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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

713–716

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hofmann, Johann Nepomuk

Titel/Untertitel:

Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1994. XVI, 456 S. gr. 8o = Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, 28. Lw. DM 242,-. ISBN 3-11-014223-6.

Rezensent:

Jörg Salaquarda

Die Arbeit sei allen, die an philosophischer Hermeneutik und Hermeneutischer Philosophie interessiert sind, nachdrücklich empfohlen. Sie bietet Information, Orientierungshilfe und, nicht zuletzt, einen wesentlichen Beitrag zur Korrektur und Weiterentwicklung bisheriger hermeneutischer Ansätze. Hofmann gibt nämlich nicht nur einen präzisen, kritisch-erhellenden Überblick über die wichtigsten gegenwärtig an der Hermeneutik-Diskussion beteiligten Positionen, sondern arbeitet in bisher nicht erreichter Geschlossenheit und Intensität Nietzsches möglichen Beitrag zu dieser Diskussion heraus.

Die Arbeit geht von drei Beobachtungen aus: (a) In Nietzsches Philosophie spielen hermeneutische Begriffe, besonders der der Interpretation, eine zentrale Rolle, was von der neueren Nietzsche-Forschung erkannt und anerkannt wird. (b) Mehrere neuere hermeneutische Ansätze berufen sich ausdrücklich, wenn auch nur eklektisch, auf Nietzsche. (c) In der Gadamerschen Hermeneutik, die im deutschen Sprachraum jahrzehntelang das Feld behauptete, spielt Nietzsches Denken aber so gut wie keine Rolle. H. hält es vor allem deswegen für an der Zeit, "Nietzsche als einen zu Unrecht verkannten Vorläufer philosophischer Hermeneutik in Erinnerung zu bringen" (3), weil er in seinem Denken Korrektive, insbesondere gegen Gadamers überzogenen hermeutischen Universalismus, ausmacht. - Nach einer kurzen "Einleitung" (1-16) arbeitet H. zuerst die "Grundzüge einer Philosophie der Interpretation im Denken Nietzsches" heraus (17-167), um dann einen Überblick über "Nietzsches Stellung und Verhältnis zur philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts" zu geben (168-429)(1). In der "Schlußbemerkung" zieht H. noch einmal kurz Bilanz (430-433).

Der 2. Teil(2) ist in vier Abschnitte unterteilt. Im ersten ("Interpretation im Widerstreit. Nietzsches Interpretationsbegriff im Spiegel der Rezeption", 169 ff.) präsentiert und diskutiert H. die Nietzsche-Deutungen von P. Ricur, J. Granier, G. Vattimo, J. Figl, G. Abel, J. Simon und M. Foucault, in denen der Interpretationsbegriff in je anderer Akzentuierung eine zentrale Rolle spielt. In jeder, so H., sei zumindest ein wichtiger Zug erfaßt, wenn s. M. n. auch keine der vollen Komplexität von Nietzsches Beiträgen zur Hermeneutik gerecht wird. In den Abschnitten 2 und 3 wendet sich H. Heidegger und Gadamer zu, den Klassikern der hermeneutischen Diskussion unseres Jh.s ("Nietzsche contra Heidegger. Kunst der Interpretation oder Hermeneutik der Existenz", 219 ff.; "Nietzsche contra Gadamer. Unhintergehbarkeit von Perspektivität oder Universalität der hermeneutischen Dimension", 252 ff.). In seiner "Hermeneutik der Existenz" ist Heidegger kaum auf Nietzsche eingegangen, kam bestimmten Zügen von dessen "Interpretationsphilosophie" aber ziemlich nahe. Für den späteren Heidegger war Nietzsche zwar bekanntlich ein wesentlicher Gesprächspartner, aber in seinem Verständnis von Nietzsches Denken als Vollendung der Metaphysik blieb der Interpretationsgedanke ausgespart. Gadamer grenzte sich in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode von der Position Nietzsches ab. In seiner späteren Diskussion mit Derrida würdigte er zwar die Bedeutung von Nietzsches Interpretationsbegriff, aber nur, um seine Position um so deutlicher von der Nietzscheschen abzusetzen, die den Destruktivismus à la Foucault und Derrida vorbereitet habe. Im 4. Abschnitt ("Zwischen Dekonstruktion, Hermeneutik und Dialektik. Nietzsche und die Hermeneutik der Zukunft", 306 ff.) setzt H. Nietzsche zu den maßgebenden Positionen der gegenwärtigen Hermeneutik-Diskussion in Beziehung. Er arbeitet die systematische Bedeutung heraus, die seine recht verstandene "Interpretations-Philosophie" in ihnen haben könnte und s. M. n haben sollte(3).

Einleitend tritt H. drei verbreiteten Vorurteilen entgegen, denen zufolge Nietzsches Denken gar keine positive hermeneutische Relevanz zukommen könne: Es sei unverbindlich-relativistisch, suspendiere die Wahrheitsfrage und blende in postmoderner Selbstbezüglichkeit die Verbindung zur Aufklärung aus. Doch der Nietzschesche Relativismus, so H., wende sich nur gegen die essentialistische Einseitigkeit der Tradition. Er lasse sich im Sinne eines kritischen Perspektivismus, der die lebendige Vielfalt unserer leiblichen und vitalen Komponenten miteinbezieht, hermeneutisch fruchtbar machen. Nietzsches Leugnung der Wahrheit richte sich lediglich gegen ein korrespondenztheoretisches Verständnis. Sein Denken bleibe in kritischer Weise auf Wahrheit bezogen, die zwar nie gegeben, wohl aber als Fluchtpunkt differenzierter Interpretationsvorgänge aufgegeben bleibe. Gegen die Lukàcssche These von der "Zerstörung der Vernunft" setzt der Vf. schließlich die von Nietzsche intendierte Aufklärung über die Voraussetzungen der Aufklärung.

So vorbereitet analysiert H. sechs hermeneutische Grundbegriffe, die in Nietzsches Denken eine wichtige Rolle spielen: Wahrheit, Perspektivität, Interpretation, Auslegung, Verstehen und Sprache. Wo Nietzsche Wahrheit leugnet, hat er die korrespondenztheoretisch gefaßte Urteilswahrheit im Blick, für die von der metaphysischen Tradition ein absoluter Anspruch erhoben wurde. Dagegen setzt er die tragische (oder "dionysische") Einsicht, daß alle Voraussetzungen, auf denen dieses Wahrheitsverständnis beruht, im Sinne ihres eigenen Anspruchs unwahr sind. Damit diese zweite, "sinndestruierende" Weise von Wahrheit nicht in lebensfeindlichen Nihilismus münde, setzt Nietzsche ihr eine lebensdienliche, pragmatisch-interpretative Bemühung um Wahrheit entgegen. Diese drei Weisen von Wahrheit treten in seinem Werk in vielschichtiger, geschichtlich-prozeßhafter Verflochtenheit auf. Wahrheit im positiven, hermeneutisch fruchtbaren Sinn muß sich im interpretierenden Experiment bewähren. Als höchste Form dieser mannigfach bedingten menschenmöglichen Wahrheit stellt Nietzsche die Haltung der Gerechtigkeit heraus, in der sich "ein Höchstmaß an hermeneutischem Takt" mit der Bereitschaft verbindet, entschiedene Urteile zu fällen, wo dies nötig ist (44). Das Perspektivische ist für Nietzsche eine unhintergehbare Lebensbedingung. Seine Hermeneutik zielt nicht einmal idealiter auf eine letzte, umfassende Perspektive ab, in der alle anderen aufgehoben wären, sondern auf die Herausarbeitung, Unterscheidung und Anerkennung einer Vielfalt von Perspektiven. Der Zentralbegriff von Nietzsches Hermeneutik ist zweifellos der der Interpretation, wie sich an der Wirkungsgeschichte des Nietzscheschen Denkens ablesen läßt. Eng verwandt ist der Begriff der Auslegung. "Wir interpretieren, indem wir ,etwas' auf seinen Sinn hin auslegen, den es für uns hat. Interpretationen besitzen den Charakter von Auslegungen" (91). Wie für die Perspektivität behauptet Nietzsche auch für die Dimension des Interpretierens universale Geltung. Interpretieren ist die Seinsweise des Willens zur Macht, den Nietzsche seit Also sprach Zarathustra als den Grundcharakter alles Seienden bezeichnet. Interpretationen bringen Schätzungen zum Ausdruck, in denen sich Wachstums- bzw. Erhaltungsbedingungen formulieren. Wie Wahrheit sind Interpretationen vielfältig bedingt. In Abkehr von Bewußtseinsmodell der Tradition orientiert Nietzsche sich bei der näheren Kennzeichnung dieser Vielfalt methodisch "am Leitfaden des Leibes". Als Ideal interpretatorischer Vernunft und interpretatorischer Kunst stellt Nietzsche einen Menschen heraus, der interpretativer Wahrheit fähig und in diesem Sinne gerecht ist. Der Begriff des Verstehens fügt der Nietzscheschen Hermeneutik eine weitere wichtige Facette hinzu: Dem perspektivischen Interpretieren kommt nicht der Charakter der Unmittelbarkeit zu, sondern es bedarf aktiver, "konstruierender" Bemühung. Medium des alltäglichen Verstehens ist gemeinsame Praxis, geleitet von ähnlichen Bedürfnissen. Je weiter sich Verstehen davon entfernt, um so größere Sorgfalt und um so intensivere Bemühungen sind dafür nötig. Nietzsche differenziert in diesem Zusammenhang auch zwischen den Trägern bzw. Adressaten des Verstehens. Das alltägliche Verstehen spielt zwischen durchschnittlichen "Ichen" im Sinne von Heideggers "man-selbst", das wissenschaftliche Verstehen zwischen "Subjekten überhaupt". Die tragische Einsicht in die Un-wahrheit der Voraussetzungen aller Formen des Verstehens zerstört auch die Selbstverständlichkeit dieser "Subjekte" und der ihnen entsprechenden Weisen des Selbstverständnisses. Sie ereignet sich zwischen Individuen. Dasselbe gilt auch für das Bemühen um pragmatisch-interpretative Wahrheit jenseits des Essentialismus. Dabei begreift Nietzsche auch das Individuum weder als etwas unmittelbar Gegebenes noch als feststehende Größe. Im Verhältnis eines Individuums zu einem anderen wie zu ihm selbst stößt das Verstehen auf Grenzen, denen gegenüber es versagt. Allerdings habe Nietzsche dieses in gewissem Umfang unvermeidliche Nicht-Verstehen gerade nicht kultiviert, sondern sich in immer neuen Anläufen um Ausweitung des Verstehens bemüht. Das Medium aller in perspektivischer Auslegung gewonnenen Auslegungen, bzw. alles dessen, was wir verstehen, ist die Sprache. Sie gibt die Möglichkeiten wie die Grenzen unseres Verstehenkönnens vor. In ihr haben sich immer schon Strukturen, Vorurteile, Machtinteressen und dgl. niedergeschlagen. Trotz seiner Einsicht in die Grenzen der Sprache, die ihn mitunter dazu veranlaßte, das Schweigen zu empfehlen, bemühte er sich um eine ständige Verfeinerung im Interesse verbesserter und erweiterter Mitteilbarkeit, etwa um Verbesserung und Vervielfältigung des Stils.

In einer kurzen Zusammenfassung ("Nietzsches Interpretationsphilosophie im Rück- und Vorblick. Versuch einer Zwischenbilanz", 156 ff.; vgl. auch die "Schlußbemerkung", 430-433) unterstreicht H. den fragmentarischen Charakter von Nietzsches Beitrag zur Hermeneutikdiskussion. Er versucht dem Rechnung zu tragen, indem er ihn nicht in ein System zwängt, sondern die zentralen hermeneutischen Grundbegriffe je für sich darstellt. Ganz auf Systematisierung zu verzichten ist jedoch unmöglich, wenn man Nietzsches Denken als eine eigenständige Position ergänzend und korrigierend zu einer bestimmten Richtung in Bezug setzen möchte. Runden sich die einzelnen Analysen H.s auch nicht zum geschlossenen System, so ergeben sie doch ein sinnvolles Ganzes. Daß H. dabei manche Züge des Nietzscheschen Denkens in den Hintergrund drängt oder ganz ausblendet, andere dagegen stark herauskehrt, ist wohl unvermeidlich. Von einer genetischen Nietzsche-Interpretation aus, die auf die Abbrüche und neuen Einsätze achtet, fällt insbesondere auf, daß H. fast nur die Kontinuität von Nietzsches Denken betont und den Schriften der Basler Periode eine erstaunlich große Rolle zugesteht.

Alles in allem geurteilt hat H. aber überzeugend nachgewiesen, daß Nietzsches Denken eine ziemlich konsistente hermeneutische Position enthält, die die Kluft zwischen Hermeneutikern und Dekonstruktivisten zu überbrücken in der Lage ist, insofern sie einerseits den konstruktivistisch-interpretierenden Charakter des Verstehens betont, andrerseits auf der Berechtigung, ja Notwendigkeit einer Vielzahl von Perspektiven be-harrt. Als entscheidende Grundzüge der Nietzscheschen "Interpretationsphilosophie" stellt der Vf. abschließend noch einmal heraus, daß Nietzsche auf die Praxis eines hermeneutischen Vollzugs abzielt, in dem Individuen mit Individuen kommunizieren. Dabei gehen sie von der tragischen Einsicht in die Voraussetzungshaftigkeit und Perspektivität des menschlichen Verstehens aus. Soll diese Erkenntnis nicht im Nihilismus enden, müssen die interpretierenden Individuen die absoluten Ansprüche der essentialistischen Tradition, insbesondere in ihren moralischen Forderungen, aufgeben und sich um jene Gerechtigkeit bemühen, die andere Perspektiven und Interpretationen gelten läßt, ohne deswegen die eigene preiszugeben.

Fussnoten:

1 Auf Nietzsches Verhältnis zur Hermeneutik-Diskussion des 19. Jh.s geht H. nicht ein. Vgl. dazu J. Figl, Dialektik der Gewalt, Düsseldorf 1984, bes. 96-120, sowie W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992. - Zu Recht bezeichnet H. es als ein Desiderat der Nietzsche-Forschung, das Verhältnis Nietzsches zu Schleiermacher genauer zu untersuchen.

2 Da ich hauptsächlich auf die Rekonstruktion von Nietzsches "Interpretationsphilosophie" eingehe, halte ich mich nicht an die Reihenfolge des Buchs, sondern beginne mit einigen Bemerkungen zum 2. Teil. In einem Aufsatz unter dem Titel Hermeneutik nach Nietzsche. Thesen und Überlegungen im Anschluß an Nietzsches Begriff der Interpretation, der in Bd. 25/1996 der "Nietzsche-Studien" erscheinen wird, schlägt H. selbst diesen Weg ein.

3 Außer auf die schon in Abschnitt 1 erwähnten hermeneutisch relevanten Entwürfe, geht er dabei auch auf die von Derrida, Deleuze, Frank, Habermas, Lacan, Apel, Lyotard und Rorty ein.