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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

715–717

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Günzler, Claus

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer. Einführung in sein Denken.

Verlag:

München: Beck 1996. 195 S. kl. 8 = Beck'sche Reihe, 1149. Geb. DM 22,-. ISBN 3-406-39249-0.

Rezensent:

Werner Zager

Der Vf. legt mit diesem flüssig und verständlich geschriebenen Buch eine solide, aus langjähriger Forschung erwachsene Einführung in das philosophische Denken Albert Schweitzers vor. Stellte uns Erich Gräßer 1979 "Albert Schweitzer als Theologen" vor (vgl. ThLZ 107 [1982] 213-216), so macht uns nun G. mit dem Philosophen Schweitzer bekannt. Damit vermag er eine bislang bestehende Forschungslücke zu schließen: eine eindringende Analyse von Schweitzers Beitrag zur Ethik und Kulturphilosophie im philosophischen Gesamtzusammenhang.

Erfreulich ist, daß der Autor Schweitzer selbst reichlich zu Wort kommen läßt - und zwar nicht nur aus den beiden ersten Bänden seiner Kulturphilosophie, die im Jahre 1923 unter dem Titel "Verfall und Wiederaufbau der Kultur" bzw. "Kultur und Ethik" veröffentlicht wurden, sondern gerade auch aus den zwischen 1931 und 1945 entstandenen Manuskripten zum dritten Band der Kulturphilosophie, der den Titel "Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben" tragen sollte. Die eindrucksvollen Zitate machen durchaus Appetit auf "Kulturphilosophie III", die G. zusammen mit Johann Zürcher als vierten Band der Schweitzerschen Nachlaßausgabe im Verlag C. H. Beck veröffentlichen wird (vgl. zu Bd. 1: ThLZ 120 [1995] 823-825).

Der Vf. hat seine Ausführungen übersichtlich in fünf Kapitel untergliedert: "I. Absage an die Fachsprache: Schweitzers Denkform" (9-25), "II. Im Zeichen der Aufklärung: Schweitzers Kulturkritik" (26-54), "III. Suche nach dem ,Grund-akkord': Zur problemgeschichtlichen Genese der Ehrfurchtsethik" (55-87), "IV. Der ,neue Weg': Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben" (88-166) und "V. Ethik und Weltanschauung: Schweitzers ungelöstes Problem" (167-182).

Charakteristisch für Schweitzers Denken ist die "problemgeschichtliche Perspektive", d. h. die Erfassung eines Problems aus dessen geschichtlicher ,Selbstentfaltung', mit deren Hilfe dann die Lösung angebahnt wird. So verfährt Schweitzer sowohl bei seiner Jesus- und Paulusforschung als auch innerhalb seiner Kulturphilosophie. Daß er Menschen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft und Bildung anzusprechen vermag, dürfte mit dem von ihm praktizierten ,elementaren Denken' zusammenhängen, das "die vordergründig-praktischen Antworten des gesunden Menschenverstandes aufgreift und vertiefend weiterdenkt" (20). Das Denken Schweitzers erweist sich schließlich als überkommene Grenzen sprengend: seien es die zwischen Theologie und Philosophie (vgl. dazu den Abschnitt "Ehrfurchtsethik und Nächstenliebe: Schweitzers theologischer Hintergrund": 145-154), zwischen Religion und Denken oder zwischen Philosophie und Naturwissenschaft.

Die Bindung an den Rationalismus, die Aufklärung und die Humanitätsphilosophie der deutschen Klassik ermöglicht Schweitzer seine hellsichtige Kulturkritik - geschrieben im Schatten des Ersten Weltkrieges -, speziell seine Kritik am Nationalismus und dessen sogenannter ,Realpolitik'. Seine "Prognose von der heraufziehenden Inhumanität in den 30er und 40er Jahren" sollte sich leider als nur allzu richtig erweisen (34): in dem "Siegeszug des ,Neoprimitivismus'" (42 ff.) im nationalsozialistischen Deutschland. In diesen Kontext gehört auch die Begegnung mit Ernst Cassirer, einem der führenden Philosophen unseres Jahrhunderts, der sich zustimmend zu Schweitzers Philosophie äußerte (34-42).

In seiner Ethik der ,Ehrfurcht vor dem Leben' vollzieht Schweitzer eine "Gratwanderung zwischen Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer": "Methodisch bezieht er sich unübersehbar auf Kants vernunftkritischen Anspruch, inhaltlich hingegen auf Schopenhauers empirische Fundierung der Ethik" (59 f.). G. erkennt in Schweitzer einen "Verfechter des nachmetaphysischen Denkens, der auf eine realitätsbezogene Ethik der Anerkennung fremder Lebensansprüche hinauswill und sich dabei auf Schopenhauers Modell des Vorrangs von Lebenswille und Leiberfahrung vor dem erkennenden Subjekt à la Kant beruft, zugleich aber dessen lebens- und weltverneinende Deutung des Seins ebenso ablehnt wie die der Brahmanen oder Buddhas" (71).

Da in der Natur das Recht des Stärkeren gilt, ist es Schweitzer verwehrt, sein ethisches Prinzip der ,Ehrfurcht vor dem Leben' aus dem Naturgeschehen abzuleiten. Die Begründung der Ethik muß folglich auf jede Weltdeutung verzichten. Die ,Hingebung an Leben aus Ehrfurcht vor dem Leben' erwächst aus dem "Bewußtsein des Lebens inmitten von Leben" - und zwar nicht "denknotwendig", aber doch "folgerichtig" (118). Nach Schweitzer bedarf es keiner Werthierarchien, Regelsysteme oder Tugendkataloge, um das leitende ethische Prinzip mit der Lebenswirklichkeit zu vermitteln. Vielmehr "trifft" der einzelne - und darin besteht die Radikalität der Schweitzerschen Ethik - "seine konkreten Entscheidungen unmittelbar vom Leitprinzip her" (129).

In einem eigenen Abschnitt (154-166) setzt sich G. mit der an Schweitzers Ethik geübten Kritik eingehend auseinander. Ne-ben dem Zurückweisen unberechtigter Kritik räumt er auch Schwächen bzw. die Ergänzungsbedürftigkeit der Ehrfurchts-ethik ein: "Schweitzers im Letztbegründungsrationalismus verwurzelte Überzeugung, daß aus einem einzigen ethischen Prinzip heraus das gesamte Feld der sittlichen Entscheidungen zu erfassen sei, zeugt von einer verkürzten, weil rein naturphilosophischen Wahrnehmung der Realität und übersieht die soziale, vor allem die gesellschaftlich-institutionelle Wirklichkeit mit den ihr eigenen Konflikten" (162).

"Schweitzers ungelöstes Problem" besteht darin, aus seiner Ethik eine (neue) Weltanschauung zu entwickeln, die Antwort gibt auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens im Universum. Dies Problem ist aber unlösbar, da die Ehrfurchts-ethik "in ausdrücklichem Gegensatz zum nichtethischen Weltgeschehen entworfen wird" (170 f.). Nach Auffassung des Vf.s wäre es "wohl konsequent gewesen, von einer Lebensanschauung der mystischen Weltverbundenheit zu sprechen, die die Welterkenntnis unterläuft und dafür die Ethik zu vertiefen vermag" (179).

Im Blick auf eine mögliche weitere Auflage sei noch folgender Wunsch geäußert: Da das Buch nicht allein für ein philosophisch gebildetes Fachpublikum geschrieben ist, wäre es hilfreich, wenn anhangsweise eine knappe Erklärung der verwendeten philosophischen Fachausdrücke beigegeben würde.

Ein Anhang (183-195) mit Zeittafel zur Vita Schweitzers, Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister rundet das gehaltvolle Buch ab. G.s neuestem Opus ist eine aufmerksame Leserschaft zu wünschen - nicht nur innerhalb des Freundeskreises von Albert Schweitzer, sondern auch weit darüber hinaus. Ich schließe mich der vom Autor geäußerten Hoffnung an, mit dem in diesem Buch gezeichneten "Porträt des Denkers Albert Schweitzer dazu beizutragen, daß sein Versuch einer Philosophie mit ,Schwielen an den Händen'... in der Fachzunft der Philosophen nicht länger der intellektuellen Unterschätzung anheimfällt" (182). Damit möchte ich ausdrücklich die "Fachzunft" der Theologen mit einbeziehen, der die Entdeckung und Fruchtbarmachung des theologischen und philosophischen Gedankengutes Albert Schweitzers weithin erst noch bevorsteht.