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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

707–709

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gander, Hans-Helmuth [g.]

Titel/Untertitel:

"Verwechselt mich vor allem nicht!" Heidegger und Nietzsche.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 1994. 204 S. 8o = Martln-Heidegger-Gesellschaft, 3. Kart. DM 58,-. ISBN 3- 465-02659-4.

Rezensent:

Jörg Salaquarda

Ein anregender Band, der zum Mit- und Weiterdenken einlädt, selbst dort, wo er hinter berechtigten Erwartungen zurückbleibt. - Verwechselt mich vor allem nicht", heißt es im Vorwort zu Nietzsches Ecce homo. Die Martin-HeideggerGesellschaft wählte diese Mahnung als Titel für ihre im Oktober 1993 abgehaltene Tagung zum Verhältnis von Heidegger und Nietzsche und für die nun von Gander besorgte Veröffentlichung der bei dieser Gelegenheit gehaltenen Vorträge. Gegenüber Heideggers Umgang mit Nietzsche scheint die dringende Aufforderung durchaus angebracht zu sein. Denn zu den Motiven und Richtungen, gegen die Nietzsche sich verwahrte, gehörte auch die "metaphysische Verdrehung", an der er "beinahe erstickt" wäre.(1) Heidegger aber hat Nietzsches Denken im Zuge seines Gesprächs mit der abendländischen Metaphysik als deren Endgestalt interpretiert. Beide Denker zielten auf eine "Überwindung" der Metaphysik ab, verstanden aber unter ,Metaphysik' je etwas anderes. Diese Spannung wird von fast allen Beiträgen thematisiert, bei einigen steht sie im Zentrum.

Um die Gefahr einer Verwechslung gering zu halten, greifen viele Interpretationen den Begriff "Auseinandersetzung" auf. Gander spricht in seiner Einleitung (9-15) von verschiedenen "Wegen der Auseinandersetzung", insofern die Autorinnen und Autoren des Bandes auch ihre jeweiligen Positionen einbringen, wenn sie sich in das Gespräch Heideggers mit Nietzsche einschalten. Manfred Riedel (Heimisch werden im Denken Heideggers Dialog mit Nietzsche 17-42) rückt das Gespräch in einen umfassenden Horizont, wobei er an Nietzsches unzeitgemäße Rückbesinnung auf die griechische "Agon"-Kultur anknüpft. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche sei ein Agon um das Wahre. Wolfgang Müller-Lauter (Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, 43-71 ) macht durch Bindestrichschreibung ("Aus-einander-setzung", 43) darauf aufmerksam, daß Heideggers Auslegung von vorneherein als Neukonstituierung des von Nietzsche Gedachten im Rückgriff auf das von ihm Ungedachte konzipiert sei.

Im 4. Teil des nach ihm benannten Werks heißt Nietzsches "Zarathustra" die "höheren Menschen" in seinem Reich willkommen. Der Band führt uns unverkennbar in Heideggers Reich. Alle Beiträge gehen von Heideggers Ansätzen und Fragestellungen aus und münden in sie zurück. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es garantiert sogar eine erfreuliche, in Sammelbänden oft vermißte thematische und gedankliche Konsistenz. Etwas anderes ist es, wenn einige Vorträge selbst dann die Bahnen der Heideggerschen Argumentation nicht verlassen, wenn sie Nietzsches Position(en) wiederzugeben scheinen.(2) Da übernimmt "man" wie selbstverständlich auch Züge des Meisters, die sich bei den Adepten eher wie Untugenden ausnehmen. Heidegger hat sich zumeist auf das Gespräch mit den "Großen" der Tradition beschränkt und die sogenannte "Sekundärliteratur" souverän übergangen. Einem Pascal David (Der Metaphysikbegriff bei Nietzsche und Heidegger 109-126) sollte das nicht so leicht von Hand gehen. Er kann nicht annehmen, daß vor ihm noch niemand den Versuch gemacht hat, herauszuarbeiten, was Heidegger und Nietzsche des Näheren unter ,Metaphysik' verstanden haben. Mihály Vajda verzichtet in seiner durchaus interessanten und in ihrer Hauptthese überzeugenden kritischen Auseinandersetzung mit R. Rortys Heidegger-Auslegung (Denken von Ereignis und Methaphysik als Geschichte des Seins, 127-138) ebenfalls darauf, sich nach Vorgängern umzusehen.(3) Leider findet es auch Ingeborg Schüssler (Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger (157-178) nicht der Mühe wert, auf das einzugehen, was die Forschung der letzten Jahrzehnten über Nietzsches vielschichtiges Verständnis von Wahrheit herausgearbeitet hat.(4) So kranken ihre im übrigen gescheiten, Platon in das Gespräch miteinbeziehenden Darlegungen daran, daß sie bei Nietzsche nur die Leugnung der korrespondenztheoretisch gefaßten Urteilswahrheit konstatiert.

Daß es auch anders geht, ohne daß man deswegen "Heideggers Reich" zu verlassen braucht, machen einige andere Aufsätze deutlich. So zeichnet Müller-Lauter in seinem schon erwähnten Beitrag die Entwicklung von Heideggers Bemühungen nach, in Auseinandersetzung mit Nietzsche das Wesen (oder Un-wesen) des Nihilismus immer genauer zu fassen.(5) Der begrenzte Raum verwehrt es auch ihm, Nietzsches Position in gleicher Ausführlichkeit zu Wort kommen zu lassen. Aber er bringt in Anmerkungen und Nebenbemerkungen, unter Einbeziehung der neueren Diskussion, Nietzsche als eigenständigen Gesprächspartner zur Geltung. Mit einem selten behandelten Thema beschäftigt sich Rafael Capurro ("Herausdrehung aus dem Platonismus". Heideggers existenziale Erstreckung der Sinnlichkeit, 139-156). Leiblichkeit und Sinnlichkeit, so arbeitet er in seinem gut belegten, auf viele Bezüge und Diskussionsbeiträge eingehenden Vortrag heraus, sind in Heideggers Analysen keineswegs ausgeklammert, erhalten ihren Ort aber im Rahmen der existenzialen Konstitution des Daseins. Daß (nur) auf diesem Weg eine erfolgreiche "Herausdrehung aus dem Platonismus" geleistet werden kann, leuchtet ein. Allerdings ist auch Nietzsches Berufung auf den Leib ("am Leitfaden des Leibes denken") nicht positivistisch oder gar materialistisch aufzufassen. Günter Figal (Philosophie als hermeneutische Theologie. Letzte Götter bei Nietzsche und Heidegger, 89-108) hebt in seinem konzisen und erhellenden Beitrag Nietzsches und Heideggers Rede von Gott und dem Göttlichen sowohl von der christlichen wie von der philosophischen Theologie ab. Als "hermeneutische Theologie" halte sie im Sagen das präsent, was sich in der gegenwärtigen Konstellation gerade entzieht. Josef Simon schließlich (In der-Welt-sein, 71-88) bringt in seiner sprachphilosophisch fundierten Untersuchung der Grundverfaßtheit der Existenz im Sinne Heideggers eine exemplarische "Aus-einander-setzung" der Positionen Heideggers und Nietzsches(6) in Gang, in die er auch die Stimme Kants einbringt.

Fussnoten:

1 An C. Fuchs, Juni 1878.

2 Anders Parvis Emad (Nietzsche in Heideggers Beiträgen zu Philosophie 179-196), der von vornherein klarstellt, daß es ihm lediglich darum zu tun ist, Heideggers Position zu verdeutlichen. Das ist durchaus legitim.

3 Aus der Fülle der einschlägigen Literatur sei nur auf M. Djuriés Nietzsche und die Metaphysik von 1985 verwiesen, eine Studie, die den Positionen Nietzsches wie Heideggers in ihrer Vielschichtigkeit gerecht wird.

4 Wichtige Beiträge dazu stammen z.B. von J. Simon.

5 In Beschränkung auf die Beiträge zur Philosophie unternimmt dies auch P. Ermad in seinen schon genannten Ausführungen.

6 Ergänzend sei angemerkt, daß W. Müller-Lauter und B. Magnus in ihren Interpretationen von Nietzsches Wiederkunftslehre vorschlugen, diese als "das In-der-Welt-sein des Übermenschen" zu fassen.