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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

476–479

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hammer, Steffi

Titel/Untertitel:

Denkpsychologie – Kritischer Realismus. Eine wissenschaftshistorische Studie zum Werk Oswald Külpes.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994. XVI, 284 S.8o = Beiträge zur Geschichte der Psychologie, 6. Kart. DM 89,-. ISBN 3-631-46289-1.

Rezensent:

Wilfried Flach

Steffi Hammer, Vfn. der zu besprechenden, auf einer im Februar 1990 der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vorgelegten Dissertation fußenden Monographie zu Oswald Külpes Leben und Werk, beeindruckt in zweierlei Hinsicht: Zum einen hat sie - von Haus aus Psychologin - das geistige Abenteuer bestanden, in der dogmatischen Atmosphäre des dialektischen Materialismus von "Marx, Engels, Lenin und Stalin" (K. F. Wessel, "Kritischer Realismus und dialektischer Materialismus", Berlin, 1971, 39) der ehemaligen DDR eine Doktorarbeit zu schreiben, deren wissenschaftliche Substanz sich auch nach der Wende als solide erwies.

Zum anderen ist sie - ursprünglich aus einem rein atheistischen Elternhaus stammend - über ihre erkenntnistheoretischen Studien zur Überzeugung gelangt, daß nach wie vor nicht nur die Frage der Existenz einer "realen Außenwelt", sondern auch die der "Unsterblichkeit der Seele" und der "Existenz Gottes" offengehalten werden muß (VII, 119, vgl. auch St. Hammer, "Nachdenken über Gott", in: Ev. Kommentare, 1993, H. 5, 263 f.)

Eigentliche Zielstellung ihrer Monographie ist aber, Oswald Külpe (1862-1915) als hervorragenden Vertreter der Denkpsychologie und des kritischen Realismus zu würdigen. Dies ist deswegen so verdienstvoll, weil es um K., der in seiner Zeit neben W. Wundt die Psychologie und die Philosophie maßgeblich beeinflußte, heutzutage recht still geworden ist. Dabei hat K. seinerzeit nicht nur seine Schüler innerhalb der von ihm begründeten "Würzburger Schule" (N. Ach, K. Bühler, K. Marbe, A. Messer, O. Selz, H. J. Watt u.a.) entscheidend geprägt, sondern übte auch auf solche Denker wie den jungen Heidegger (M. Heidegger: "Das Realitätsproblem in der modernen Philosophie"), P. Feyerabend u. K. Jaspers eine unmittelbare und über K. Bühler auf K. R. Popper, L. Wittgenstein u. K. Lorenz eine mittelbare Wirkung aus. A. Bäumler, E. Bloch, M. Wertheimer u.a. haben bei ihm promoviert. Über letzteren sind Einflüsse auf die Berliner Gestaltpsychologie und die Forschungsmethodik J. Piagets festzustellen.

An theologischen Schülern sind vor allem die Protestanten K. Girgensohn und R. Jelke zu erwähnen, an katholischen G. Söhngen und verschiedene Neothomisten wie z.B. A. Willwoll. K. Girgensohn inaugurierte unter K.s Einfluß die experimentelle Religionspsychologie, während R. Jelke mit Hilfe von K.s kritischem Realismus seine eigene systematische Prinzipienlehre untermauerte.

Aus der Zielstellung der Vfn. folgt konsequenterweise eine Zweiteilung ihres Buches, die sie unter Punkt 3 (Zur Entwicklung der Psychologie Oswald Külpes) und Punkt 4 (Zu Oswald Külpes Philosophie) realisiert. Vorgeordnet sind wissenschafts- theoretische Überlegungen und sozialökonomische, politische und wissenschaftshistorische Skizzen zur Epoche der Gründerzeit. Angefügt sind ein Ausblick und vor allem ein Anhang mit Dokumenten zur wissenschaftlichen Laufbahn von K. inklusive eines Briefwechsels zwischen K. und seinem Lehrer und Freund W. Wundt.

Auf psychologischem Gebiet liegt K.s Verdienst vor allem darin, daß er unter W. Wundt in Leipzig von 1887-1894 bei der Etablierung und Institutionalisierung der experimentellen Psychologie maßgebend mitgewirkt hat. Später gründete er in Würzburg, aber dann auch in Bonn und München Institute für experimentelle Psychologie bzw. baute sie weiter aus. Hierbei nahm er eine entscheidende Revision der Wundtschen Methodik vor. Während Wundt die experimentelle Methode weitgehend quantitativ für elementare psychische Vorgänge nutzte - für die höheren psychischen Prozesse hatte er die "Methodik der Völkerpsychologie", die auf der Beobachtung der allgemeinen Geisteserzeugnisse beruhte, entwickelt -, erarbeitete K. eine experimentelle Methodik, die qualitativ diese höheren geistigen Tätigkeiten untersuchte: Ihre wesentlichen Momente waren zielgerichtete Anregungen zur Denktätigkeit, Selbstbeobachtung und nachträgliche Befragung über die "Denkerlebnisse".

Obwohl Wundt diese Vorgehensweisen als "Scheinexperimente" (122) ablehnte, erwiesen diese sich doch als so fruchtbar, daß es unter der Leitung von K. in seiner Würzburger Zeit (1894-1909) zur Etablierung einer eigenständigen psychologischen Schule, der Würzburger Schule, kam. Bedeutende Erkenntnisse konnten gewonnen werden, so z.B. die Einsicht, daß Denkprozesse unabhängig von Assoziationsvorgängen verlaufen (Überwindung der klassischen Assoziationstheorie) und einen weitgehend unanschaulichen Charakter haben.

Obgleich diese "qualitative" Methodik spätestens seit dem "Methodenstreit" der fünfziger Jahre (A. Wellek gegen P. R. Hofstätter) ins Abseits geriet, ist sie nach Ansicht der Vfn. nicht überwunden. Mit H. und L. Sprung konstatiert sie: "Eine qualifizierte experimentelle Selbstbeobachtung ist konstitutiver Bestandteil echter Psychologie" (124). Heutzutage wird sie in der sogenannten "kognitiven Psychologie", die allerdings aufgrund einer viel moderneren Experimentiertechnik (Computereinsatz zur Analyse der Ergebnisse von Denkversuchen) un-gleich genauere Resultate als die Würzburger Schule zu erzielen vermag (122), weiterentwickelt (vgl. auch die interdisziplinäre Fachkonferenz in Würzburg 1994 anläßlich der Gedenkfeier zur Berufung von K. nach Würzburg vor 100 Jahren).

Auf philosophischem Gebiet ist K. vor allem in zweierlei Weise bedeutsam hervorgetreten: Zum ersten hat er die Konzeption einer induktiven Metaphysik, die in ständiger Wechselwirkung mit den Einzelwissenschaften steht, entwickelt. Sympathisch ist der Vfn., daß K. die Unsicherheit dieses metaphysischen Wissens unterstreicht. Es ist stets so hypothetisch wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf denen es beruht. So be-griffen, ist es davor gefeit, dazu mißbraucht zu werden, An-dersdenkende als "Verrückte" in psychiatrische Kliniken einweisen zu lassen, wie in der Sowjetunion und anderen realsozialistischen Staaten geschehen. Erkenntnisunsicherheit in weltanschaulichen Fragen wird zur Voraussetzung für wahre Toleranz (81).

Noch wichtiger als diese Metaphysikkonzeption ist der ihr zugrundeliegende kritische Realismus, den K. vor allem in Auseinandersetzung mit dem Konszientialismus (Mach, Avenarius) und dem Phänomenalismus der Neukantianer entwickelt. Den Begriff "Realität" reserviert K. hierbei für die tatsächliche Außenwelt, wie sie objektiv und unabhängig von unserem Denken und Wahrnehmen existiert. "Wirklichkeit" jedoch meint nur die "Wirklichkeit des Bewußtseins".

Da erhebt sich die Frage, ob dieser "Wirklichkeit" denn auch Realität zugrundeliegt. Der Konszientialismus verneint diese Frage schlechthin. Der Phänomenalismus räumt ein, daß es zwar Realität gibt, diese aber nicht zu erkennen wäre. Der kritische Realismus hingegen versucht, ein Verfahren zu entwickeln, das in der Wirklichkeit des Bewußtseins und aus ihr heraus zu den bewußtseinstranszendenten Realitäten vordringt. Dieses Verfahren nennt K. "Realisierung". Sein Hauptwerk trägt diesen Titel. Es ist in seiner Intention als ein Gegenstück zur Kantschen "Kritik der reinen Vernunft" konzipiert und soll als "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Realwissenschaft wird auftreten können", aufgefaßt werden (109).

In der Würdigung von K.s kritischem Realismus setzt sich die Vfn. vor allem mit den Marxisten J. B. Moltschanow, J. B. Nowik, R. Jeschonnek, K. F. Wessel und W. D. Gudopp auseinander. Sie zeigt gegenüber den meisten dieser Autoren, daß entgegen einem Vorurteil in der gängigen marxistischen Philosophiehistoriographie auch in der Zeit nach Hegel ein bedeutender Erkenntnisfortschritt in der sogenannten "bürgerlichen Philosophie" verzeichnet werden konnte, wobei gerade der kritische Realismus mit seiner programmatischen Nähe zu den Naturwissenschaften keinen geringen Anteil hatte. Darüber hinaus würdigt die Vfn. K.s Offenhalten der letzten existentiellen Lebensfragen: "Die Dimension des Letzten, Existentiellen bleibt trotz aller rationaler Argumente für und wider letztlich immer einer persönlichen Glaubensentscheidung vorbehalten" (VII).

Die Konzentration auf die Auseinandersetzung mit der marxistischen Literatur, die der Diskussionslage in der ehemaligen DDR geschuldet war, mußte natürlich zwangsläufig zu einer Vernachlässigung und z.T. auch Mißinterpretation (vgl. vor allem die mißverständlichen Bemerkungen über K. Popper auf S. 129 trotz des aussagekräftigen Zitats auf S. 85 und Poppers eigene Darstellung in "Ausgangspunkte", Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1984, 103 u. 125 ff.) der modernen Realismusdebatte, wie sie im westeuropäischen bzw. englischsprachigen Raum stattfindet, führen. Solche Problemfelder wie die des hypothetischen, des kausalen, des internen, des konstruktivistischen oder des verifikationistischen Realismus, wie sie einerseits in der Nachfolge, aber andererseits auch quer zu dem klassichen Realismus heutzutage in sublimer Argumentation bearbeitet werden, gerieten nicht in das Blickfeld der Vfn. Auch die besonders interessante semantische Realismusdebatte, die von Michael Dummet in Fortführung Wittgensteinscher Ansätze inauguriert wurde, fand keine Erwähnung. Für den Theologen ist gerade sie bemerkenswert, weil sie sich in der sprachanalytischen Religionsphilosophie niederschlug. Beispielhaft wäre hier D. Z. Phillips zu nennen, der ebenfalls unter Berufung auf L. Wittgenstein eine Position jenseits der klassischen Gegensätze von Idealismus, Phänomenalismus und Realismus sucht (vgl. W. Flach, "Reden von Gott", Bericht über die siebente europäische Religionsphilosophiekonferenz, in: Standpunkt, Ev. Monatsschrift, Berlin: Union Verlag, 1989, 4).

Diese Bemerkungen erhellten, daß nicht nur für den Philosophen, sondern auch für den Theologen das Realismusproblem nach wie vor höchst aktuell ist. Durch eine Beschäftigung mit Philosophen wie O. Külpe erfährt es die notwendige philosophiegeschichtliche Rückkoppelung. Hierzu einen Beitrag unter den schwierigen Bedingungen der DDR geleistet zu haben, ist das bleibende Verdienst der Vfn.