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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

833–835

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Göbel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Okzidentale Zeit. Die Subjektgeltung des Menschen im Praktischen nach der Entfaltungslogik unserer Geschichte.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder 1996. 357 S. 8 = Studien zur theologischen Ethik, 70. Kart. DM 65,-. ISBN 3-7278-1025-4 u. 3-451-23968-X.

Rezensent:

Günther Keil

Liegt der abendländischen Geschichte - der Vf. nennt sie die "okzidentale Zeit" - ein gemeinsamer Impetus zugrunde, der sich dann in einer durchgängigen Logik, wenn auch mit verschiedenen Wandlungen in den verschiedenen Epochen bis zur Gegenwart durchhält? Ist also diese okzidentale Zeit etwa von Anselm von Canterbury (mit Anfängen schon in karolingischer Zeit) bis zur sogenannten "Postmoderne" von einer einheitlichen Entwicklungslogik eines einheitlichen Gedankens bestimmt? Wenn ja, welcher geistige Grundgehalt könnte das sein? Der Vf. sieht ihn in der Subjektgeltung (in der Geltung des Subjektes als oberste Instanz) - wobei dieses Subjekt sowohl das des Menschen als auch das Gottes ist - und im Autonomiegedanken, der aus der Subjektgeltung folgt. Diese Epoche ist wesentlich durch den christlichen Glauben initiiert und ihm verpflichtet. Das ist die spannende These dieses Buches.

Nach einer Einleitung ( 1-6) wird zunächst die zu behandelnde Epoche terminologisch und zeitlich bestimmt ( 7-13) und ihre Grenzen festgelegt, wenn auch zunächst nur rein formal. "Diesen Grenzbestimmungen entsprechend gliedert sich der... Strom geschichtlicher Ereignisse" (dieser Epoche) "zu-mindest in vier elementare Phasen: Die erste erstreckt sich vom 11. bis zum 16. Jh. - sie kann man die Früheuropäische Zeit nennen; die zweite reicht bis zur Wende zum 19. Jh. - für sie ist die Bezeichnung Frühe Neuzeit geläufig geworden; dann folgt ein Abschnitt bis zur Gegenwart - sie heißt heute häufig... Moderne; und schließlich beginnt in unserer Zeit eine neue Geschichtsperiode - sie mag man... als Postmoderne bezeichnen" (63). Diesen ganzen Geschichtszusammenhang bezeichnet der Vf. als "Okzidentale Zeit" (69).

Nach dieser rein terminologischen und formalen Bestimmung dieser okzidentalen Zeit folgt nun die Ausarbeitung ihres spezifischen Begriffes und damit ihrer inhaltlichen Bestimmung ( 14-23) nach geschichtslogischen Erörterungen allgemeiner Art:

"Die Okzidentale Zeit ist die um die Wende zum 2. Jahrtausend n. Chr. im westlichen Europa aufgehende, von ihm aus zu globaler Bedeutung sich entfaltende und in dieser Bedeutung andauernde Epoche der Menschheitsgeschichte, in der der Mensch, als Subjekt Wirklichkeit gestaltend, die ihm eigenen Möglichkeiten des Wirklichkeitsbezuges, Maße und Logiken seiner anthropologischen Dimension sukzessive zur Geltung bringt und so das Prinzip der Konstruktion von Wirklichkeit ist" (86).

Dieser Teil I versteht sich dabei als "Exposition" der ganzen Arbeit. Ihm folgt als Teil II die "Explikation", d. h. der konkrete geschichtliche Aufweis und damit die geschichtlich-konkrete Verifikation der in Teil I aufgestellten These. Dabei setzt der Vf. zunächst bei den spätesten Epochen ein ( 24-29), um dann nach den früheren zurückzufragen, ( 30-50) um schließlich die späteren noch einmal von den früheren her im Zusammenhang aller Epochen zu beleuchten ( 51-54). Dies geschieht unter "A. Die okzidentale Zeit in Neuzeit und Moderne."

Mit K. Marx beginnt die Dimension des Poietischen, in der die Arbeit als vorherrschender und entscheidender Wert entdeckt wird ( 26), die von der Periode des Vitalen (F. Nietzsche, S. Freud) gefolgt wird, in der die Lust das bestimmende Prinzip ist ( 27). Diesen beiden Epochen liegt in der Geschichtsentfaltung die Periode des Praktischen (I. Kant, J. G. Fichte, G. W. F. Hegel) voraus, die vom Gedanken der "praktischen Vernunft" bestimmt ist ( 28). Diese wird wieder geschichtlich von der Periode des Theoretischen (G. Galilei, I. Newton) fundiert, in der die "theoretische Vernunft" (der naturwissenschaftlichen Theorien) dominiert ( 29).

Nun aber gilt es, die Initiationsimpulse der gesamten okzidentalen Zeit aufzuzeigen. Darauf legt der Vf. besonderen Wert, weil sich von hier aus die Grundinhalte der ganzen Epoche verifizieren müssen. Dies geschieht in "B. Der spekulative Anfang der okzidentalen Zeit". Dabei wird zunächst in Kap. 3 ( 30-32) die Vorbereitung der spekulativen Periode bei Anselm, Thomas und Abälard besprochen und dann in Kap. 4 ( 33-36) die Entfaltungslogik der spekulativen Periode herausgearbeitet mit ihren zwei Konsequenzen: Gott als erkennende Subjektivität und Gott als Welt umfassende Wahrheit.

Besonderes Gewicht legt nun der Vf. auf Meister Eckhart (Kap. 5-7, 37-46) und Nikolaus von Kues (Kap. 8, 47-50). Hier sieht der Vf. seine schon genannten Grundthesen in prägnantester Form herausgearbeitet.

"Wie bei Meister Eckhart ist auch bei Nikolaus von Kues die spekulative Subjektgestaltung des Menschen in Gott begründet... Auf sich in seiner Einfachheit zurückblickend, bedient sich der Geist seiner selbst, wie er selbst ein Bild Gottes ist. Zugleich scheint Gott in ihm wieder, und zwar als das Urbild. Auf sich zurückblickend, erfaßt der Geist die eigene Prinzipialität: für sein Erkennen, auch für die Erkenntnis Gottes, in eins mit seinem Begründetsein als Bild in Gott, dem Urbild" (222).

In diesen Kapiteln liegt - freilich auf das Thema beschränkt - eine Durchdringung der Gedanken Eckharts und Nikolaus' vor, die meines Erachtens nur schwer zu überbieten ist. Hier in diesen Kapiteln erreicht die Arbeit eine beachtliche Höhe. Mag es auf den ersten Blick auch verwunderlich erscheinen, ausgerechnet in Eckhart und Nikolaus die okzidentale Zeit entscheidend kulminiert zu sehen, so sind doch diese Gedanken des Vf.s recht gut begründet. Zugleich ist diese Arbeit damit ein Beleg dafür, wie die Wertschätzung dieser beiden Denker gegenwärtig im-mer noch im Wachsen ist.

Nun wird "C. Die Okzidentale Zeit im Zusammenhang ihrer Perioden" ( 51-56) dargelegt. Hier erhebt sich freilich im eigenen Weiterdenken der Gedanken des Vf.s eine Frage: "An dessen [des 19. Jh.s] Ende entwickeln sich Theorien, die Macht und Größe der menschlichen Triebnatur zur Geltung bringen und die vitale Revolution unserer jüngeren Vergangenheit vorbereiten" (239). War bisher die okzidentale Zeit durch das allgemeingültige Subjekt Gottes bzw. des transzendentalen Ichs charakterisiert, wird das Subjekt hier auf einmal zur empirischen und im rein Partiellen bleibenden Triebnatur des Vitalen reduziert. Kündigt sich hier nicht die Dekadenz der okzidentalen Zeit an, die die Bewußtseinshelle des streng Gedachten in die Bewußtseinstrübe des Triebhaft-Vitalen zurückentwickelt? Doch das ist eine Frage, zu deren Diskussion gerade dieses Buch anregt.

Teil III "Die Subjektgeltung des Menschen im Praktischen im christlichen Kontext der okzidentalen Zeit (Applikation)" ( 55-72) fällt nun gegenüber dem bisher Gesagten erheblich zurück. War z. B. bisher die Autonomie im Sinne Kants inauguriert (was ja auch in der ausführlich erörterten Allintellektualität Eckharts einzig konsequent ist), wird sie nun im Sinne A. Auers als eingeschränkte Autonomie interpretiert (193 ff.) Auch die Vernunft wird jetzt - im Gegensatz zu Eckhart und Nikolaus - ins Stufensystem des Thomas (Vernunft - Übervernunft = Offenbarung) zurückgeführt. Hier biegt die Arbeit auf einmal in ein thomistisch-katholisches Denken zurück, auch wenn sie grundsätzlich am Autonomiegedanken festhält, wenn auch mit entsprechenden Einschränkungen.

Doch wie dem auch sei: Hier ist eine Arbeit vorgelegt, die vieles zu bedenken gibt und manches klärt. Besonders daß die Subjektivität als positiv aufleuchtet, weil in der Subjektivität Gottes begründet, daß von daher die Autonomie der Vernunft ebenfalls positiv erscheint, ja daß die ganze okzidentale Zeit als christlich begründet und als aus christlichen Gedanken hervorgewachsen aufgezeigt wird, sind bemerkenswerte Überlegungen, besonders in einer Zeit, in der das Christliche immer mehr zurückgedrängt zu werden scheint. Wir wünschen deshalb diesem gewiß nicht ganz leicht geschriebenen Buch aufmerksame Leser und eine gute Verbreitung.