht seiner Reflexionen und die Weisheit seiner Anregungen angesichts des religiösen Traditionsabbruchs in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Nach Meinung des Vf.s vermag die "christliche Philosophie" in besonderer Weise dazu beizutragen, über Jahrzehnte hin eingeschliffene Indoktrinationen und Denkstrukturen aufzubrechen. Der Rahmen wird noch weiter gesteckt: "Aufgabe christlicher Philosophie muß es sein, den Zusammenhang zwischen der Vereinigung der europäischen Völker und Nationen mit der Frage nach der Einheit des Menschen selbst zu reflektieren, da letztere die Bedingung für die Erreichung des vor uns liegenden politischen Zieles ist" (157).

Der Band bezeugt den Reichtum an Frage- und Problemstellungen, die sich aus christlicher Perspektive mit der philosophischen Anthropologie verbinden, und er thematisiert Aufgaben bzw. Unausweichlichkeiten, zu denen die humanwissenschaftlichen Einsichten selbst drängen. Die Beiträge bieten nicht durchweg neue Einsichten, sondern rufen auch Bekanntes in Erinnerung, sie machen auf interessante Fragestellungen aufmerksam und setzen zu Klärungen an, ohne sie selbst zu leisten. Es wäre zu wünschen, daß der Klärungsbedarf von Fragestellungen einer christlich geprägten philosophischen Anthropologie auch über diesen Rahmen hinaus als solcher wahrgenommen würde.