Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/1996

Spalte:

872–874

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Döring, Eberhard u. Walter

Titel/Untertitel:

Philosophie der Demokratie bei Kant und Popper. Zum Verhältnis von Freiheit und Verantwortung.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 1995. 274 S. 8o. Kart. DM 48,-. ISBN 3-05-002723-1.

Rezensent:

Ralf Geisler

Wenn eine selbstverschuldete Unmündigkeit als Hauptursache für die gegenwärtige Demokratieverdrossenheit der Deutschen diagnostiziert wird, die sich vor allem an der zunehmenden Abstinenz bei Wahlen und einem Mitgliederschwund der Parteien zeige, liegt es nahe, durch Aufklärung nach einem heilsamen Ausgang zu suchen. Diesem Ziel ist das Buch der Zwillingsbrüder Eberhard und Walter Döring verschrieben, der erste gelernter Philosoph und als Wissenschaftsjournalist tätig, von Haus aus Historiker und liberaler Berufspolitiker der andere.

Die historische Dimension nur knapp skizzierend (Kapitel 2 "Was ist Parlamentarismus?"), ist das Augenmerk auf die philosophischen Grundlagen der parlamentarischen Demokratie gerichtet. Kant und Popper werden als Kronzeugen für die These aufgeboten, die das Axiom der Demokratie als des "Gipfels einer gesellschaftlichen Freiheitsausübung schlechthin" (21) bilde, wonach "die individuelle Freiheit innerhalb einer Gemeinschaft nicht ohne ein Mindestmaß an Verantwortung" (17) zu denken sei und mit einer schrankenlosen Freiheit des Bürgers auch die Abwesenheit von Herrschaftsstrukturen von vornherein ausschließe.

Insofern geht es den Vff. im wesentlichen um das philosophische Geschäft ethischer Grenzziehung: Die Relationen von Freiheit und Verantwortung müssen kritisch bestimmt, d. h. es müssen Methoden benannt werden, die die größtmögliche Freiheit des Individuums definitorisch an seine Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für deren Folgen koppeln. Kants Kritizismus und Poppers Kritischer Rationalismus stellen dafür geeignete Instrumentarien bereit. Diese antidogmatischen Erkenntnistheorien haben ihre Spitze in der Negation eines absoluten Wissens zugunsten eines regulativen Erkenntnisfortschritts. Als theoretische Modelle bilden sie damit die Prinzi-pien des Parlamentarismus vor, die im Kern die Institutionalisierung von Kritik durch freie Wahlen bedeuten, die von aufgeklärten, zu freiem (verantwortlichem) Denken und Handeln fähigen politischen Subjekten leben und auf die "Melioration" (z. B. 31) der gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung einer allgemeinen Freiheitserweiterung im Rahmen des intersubjektiv gültigen Rechts zielen.

Die Darstellung der Gedanken Kants und Poppers erfolgt einerseits sachgemäß chronologisch und andererseits thematisch anhand einer Explikation der zentralen Begriffe einer politischen Freiheitsphilosophie. Dabei wird Kant zunächst die Klärung der Fragen "Was ist Freiheit?" (Kapitel 3) und "Was ist Aufklärung?" (Kapitel 4) zugeordnet. Aus unterschiedlicher Perspektive laufen beide Argumentationsreihen auf das gleiche Ergebnis zu, die Selbstbindung des freien Willens an das positive Recht als Komplementärverhältnis, insofern "die jeweils geltende Rechtsordnung" (95) der autonomen Moral ihre Freiheit sichert und diese damit praktisch erst ermöglicht. In beiden Kapiteln sind nicht nur inhaltlich, sondern auch bei den Formulierungen eine Reihe von Dubletten zu verzeichnen (70 cf. 93; 71 cf. 89 ohne Rückverweis!). Oder sollte das didaktische Methode sein?

Mit mehr als einem Drittel des Gesamtumfangs nimmt die Darstellung der Erkenntnistheorien Kants und Poppers (Kapitel 5 "Was ist Erkenntnis?") nicht nur quantitativ den größten Raum ein. Sie bietet einen Überblick über die Problemkreise der drei Kritiken Kants und Poppers Hauptschriften nach ihren drei Themenbereichen (Theorie, Praxis und Einheit des Krit. Rationalismus) und liefert damit eine verläßliche Einführung in das Denken beider Philosophen, die ihren eigenen Wert besitzt.

Gegenüber dem dominierenden Anteil Kants gerät Popper leicht ins Hintertreffen. Die Vff. lesen ihn als Anwalt "für die Begründung einer rational vertretbaren parlamentarischen Demokratie" (152 f.) Seine Bedeutung liege eindeutig auf methodologischem Gebiet, in theoretischer wie praktischer Hinsicht, "anhand eines Kriteriums zur Ausscheidung ungeeigneter Theorien die jeweilige Hypothese zu eliminieren (Falsifikationsprinzip) oder eine politische Führung aus dem Amt zu entheben (Abwählbarkeitsprinzip)." (153) Dagegen wird Poppers erkenntnistheoretischem Realismus attestiert, hinter Kants Transzendentalismus zurückzufallen und letztlich für seinen "Methodendogmatismus" verantwortlich zu sein (vgl. 204 u. 234). Auch in den überwiegend Popper gewidmeten Partien finden sich mehrere Doppelungen (103 cf. 109; 234 cf. 246) - didaktisches Prinzip oder Hinweis auf zwei Vff.?

Überlegungen zum Begriff der politischen Verantwortung (Kapitel 6), des Verhältnisses von Philosophie und Demokratie (Kapitel 7) anhand der alten Frage nach dem besten Herrscher (die Demokratie "lebt... weniger von der Weisheit ihrer Herrscher als vielmehr von der Kritisierbarkeit durch ihre Wähler" 246) sowie eine Schlußbetrachtung runden das aufklärerische Programm ab: Zum einen wird die Verantwortung des mündigen ("aufgeklärten") Bürgers zur Ausübung seines freien Wahlrechts nachdrücklich festgehalten, das zwar weder juridisch noch moralisch einklagbar ist, aber auch nicht durch eine Wahlpflicht ersetzt werden darf. Daneben werden einige Ursachen aktueller Politikverdrossenheit angeführt, die zu beheben die Politiker zur Wahrnehmung ihrer erhöhten Verantwortung auffordern.

Die Vorzüge dieses Buches werden bereits im Vorwort gewürdigt, das Kurt Sontheimer schrieb. In der Tat scheint eine philosophisch abgestützte Vergewisserung über die Grundlagen unseres freiheitlichen Gemeinwesens (unter weitestgehender Ausblendung von empirischen Faktoren, allerdings auch von möglichen ideologiekritischen Einwänden gegen die vertretene philosophische Position!) ebenso dienlich wie notwendig zu sein für eine Gesellschaft, die offenbar im Begriff steht zu vergessen, wieviel Freiheit sie zu verlieren hätte, wenn sie das Minimum an Verantwortung dafür scheute.