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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1088–1092

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Obermann, Andreas

Titel/Untertitel:

Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XI, 479 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament: 2. Reihe, 83. Geb. DM 128,-. ISBN 3-16-146530-X.

Rezensent:

Hans Hübner

Andreas Obermann erschließt mit seiner bei Martin Karrer gefertigten Dissertation das Joh in dreifacher Weise: in seinen alttestamentlichen Wurzeln, in der inneren Stimmigkeit der alttestamentliche Zitate - es ist in der Tat eine derartige Strategie des Evangelisten im Ganzen dieser Zitate offenkundig - und in der durch die Zitate wesenhaft mitbestimmten theologischen Konzeption des Vierten Evangeliums. Die Biblische (= gesamtbiblische) Theologie des NT - aber auch die Theologie des NT als solche - hat durch O.s Buch reiche Förderung erfahren. Der Autor dieser Zeilen, der sich ja auch mit der in dem zu rezensierenden Werk ausgebreiteten Materie ausführlich befaßt hat, bedauert nur, daß er im Joh-Teil seiner Biblischen Theologie des NT (3. Bd., 1995) auf O.s Dissertation noch nicht eingehen konnte. Denn ich habe noch manches aus ihr gelernt. In wichtigen Grundfragen bin ich m. E. mit dem Vf. des Buches einig. Und er sagt es ja auch mehrfach. Aber es ist gar nicht so sehr meine inhaltliche Zustimmung - auf sie kann und darf es ja in einer Rezension nur recht bedingt ankommen! Vielmehr sind es die überzeugende Weise der Darlegung, die saubere methodische Argumentation, die sorgsame Art der Beweisführung und schließlich der in sich schlüssige Aufbau des Werkes, die das Buch empfehlenswert machen. Für ein erstes Vorverständnis zunächst wenige Zitate:

- S. 40 folgert O. von zwei konkreten Joh-Stellen her, "daß bei einer vordergründig angesprochenen Einzelstelle der Schrift gleichzeitig die Schrift in ihrer Gesamtheit mitzuhören ist".

- S. 216: "Das Joh als eine bewußte Komposition des Evangelisten wird auch deutlich durch eine innere Verbundenheit einzelner Zitate."

- S. 430 (letzte Seite der Darstellung): "Die mit dem Glauben verbundene Intention, das ewige Leben zu vermitteln (20,31a), rückt das Joh in die Nähe zur Schrift, deren Worte Leben aus sich heraussetzen ... Der Evangelist ist ein Schrifttheologe mit einem hohen Reflexionsniveau und -potential, der im Joh einen theologischen Entwurf von hoher methodischer Geschlossenheit und hermeneutischer Reflexion darbietet. Der wesentliche Hintergrund der johanneischen Darstellung Jesu ist die Interpretation der Schrift."

An diesem Lob des Vf.s über den Evangelisten kann er selbst etwas partizipieren. Anders gesagt: Der Evangelist hat seinen Interpreten gefunden. Doch zunächst die Übersicht über das Buch! Die Gliederung geht sehr ins Einzelne, deshalb hier nur die Hauptüberschriften:

I. Teil: Die Schrift und deren Zitate im Joh - eine Einführung

1. Die johanneischen Schriftzitate und ihre Wahrnehmung in der Forschung

2. Die Schrift als Bezugsgröße im Joh - ein Befund

3. Die Schriftzitate im Joh - eine Annäherung

II. Teil: Die Aneignung der Schrift und ihre Bedeutung im Joh - eine exegetische Untersuchung

1. Die Schrift als Deutehintergrund des Christusgeschehens

2. Das Christusgeschehen als explizite Erfüllung der Schrift

3. Die johanneische Schriftaneignung im Licht des Christusgeschehens - ein Resümee

III. Die Bedeutung und die Funktion der Schrift im Joh - zum Schriftverständnis des Evangelisten

1. "Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz geschrieben hat und die Propheten: Jesus, Josephs Sohn, aus Nazaret" - zur Hermeneutik des Evangelisten

2. "Dies erkannten seine Jünger zunächst nicht, doch als Jesus verherrlicht war, da erinnerten sie sich, daß dies von ihm geschrieben war" - zum Gegenwartsbezug der johanneischen Schriftaneignung

3. Das Joh ist "geschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen" - Überlegungen zum historischen Ort der johanneischen Schriftaneignung

IV. Der Evangelist als Exeget der Schrift - Summe und Ausblick

Aus dieser Skizze der Gliederung geht der Aufbau des Werkes deutlich hervor. Auffällig ist die mehrfache und betonte Verwendung des Begriffs Schriftaneignung - m. E. ein recht glücklicher Begriff; denn mit ihm kommt gut zum Ausdruck, daß der Evangelist die Schrift Israels in seine theologische Reflexion hineinnimmt, daß also diese Schrift eine theologische Umprägung erfährt, sie "erleidet". Schon mit diesem Begriff wird evident, daß der Evangelist keinesfalls den Ursprungssinn seiner alttestamentlichen Zitattexte theologisch einbringt, sondern wir zwischen diesem Ursprungssinn (alttestamentlicher Literalsinn) und dem Rezeptionssinn (den er freilich als Ursprungssinn versteht!, s. u.) zu unterscheiden haben. Auch für das Joh ist also aus unserer heutigen exegetischen Perspektive zwischen dem Vetus Testamentum und dem Vetus Testamentum in Novo receptum zu differenzieren.

In Teil I.1 "Die Forschungsgeschichte" - beginnend mit Ferdinand Christian Baur, Albrecht Thoma und vor allem August Hermann Franke und endend mit meiner Biblischen Theologie des NT - referiert er jedenfalls meine aus dieser Unterscheidung resultierende Auffassung so (auch implizit in dem, was er dann im Verlauf seiner Monographie zustimmend zu meiner Konzeption sagt), daß die genannte Differenzierung anscheinend von ihm geteilt wird. Nochmals: Nicht deshalb urteile ich so positiv über O., sondern weil er überzeugend exegesiert und argumentiert. Aber man wird es einem Rez. nicht verwehren, wenn er in einem entscheidenden Punkt Übereinstimmung zwischen einem Autor und sich registriert.

Der soeben genannte forschungsgeschichtliche Abschnitt (über 30 Seiten) führt gut in die Joh-Forschung des 19. und 20. Jh.s ein. Wiederum zeigt sich, daß der Blick auf die Forschungsgeschichte das Verständnis der Sachproblematik erheblich fördern kann und daß ihre Darstellung somit nicht nur ein Hilfsmittel für den sie praktizierenden Nachwuchswissenschaftler ist. Hilfreich ist auch der Abschnitt über die Schrift als Bezugsgröße im Joh mit der Untersuchung der Wortfelder "Schrift", "Schriften" und "Gesetz", ebenso die Ausführungen über Mose. Fazit (63): "Die Darstellung des johanneischen Christus gründet bezüglich ihrer Wahrhaftigkeit und Gültigkeit in einer vollmächtigen Inanspruchnahme der Schriften als bleibend gültige und gegenwärtig ergehende Anrede Gottes." Mit diesem Satz ist schon viel antizipiert, was O. dann noch ausführlicher darlegen wird.

O. führt nach der Thematisierung der Schrift bzw. der Schriften über zum Thema Schriftzitate im Joh. Nach einem kurzen Hinweis auf E. Fuchs und K. Berger erläutert er den "Befund" nach Vorkommen und äußeren Kriterien für die Unterscheidung der Zitate (Orte, Personen usw.) und widmet dann seine Aufmerksamkeit den Einleitungformeln. Damit hat er die Voraussetzungen geschaffen, um in einer "exegetischen Untersuchung" die Aneignung der Schrift und ihre Bedeutung im Joh zu untersuchen.

In den folgenden Teilen intensiviert und verdichtet O. die hermeneutische Reflexion. Die Sequenz seiner Argumentationslinie zeigt, wie gut er verstanden hat, daß das Joh eine eminent hermeneutische Schrift ist und daß sie nur versteht, wer bereit ist, dem Evangelisten auf seinem hermeneutischen Wege zu folgen. Ohne ein Sensorium für hermeneutisches Denken ist es unmöglich, das Joh theologisch zu verstehen. Johanneische Theologie ist essentiell hermeneutische Theologie. Letztlich gilt das für das ganze NT. Sowohl der Abschnitt II.1 als auch II.2 endet jeweils mit einer hermeneutischen Zwischenreflexion. Für II.1 wurde bereits oben ein Zitat von S. 216 gebracht, von noch größerer Wichtigkeit ist der hermeneutische Schlußabschnitt von II.2.

Diese "hermeneutische Zwischenreflexion" - sie ist weit mehr als eine Zwischen-Reflexion! - thematisiert das Verhältnis von Erfüllungszitaten und Dramaturgie der Passionserzählung. O. stellt drei Aspekte heraus: 1. "Die Schrift als wirkmächtiges, Geschehen aus sich heraussetzendes Wort Gottes", 2. "die zeitliche Dehnung des Geschehens" und 3. "die latente Schilderung des Leidens Jesu". Ich greife hier nur den ersten Aspekt heraus, weil er der theologisch entscheidende ist (325 ff.). O. spricht von der "theonomen Wirkmächtigkeit der Schrift". Prägnant sei sie in Joh 19,36a ausgedrückt: egéneto gàr tauta hína hé graphè plerothe (326). "Da sich das Geschehen wegen der Erfüllung der Schrift überhaupt erst ereignet (hína) und damit wesentlich auf die Schrifterfüllung hinzielt, erscheint die Schrift selbst im Rahmen des göttlichen Wirkens in Jesus als die Initiatorin des Geschehens, sofern Gott das in ihr Angesagte verwirklicht." Die Schrift setzt also gewissermaßen das Geschehen selbst aus sich heraus. Kurz und zugespitzt (Hervorhebung durch mich): "Die Schrift geschieht". Geschieht aber und wirkt die Schrift durch sich selbst, so ist die Analogie mit Paulus offenkundig, wenn nach Röm 1,16 f. das Evangelium als die bunamis theu das Heil aus sich setzt. Es ist schon ein beachtenswerter Gedanke, wenn O. für Joh die Schrift als "wirkmächtiges Wort" herausstellt.

Der III. Teil thematisiert das Schriftverständnis des Evangelisten. Programmatisch heißt es (378; H. d. m.): "Allein in christologischer Perspektive sowie Aneignung werden Worte der Schrift zum gegenwärtig ergehenden Wort Gottes!" O. spricht in diesem Zusammenhang von der richtigen, nämlich christologischen Hermeneutik (380). Gottes Wort, die Wahrheit, ergehe aber nicht nur durch die Schrift, sondern auch durch den Mund Jesu (382):

"Für die Hermeneutik des Evangelisten können wir festhalten, daß den Hörern der Worte Jesu und seiner Botschaft insgesamt der logos tu theu in nicht zu überbietender Prägnanz und Eindeutigkeit zuteil wird." Also (387): "Jesus ist als der fleischgewordene logos der logos tu theu und damit die Offenbarung Gottes schlechthin." Von da aus kommt O. auf den Gegenwartsbezug der johanneischen Schriftaneignung zu sprechen. Das tut er mittels des Begriffs der Gleichzeitigkeit. Bekanntlich ist dieser Begriff für das philosophische und theologische Denken Sören Kierkegaards konstitutiv. Aber O. geht in diesem Zusammenhang erstaunlicherweise nicht auf den Dänen ein. Inwiefern das, was er am hermeneutischen Denken des Evangelisten herausfindet, mit Kierkegaards Verständnis von Gleichzeitigkeit verwandt ist, kann hier nicht bedacht werden, bleibt aber auf jeden Fall eine mehr als interessante Frage. O. findet die Gleichzeitigkeit sowohl auf der Ebene der Erzählung der Ereignisabfolge im Joh als auch auf der Ebene der Reflexion des Evangelisten. Für diesen ist sie ein bewußt theologisches Anliegen, "um das Christuszeugnis der Schrift zu Gehör zu bringen" (391; H. d. m.): "Hermeneutisch ist zu schließen, das der Evangelist die Schrift als gegenwärtig gültige sowie redende versteht und sich ihr Offenbarungspotential nutzbar machen will." Geht es aber um das Christuszeugnis der Schrift, so ist es nur konsequent anzunehmen, "daß die Schrift schon auf Christus hin geschrieben werden konnte und somit Christuszeugnis seit jeher ist" (397; H. d. m.).

Diese Interpretation des Evangelisten durch O. hat natürlich Konsequenzen:

Unterscheidet man in grundsätzlicher Weise Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum, so ist natürlich Israel der primäre Adressat des Vetus Testamentum, der primäre Adressat des Vetus Testamentum in Novo receptum hingegen die Kirche. Nach der Sicht O.s ist zwar der primäre Adressat des Vetus Testamentum immer noch Israel bzw. die Juden, doch der eigentliche, wenn auch nicht chronologisch primäre ist die Kirche bzw. der an Jesus als an die Offenbarung Gottes Glaubende. Man wird O. zustimmen können, daß, sofern es um die Intention des Vierten Evangelisten geht, in der Tat für das AT, eben weil es bereits in christologischer Konzeption geschrieben wurde, die Kirche die eigentliche Adressatin ist. Dieses Ergebnis kann jedoch, wie sofort evident ist, nicht generell in systematisch-theologischer Sicht gelten. Was freilich über die johanneische Perspektive hinaus von theologischer Relevanz sein dürfte, ist die Relation Anrede durch Gottes Offenbarung - Glaube, auch und gerade im Medium des Geschrieben-Seins der Wortes Gottes.

Teil III.3 bringt historische und auslegungsgeschichtliche Überlegungen. Zitiert sei ein Spitzensatz, von O. jedoch nur im Petitdruck gebracht (Zusammenhang mit den Schriftzitaten von Pseudo-Philo im Liber Antiquitatum Biblicarum), ein Satz von hohem theologisch-christologischen Gewicht (411):

"So geht es im Joh nicht primär um den Erweis der Erfüllung expliziter Verheißungen oder Ankündigungen, sondern um das Geschehen der Schrift im Auftreten und Wirken Jesu. Die Schrift geschieht während des Wirkens Gottes durch Jesus und setzt im Rahmen dieses göttlichen Wirkens ein Handeln aus sich heraus."

Zum Vergleich der joh Schriftaneignung im Lichte der zeitgenössischen jüdischen Auslegungsmethodik stellt O. für Qumran, Philo und Josephus ein negatives Ergebnis fest. Was die rabbinische Auslegungstradition angeht, diagnostiziert er eine Spannung von Nähe und Distanz. Die Nähe zwischen Joh und Rabbinen beschränkt sich lediglich auf Formales, sie ist somit für das theologische Verstehen des theologisch konzipierten Joh im Grunde irrelevant. Die Distanz umschreibt er wie folgt (417):

"Der wesentliche Differenzpunkt der johanneischen Auslegungsweise zur gesamten nichtchristlich-jüdischen Auslegungsweise ist ein theolo
gisch-inhaltlicher, nämlich die Interpretation der Schrift in ihrer christologischen Ausrichtung. Die Christologie als das wesentliche hermeneutische Vorverständnis zur rechten Schriftauslegung sowie Jesus als christologischer Fixpunkt der Aussage der Schrift bzw. als logos tu theu in Person ... sind die entscheidenden Kennzeichen für die Eigenständigkeit der johanneischen Schriftauslegung im Vergleich mit der zeitgenössisch-jüdischen Schriftexegese."

Was bedeutet dieses Ergebnis O.s? Ich sage es als ceterum censeo: Das Judentum ist die Religion der Biblia Hebraica in ihrem Ursprungssinn, der Glaube der Kirche basiert hingegen auf dem Christus-Kerygma und dem Vetus Testamentum in Novo receptum, also auf dem Rezeptionssinn des AT. Der Widerspruch gegen dieses ceterum censeo ist vorprogrammiert.

Es bleibt noch die Frage, ob der Vierte Evangelist sein Evangelium selbst im Rahmen des geschriebenen Wortes Gottes verstanden sehen will. Eine solche Annahme legt sich nahe, da die Evangelien-Schrift die Worte der göttlichen Offenbarung als Offenbarung lesen läßt. Und so verwundert es nicht, wenn O. schreibt (420):

"Da das Joh primär den Weg Jesu als des logos tu theu schildert und seine Kunde von Gott ... in den Worten Jesu festhält und Jesu Worte in einem engen sachlich - inhaltlichen ... wie auch einem formalen ... Zusammenhang zu Worten der Schrift stehen, rückt auch das Joh von seiner Anlage und seinem Anspruch her selbst in die Nähe der als heilig anerkannten Schriften."

Das Schlußkapitel bietet in konzentrierter Form eine gute Zusammenfassung der hermeneutischen Theologie des Evangelisten, der uns in überzeugender Weise noch einmal als theologisch reflektierender Schrifttheologe vor Augen gestellt wird.

Es versteht sich von selbst, daß die generelle Zustimmung zur Grundausrichtung des Buches nicht die Zustimmung zu jedem Detailurteil impliziert. Doch die Auflistung aller "Streitpunkte" zwischen dem Autor und dem Rez. sind wohl kaum die Aufgabe einer Rezension.

Insgesamt also ein hervorragendes Buch, sicherlich eins der besten, das im Laufe der letzten Jahre über die Theologie des Joh geschrieben wurde. Wer es durchgelesen, besser: durchgearbeitet hat, wird gut in das theologische und hermeneutische Denken des Evangelisten eingeführt bzw. ein noch tieferes Verständnis dieses Denkens gewinnen. Dem Vf. sei dafür gedankt.