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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

870–872

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bredow, Gerda von

Titel/Untertitel:

Im Gespräch mit Nikolaus von Kues. Gesammelte Aufsätze 1948–1993.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1995. VIII, 280 S. gr.8o = Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft. Lw. DM 58,-. ISBN 3-402-03495-6.

Rezensent:

Hans Gerhard Senger

"Die Neuherausgabe eines solchen Werkes verpflichtet den Bearbeiter zur Zurückhaltung. Denn lebendige Philosophie, wie sie hier geboten wird, empfängt von der Persönlichkeit her ihr besonderes Gesicht, und darin gerade liegt die Kunst, einzuführen in die philosophischen Probleme." Gerda Freiin von Bredows Bemerkung im Vorwort zu Alfred Heußners Philosophischen Weltanschauungen(1) gilt auch für die Aufsatzsammlung, die ihr zu Ehren und der Mitwelt zu Nutz und Frommen anläßlich des Beginns eines neuen Lebensjahrzehnts vor kur-zem erschienen ist. Da weder der dreibändige Coreth-Neidl-Pfligersdorffer (Graz u. a. O. 1987-1990), von dem man es erwarten dürfte, da sie in diese Umgebung gehört, noch die Meyer-Bennent-Vahle (Aachen 1994), wo man dies gar nicht erst erwarten wird, ihre biographischen Daten preisgeben, sei davon hier nur dies erwähnt:

"Zwei Tage vor dem Mord von Sarajewo,... noch im Frieden vor dem Krieg" wurde sie in dem Land geboren, in dem der besagte Birnbaum flüstert. Nach Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik in Berlin und einem Gastsemester bei Heidegger in Freiburg/Br. erfolgte die philosophische Promotion bei Nicolai Hartmann und Eduard Spranger. 1946 folgte sie ihrem Doktorvater Hartmann als Privatassistentin nach Göttingen. 1953 habilitierte sie sich mit Edition und Kommentar von Cusanus-Texten in Münster, wo sie fortan lehrte und sich "mit sehr verschiedenen Themen befaßte. Das Weiterdenken der Philosophie von N. Hartmann hat sich verbunden mit den Gedanken des Nikolaus von Kues und dem eigenen Suchen nach dem Wesen der Freiheit." (267) Neben Untersuchungen zu "Wesensgestalten der Sittlichkeit" und zur Wert- und Güterethik dominieren aber seit der Übersetzung der Cusanus-Schrift "Vom Globusspiel" (De ludo globi) im Jahre 1952 ((2)1978) eindeutig die Studien zu Nikolaus von Kues (NvK), zu denen sie in Göttingen durch Josef Koch angeregt wurde. So ist es nur recht und billig und ein schönes Zeichen des Dankes und der Anerkennung, daß sie nun in der Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft mit NvK ins Gespräch treten kann, das einer ihrer Schüler, der Trierer Cusanusforscher Hermann Schnarr, arrangiert hat.

Das "Gespräch mit Nikolaus von Kues" währt - mit Unterbrechungen - seit fast einem halben Jh., wie der Vorspann zum ersten Beitrag verrät, als dessen Verfasserin sie sich jetzt outet, nachdem er zuerst anonym (N. N.), für Insider jedoch dechiffrierbar, erschienen war: "Des seligen (!) Nikolaus von Kues Gespräch über die ewige Musik" mit "Gerda" (1-4), das 1948 nach einem Konzertbesuch in Göttingen stattfand und - der Leser sieht förmlich das Lächeln und Augenzwinkern der Aufzeichnenden vor sich - bald danach aufgezeichnet wurde. Ungeachtet aller Dissonanzen, läßt diese sich aenigmatisch von der Unvollkommenheit der Göttinger Symphoniker zu einer Reflexion über die vollkommene Musik und die Vollkommenheit der Welt erheben. Diese feine Petitesse ist gleichsam eine Fingerübung in christlichem Platonismus, in den sie später eine kurze, präzise "Einführung" gibt: "Platonismus im Mittelalter" (rombach hochschul paperback 47, Freiburg 1972).

Die 18 folgenden Beiträge sind nüchterner, aber nie akademisch trocken noch langatmig. Forsch und unkonventionell werfen sie Fragen auf (z. B. 99); Probleme werden präzis benannt (beispielhaft: die von einem Gespräch mit einer Hühnerzüchterin ausgehenden "Gedanken über ein merkwürdiges Aristoteles-Zitat", das nämlich von der Frau als mißglücktem Mann, 139-146), die Abhandlungen meist zügig zu Ende gebracht. Die Vfn. macht nicht gern lange Worte; sie liebt die knappe Exposition, schätzt die kurze und präzise Interpretation. Nur wenige Aufsätze erreichen oder überschreiten das kanonisch-abendländische Maß von 20 Druckseiten; öfters gibt sie der Kurzform den Vorzug.

Zwei Beiträge über Spiel und Spieler eröffnen die Reihe der vorzugsweise dem Spätwerk des NvK gewidmeten Cusanus-Interpretationen, die "philosophische Einführung" zur Schrift "Über das Globusspiel", in der der Leser in zunächst spielerisch-anschaulicher Weise vom Kugelspiel zu einer hochspekulativen Philosophie, Kosmologie und Wertlehre geführt wird (5-21). Dem "Sinn des Bildes in der cusanischen Philosophie" geht sie sowohl in diesem als auch in dem Beitrag "Der spielende Philosoph" (23-30) nach, einer Interpretation der Schrift "De possest", verdeutscht "Über das Können-Ist" oder "Über das Können-Sein". Diese - wie die vorherige und noch viele andere Schriften auch - durch Dialogform verlebendigte Schrift hat im Anschluß an Röm1,2 die philosophische Gotteserkenntnis zum Thema, wiederum im Ausgang von kindlichen Spielsituationen, dem Kreisel- und Reifenspiel. Da es sich dann aber um alles andere als um eine "Philosophie für Kinder" handelt, folgt man gerne anhand der einführenden "Betrachtungen" dem "Weg in die Tiefe", den auch ein dritter Spiel-Beitrag weisen will "Figura mundi" über "Die Symbolik des Globusspiels" (77-84).

Thematisch gehören auch der 4. und 17. Beitrag zusammen; beide behandeln ein Lieblingsthema "der Altersphilosophie des Nikolaus von Kues": "Der Gedanke der Singularitas" (31-39), der "Einzigkeit, Einzigartigkeit, Einmaligkeit" - ein Aspekt, der wegen der schon immer auf Allgemeinheit, Generalisierung, Universalisierung ausgehenden Wissenschaften auch in der Philosophie der Antike und des Mittelalters stets zu kurz gekommen war. Bei NvK wird er zum Verständnisschlüssel für Gottähnlichkeit und Gottesteilhabe. 25 Jahre später geht es der Vfn. in dem komplementären Beitrag "Participatio Singularitatis" (217-231), um die "Einzigartigkeit als Grundmuster der Weltgestaltung" und, nach Selbstauskunft der Autorin (Archiv für Begriffsgeschichte, XXXVI, Bonn 1993, 333), um Interpretation und Erläuterung jener qualitativen Singularität der Geschöpfe, die für NvK deren stufenweise Teilhabe an der absoluten Singularität Gottes ist. Ein für die Vfn. typischer Schluß: "Was würde der alte Platon zu den Gedanken des alten NvK sagen?"; die Frage bleibt offen.

Weitere Cusanus-Aufsätze, die auch hier Aufmerksamkeit verdienten, können nur thematisch genannt werden: "Gott der Nichtandere" (51-59); "Die Weisen in De pace fidei" (71-75); über das Symbolische bei NvK: "Der Punkt als Symbol. Aufstieg von der Metaphysik zu Anschauung und Einung" (85-98); dann zwei Beiträge zur cusanischen Geistphilosophie: "Der Geist als lebendiges Bild Gottes" (99-109) und "Die personale Existenz der Geistseele" (111-137); letzterer findet eine Fortsetzung in dem nicht auf NvK bezogenen Beitrag "Über die personale Existenz des Menschen und ihr Fortleben nach dem Tode" (163-202). Schon von ihrem Umfang her markieren diese zwei Beiträge (ursprünglich Festgaben für Kardinal Volk zum 75. und 80. Geburtstag) mitsamt dem durch ein Gespräch mit K. Jaspers initiierten "Nachdenken mit Nikolaus von Kues über das Wesen der Freiheit" (245-263) das zentrale philosophische Interesse G. von Bredows, das sie hier besonders engagiert zur Sprache bringt. Ihre "personale Existenz" wird nirgends so deutlich wie in den ebenso behutsam-redlichen wie selbständigen Überlegungen zu den Fragen, Annahmen, Voraussetzungen und Mutmaßungen über ein personales Fortleben des Menschen nach dem Tode.

Der Wiederabdruck dieser 20 von den in der beigegebenen "Liste der Veröffentlichungen" (269-271) aufgeführten 33 Publikationen - die bisher zumindest um zwei, demnächst noch um weitere zu vermehren wäre(2) - ist sehr zu begrüßen. Es hätte dem Band aber sicher gut angestanden, wenn auch noch das schon genannte Kapitel aufgenommen worden wäre. Das hätte das Gespräch mit NvK nicht gestört, den Aufweis des Denkhorizonts der Geehrten aber abgerundet und einmal wieder in Erinnerung gerufen, was ihr damals, zwei Jahre nach Kriegsende (das Vorwort stammt bereits vom 10. April 1947, wie die Vfn. in dem mir vorliegenden Exemplar von 1949 handschriftlich korrigiert hat) in Deutschland als "Philosophie der Gegenwart" galt: vor allem die Nicolai Hartmanns, Martin Heideggers, Karl Jaspers. Der Anschluß an die Philosophie der Welt war noch nicht wieder hergestellt. Das sollte auch noch etwas dauern.

Erstmals veröffentlicht wird eine originelle, sympathische, ehrliche Kurzautobiographie (265-267). Der visuell Eingestellte hätte sicher nichts gegen die Beigabe eines Portraits der durch die insgesamt angenehme Präsentation würdig Geehrten einzuwenden. Ein "Namen-" und "Werkeregister", Wegweiser zu den ins "Gespräch" Hinzugenommenen und zu den interpretierten Schriften, beschließen die Aufsatzsammlung, die, Verstreutes, nicht Disparates zusammenbringt. Auch von diesem Buch kann gelten, was die Vfn. vor knapp 50 Jahre im Vorwort zum Heußner-Buch schrieb: "Wer dies Buch durchgearbeitet hat, wird von selbst an irgendeinem Punkt in die Bewegung [des Denkens?] hineinkommen und unmittelbar an den Quellen weiter philosophieren. Denn es kann ja niemand ,Philosophie lernen', wie irgendwelches Tatsachenwissen. Nur im selbstverantwortlichen eigenen Denken hat sie ihr Leben."

Frau von Bredows Arbeit geht weiter. Weitere Beiträge und die erwähnte Neuübersetzung der Schrift, mit der für sie die Cusanus-Arbeit begonnen hat, sind in Kürze von ihr zu erwarten. Bis dahin kann für ihr "Gespräch mit Nikolaus von Kues" gelten: tolle - lege! Nimm und lies!

Fussnoten:

1 Alfred Heussner: Die philosophischen Weltanschauungen und ihre Hauptvertreter. Erste Einführung in das Verständnis philosophischer Probleme, 8. [11909, 71927] Aufl. Hg. von Gerda von Bredow, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1949.

2 "Die Philosophie der Gegenwart", = Kap. 10 der in Anm. 1 genannten, von Vf. besorgten Neuauflage von A. Heußners "Die philosophischen Weltanschauungen", 1949, 183-194; ferner der Beitrag von "señor" (sic!) v. Bredow: La "singularitas" en los pensamientos filosóficos de Nicolas de Cusa durante su época de senectud, in: Folia humanistica. Ciencias - artes - letras, II nr. 23 (1964) 953-962.- Demnächst erscheint im Rahmen der "Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Sprache" auf der Grundlage der in Kürze erscheinenden kritischen Edition eine zweisprachige Ausgabe von "De ludo globi" mit neuer Übersetzung, neuem Vorwort und neuen Erläuterungen von G. v. B.