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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

709–713

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Heidegger, Martin

Titel/Untertitel:

Phänomenologie des religiösen Lebens. 1. Einleitung in die Phänomenologie der Religion. 2. Augustinus und der Neuplatonismus. 3. Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 1995. XIV, 351 S. 8o = Heidegger Gesamtausgabe. II. Abt.: Vorlesungen 1919-1944. Bd. 60. Kart. DM 78,-. ISBN 3-465-02845-7.

Rezensent:

Richard Schaeffler

Der vorliegende Band vereinigt Heideggers Entwürfe zu einer für den Winter 1918/19 geplanten, aber nie gehaltenen Vorlesung "Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik", die Vorlesung vom Winter 1920/21 "Einleitung in die Phänomenologie der Religion" und die Vorlesung vom Sommer 1921 "Augustinus und der Neuplatonismus". Die Hgg. erläutern in einem Nachwort die Textlage: Die Vorlesung zur Phänomenologie der Religion, von der kein Original-Manuskript zu finden war, wird anhand von Nachschriften, vor allem derjenigen von Oskar Becker, wiedergegeben. Die Augustinus-Vorlesung folgt einer Original-Handschrift Heideggers, deren viele Ergänzungen, Randglossen und Erläuterungen nach Möglichkeit in den Text einbezogen wurden, während aus Nachschriften solche Passagen entnommen wurden, in denen Heidegger im Vortrag seiner Vorlesungen über den vorbereiteten Text hinausging. Die Entwürfe zu der nicht gehaltenen Mystik-Vorlesung stammen aus Heideggers eigener Hand, ebenso die vorbereitenden Entwürfe zu den beiden gehaltenen Vorlesungen, die die Hgg. den Texten als Anhänge beigefügt haben.

Dabei enthält die Vorlesung vom Winter 1920/21, nach einer ausführlichen "methodischen Einleitung", eine phänomenologische Interpretation des Briefs an die Galater und der beiden Briefe an die Thessalonicher. Die Vorlesung vom Sommer 1921 behandelt, unter dem Titel "Augustinus und der Neuplatonismus", vor allem das 10. Buch (Heidegger nennt es "Kapitel") der "Confessiones". Die für den Winter 1918/19 geplante, aber nie gehaltene Vorlesung sollte ausgewählte Texte der deutschen Mystik behandeln und eine Auseinandersetzung mit Schleiermacher und der Religionsphilosophie Rudolf Ottos enthalten.

1. Ein Philosophieverständnis "im Werden": Das Interesse, das die Edition von Heideggers Vorlesungen auf sich zieht, beruht zunächst darauf, daß sie die Entwicklung seines Denkens in jenen Jahren dokumentieren, aus denen keine veröffentlichten Schriften vorliegen, also in den Jahren zwischen 1916 ("Die Kategorienlehre des Johannes Duns Skotus") und 1927 ("Sein und Zeit"). In diesen Jahren hat sich jenes Verständnis von Philosophie und speziell von Phänomenologie herausgebildet, das in der Einleitung zu "Sein und Zeit" ( 7) nur sehr knapp angedeutet wird und das sich von Husserls Phänomenologieverständnis in wichtigen Hinsichten abhebt: Während Husserl "Philosophie als strenge Wissenschaft" betreiben will (vgl. die gleichnamige Veröffentlichung von 1911), grenzt Heidegger schon in den Vorlesungen jener Jahre die Philosophie von aller Wissenschaft und von dem für sie spezifischen Willen zur "Objektivität" mit wachsender Schärfe ab und gründet sie auf die Analyse des "faktischen Lebensvollzugs", nach dessen "Vollzugssinn" er fragt. Diese Frage nach dem "Vollzugssinn" je bestimmt gearteter "faktischer Lebensvollzüge" gilt ihm als die Aufgabe der Phänomenologie.

Das gilt auch für die in diesem Buch vereinigten Vorlesungen und Entwürfe. Dabei wird das "Vollzugssinn" scharf von jedem "Bezugssinn" unterschieden: Nicht darauf soll es ankommen, zu klären, worauf sich die Äußerungen des Lebens "beziehen" (ob sie folglich als etwas "Subjektives" von der Wirklichkeit, auf die sie sich "beziehen", unterschieden werden können und wie diese Wirklichkeit als das "objektive Korrelat" der Lebensakte verstanden werden könne). Vielmehr hat der "Vollzug" seinen "Sinn" gerade darin, aller Unterscheidung des Subjektiven und Objektiven ermöglichend vorauszuliegen. Dabei läßt dieser Vollzugssinn aller Akte des Lebens dessen Endlichkeit als konstitutive Charakteristik hervortreten. Insoweit lassen sich die Vorlesungen jener Jahre, und so auch die im vorliegenden Bande vereinigten Vorlesungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens, als Vorstudien zu "Sein und Zeit" lesen, durch welche Heidegger zu seiner spezifischen Art der Fragestellung und der Argumentation erst gefunden hat.

2. Phänomenologie als Anleitung zur Text-Interpretation: Gegenüber denjenigen Momenten, die die hier veröffentlichten Vorlesungen als bloße Vorstufe zu "Sein und Zeit" erscheinen lassen, zeigen diese ihren Eigenwert nicht zuletzt dadurch, daß sie sich einer Aufgabe widmen, die in "Sein und Zeit" auffallend zurücktritt: Die phänomenologische Betrachtung soll die Interpretation überlieferter Texte möglich machen. Dabei werden auch diese Texte primär nicht nach ihrem "Bezugssinn" befragt (folglich auch nicht nach ihrem "objektiven Aussagegehalt", aber auch nicht nach ihrem "subjektiven Ausdruckswert"), sondern nach ihrem Vollzugssinn.

Für die Vorlesungen dieses Bandes besagt dies beispielsweise: In den Vorlesungen "Einleitung in die Phänomenologie der Religion" vom Winter 1920/21, soll den Briefen des Apostels Paulus nicht ihr "dogmatischer Gehalt" entnommen werden, aber auch keine Auskunft über die Seelenzustände des Vf.s; vielmehr wird gefragt, woraus der Vollzug des apostolischen Briefeschreibens seinen "Sinn" (und damit auch seine Verständlichkeit für den Leser) empfängt. Und die Antwort lautet: "Das Leben des Paulus hängt ab vom Feststehen der Thessalonicher im Glauben" ("Ihr seid meine Doxa und meine Freude"), weil sie sich ihm "zugelost" haben ("prosklerótesan") in einer spezifischen Bedrängnis und Freude "im Horizont der Parusia, der endzeitlichen Wiederkunft". So ist es die Gemeinsamkeit einer von aller innerweltlichen Sorge und Hoffnung verschiedenen "absoluten Bekümmerung", die dem Vollzug des Briefeschreibens und deshalb zugleich allem, wovon in solchen Briefen die Rede ist, seine besondere Gestalt und Bedeutung verleiht.

Entsprechend werden den "Confessiones" Augustins in den Vorlesungen vom Sommer 1921 nicht Auskünfte über die Biographie oder das Seelenleben Augustins entnommen; vielmehr wird gefragt, was dem Vollzug des "Confiteri coram Deo et hominibus" seinen vollzugs-immanenten Sinn verleiht. Und die Antwort lautet: Ein Grundvollzug des Lebens, das Streben nach dem "seligen Leben" (Vita beata), versucht, sich seines Zieles zu vergewissern. Deshalb genügt es nicht, die erstrebte Vita beata als Gemeinschaft mit Gott zu definieren, sondern es ist nötig, weiterzufragen, was wir zuletzt intendieren, wenn wir nach der Gottesgemeinschaft verlangen ("Was also liebe ich, wenn ich Gott liebe?"). Diese Frage macht eine Unsicherheit in der Zielbestimmung des Lebensvollzugs offenbar. Der Vollzugssinn des Bekennens liegt also darin, daß der Lebensvollzug selber sich der Gefahr ausgesetzt sieht, seinen ihm immanenten Zielbezug zu verkennen und damit zu verfehlen. Diese Selbstgefährdung des Lebens ist es, die dieses im Ganzen zu einer einzigen "Tentatio" (Versuchung) macht ("Nonne tentatio est vita mea?"), die sich in vielfältigen "Tentationes" konkretisiert. Augustins ausführliche Beschreibung dieser "Tentationes" darf folglich, im Zusammenhang von Heideggers phänomenologischer Interpretation, weder psychologisch noch moralisch verstanden werden, sondern ist daraufhin auszulegen, in welcher Weise der Lebensvollzug selbst die Gefahr eines doppelten "Verfallens" entstehen läßt: als "Defluxion" in das Streben nach mannigfachen Weisen des Genusses, der von der Weltwirklichkeit erwartet wird, bzw. des "neugierigen Sich-Umsehens" in dieser Weltwirklichkeit, oder als "Selbstwichtignahme vor sich selbst". "Im konkreten, genuinen Erfahrungsvollzug gibt es [scil.: das Sichselbsthaben] sich die Möglichkeit des Abfalls, aber... zugleich die volle konkrete faktische ,Gelegenheit', zum Sein des eigensten Lebens zu kommen" (244).

Freilich betont Heidegger, Augustin habe diese seine eigene, erst mit den Mitteln der phänomenologisch vorgehenden Philosophie deutlich herauszupräparierende Intention nicht rein durchgehalten. Die Analyse faktischer Lebensvollzüge werde einer "axiologischen" Betrachtung, d. h. einer Abwägung von objektiven Wert-Qualitäten und ihrer Wert-Höhe, untergeordnet und dadurch um ihre Klarheit gebracht.

3. Der religiöse Lebensvollzug als Thema phänomenologischer Interpretation: Bei alledem handelt es sich - und das macht das Spezifikum der in diesem Band vereinigten Vorlesungen aus - um die phänomenologische Interpretation spezifisch religiöser Texte, deren "Vollzugssinn" erhellt werden soll. Da unter den veröffentlichten Schriften Heideggers nur der knappe Text "Phänomenologie und Theologie" religionsphilosophisch-theologische Themen behandelt (als Vortrag erstmals gehalten in Tübingen am 9.3.1927, im Druck veröffentlicht in französischer Sprache 1968, in deutscher Sprache 1970), bieten die hier gesammelten bisher unveröffentlichten Vorlesungen nicht nur in methodischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht bisher Unbekanntes und für Heideggers weitere Entwicklung Erhellendes.

Wer freilich von den nun vorliegenden Vorlesungen die Erörterung speziell religionsphilosophischer Themen erwarten wolle, würde enttäuscht. Die Lebensvollzüge, auf die hin Heidegger die Texte interpretiert, interessieren ihn, wenigstens in den ausgearbeitet vorliegenden Vorlesungen, nicht um ihrer speziell religiösen Eigenart willen, sondern weil in ihnen Grundzüge menschlichen Existierens zu besonders deutlichem Ausdruck kommen: die "absolute Bekümmerung" als Grundzug menschlicher Existenz (Paulus), die Selbstgefährdung der menschlichen Existenz oder ihr Sein als "Tentatio" (Augustin). Was in "Sein und Zeit" als die Doppel-Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zum Thema gemacht wird, wird in den hier veröffentlichten Vorlesungen durch phänomenologische Interpretation religiöser Texte als deren "Vollzugssinn" erhoben.

4. Die Vorlesungstexte und die vorbereitenden Entwürfe: Die Hgg. haben den Vorlesungs-Texten jeweils "Aufzeichnungen und Entwürfe" beigegeben. (Für die für den Winter 1918/19 vorgesehene, aber nicht gehaltene Vorlesung "Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik" liegen nur diese Entwürfe vor.) Deutlicher als in den ausgearbeiteten Vorlesungstexten tritt hier die jeweils leitende Absicht Heideggers hervor. So sind besonders aufschlußreich die "Thesen zur Phänomenologie der paulinischen Verkündigung" (137-146), in denen der "faktische Lebensvollzug" des Apostels und seiner Adressaten als der "Vollzug der eschatologischen Faktizität" (139), die Eigenart dieses Vollzugs aber als "absolute Bekümmerung" (134) beschrieben wird. "Paulus erfährt in sich selbst die absolute Not und bewegt sich aus ihr. Nur so versteht er sich selbst" (146).

Ähnlich bündige Formulierungen finden sich in den "Entwürfen und Notizen" zur Augustinus-Vorlesung. "Gerade in dem, was zu meiner Faktizität gehört, was mit mir ist und worin ich bin, lauert die Versuchung" (252). "Meine Faktizität ist die stärkste Versuchung, so zwar, daß dabei die eigentliche cura verlorengeht" (253 f.).

Die Knappheit und Klarheit derartiger "Notizen und Entwürfe" entschädigt den Leser für die Mühe, die ihm die in manchen Passagen langatmigen, sich in wortgleichen Wiederholungen ergehenden Vorlesungstexte bereiten, aber auch für das Befremden, das die oft überheblich wirkende Polemik Heideggers hervorruft: "Was Scheler heute macht, ist lediglich eine sekundäre Übernahme dieser Gedankengänge [scil. aus dem französischen Augustinismus des 17. Jh.s], aufgeputzt mit Phänomenologie" (159). Die Auffassung von Troeltsch, Augustin sei "die letzte und größte Zusammenfassung der absterbenden antiken Kultur" ist "ein alter Ladenhüter, in universalhistorisch-kulturphilosophische Phraseologie übersetzt" (161).

Eine Sonderstellung nehmen die "Ausarbeitungen und Entwürfe" zu der nicht gehaltenen Vorlesung "Die philosophischen Grundlagen mittelalterlicher Mystik" ein. Um dieser Sonderstellung wegen sei hier eine etwas ausführlichere Darstellung gestattet. Hier geht es um "die phänomenologische Erforschung des religiösen Bewußtseins" (303) und zwar in seiner unverwechselbaren Besonderheit gegenüber anderen Formen des faktischen Lebensvollzugs. Diese "Erforschung" soll, ganz im Sinne Husserls, "echt wissenschaftlich" geschehen (ibid), und zwar sowohl nach der noetischen Seite als Äußerung "eines ganz originäre[n] ,ich kann'" (306) als auch nach seiner noematischen Seite als "Konstitution der religiösen Gegenständlichkeit" (307), die diesem "Können" seine spezifische "Erfüllung" verleiht (309). Charakteristische Äußerungen der religiösen Noesis sind: "das Schweigen als religiöses Phänomen" und "die Anbetung [als] überschwängliche Verwunderung" (ibid).

Um der "Unmittelbarkeit des religiösen Erlebens" (314) gewahr zu werden, sind all seine Überformungen durch die "theoretisierenden, dogmatisierenden Einflüsse" theologischer Systeme auszuschließen. In diesem Zusammenhang beurteilt Heidegger die Mystik als "elementare Gegenbewegung" gegen diese theoretisierende oder auch moralisierende Überformung des Religiösen (314). "Daher die Namenlosigkeit von Gott und Seelengrund" (316).

Schleiermacher, der der Religion angeraten hat, "allen Ansprüchen der Metaphysik und Moral zu entsagen", gilt als Zeuge für diese sowohl noetische als auch noematische Eigengesetzlichkeit der religiösen "Sphäre". Darum hatte er "zu-nächst zu zeigen de[n] schneidenden Gegensatz des Glaubens zu Moral und Metaphysik, der Frömmigkeit gegen Sittlichkeit" (319). Nur so wird der Blick frei für die "Selbständigkeit des religiösen Erlebnisses und seiner Welt als eine[r] ganz originäre[n] Intentionalität" (322). Diese ihrerseits ist die Bedingung "für die spezifisch religiöse Konstituierung "Gottes" als eines "phänomenologischen Gegenstandes" (324), d. h. als des dieser Noesis originär erschlossenen Noema. Denn "das Heilige darf nicht als theoretisches Noema... zum Problem gemacht werden, sondern als Korrelat des Aktcharakters ,Glauben'" (333).

Um der Selbständigkeit des religiösen Erlebens willen gilt, gegenüber allen Weisen des theoretischen Hinblicks, der religiösen Erfahrung die beherrschende Stellung. Darum zitiert Heidegger mit Zustimmung die Äußerung des Bernhard v. Clairveaux: "Hodie legimus in libro experientiae" (Heute lesen wir im Buche der Erfahrung) (334). Und weil das religiöse Noema sich nur der religiösen Noesis originär erschließt, ist die religiöse Erfahrung, wiederum nach Bernhard, "fons signatus, cui non communicat alienus" (ein versiegelter Quell, an dem kein Außenstehender Anteil hat) (334).

Mehr als in den ausgearbeiteten Vorlesungen haben wir es also hier mit einer Phänomenologie der Religion zu tun, die von Husserls methodischem Ansatz aus eine spezielle "Sphäre" von Akt-Vollzügen und eine entsprechende "Welt" von Gegenständen sichtbar macht. Vergleicht man diese Entwürfe mit den oben besprochenen Vorlesungen folgender Semester, dann wird eine Differenz des interpretierenden Hinblicks auf religiöse Texte sichtbar, die es zweifelhaft erscheinen läßt, ob es wirklich nur äußere Gründe waren, die Heidegger, wie er in einem Brief an das Dekanat der Philosophischen Fakultät anführt, daran gehindert haben, die angekündigte Vorlesung zu halten, und ihn veranlaßt haben, statt dessen über "Grundprobleme der Phänomenologie" zu lesen.