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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

832 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Albert, Karl

Titel/Untertitel:

Einführung in die philosophische Mystik.

Verlag:

Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1996. X, 228 S. 8. Kart. DM 39,80. ISBN 3-534-12948-2.

Rezensent:

Peter Heidrich

Die bekannte Reihe der Einführungen wird mit dem vorliegenden Band aufs schönste fortgesetzt. Was Thomas von Aquino vom Lehrer verlangt, nämlich daß er sich in die Lage des An-fängers hineinversetzen muß, ist hier verwirklicht. Auch ein Leser ohne klare Vorstellungen von dem, was philosophische Mystik sein kann, wird folgen können; wer indes meint, abendländische Mystik zu kennen, wird die Hereinnahme Indiens und Chinas begrüßen und das Vorgetragene verarbeiten können. Und wer meint, Mystik sei nicht der Philosophie zuzurechnen, könne nicht einmal ohne weiteres religiösen Bereichen zugerechnet werden, der wird sich im ersten Teil auf Erfahrungen aufmerksam gemacht sehen, die er verstehen kann, die ihm wo-möglich gar nicht einmal fremd sind.

Die Einleitung beginnt mit Nietzsche: "eigentlicher Zweck alles Philosophierens ist die intuitio mystica". Gegenüber dem in mystischer Intuition Erfahrenen sei Sprache fremd. Vorsokratiker, Upanischaden, Lao-tse werden genannt; Welterkenntnis geht aus Selbsterkenntnis hervor.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, jeder dieser Teile hat 5 Unterabschnitte. Der erste Teil trägt den Titel: Erfahrung. Die 5 Begriffe, mit denen wir starke Erlebnisse verbinden, die aber auch jedermann zugänglich sind, lauten: Einheit; Gegenwart; Glück; Liebe; Tod. Natürlich gelten die ersten Klärungen dem Begriff der Erfahrung. Allen 5 Abschnitten ist gemeinsam, daß sie den Leser auf Literatur hinweisen, die vorphilosophisch von der jeweiligen Erfahrung sprechen.

Das für die weiteren vier Themen grundlegende, das der Erfahrung der Einheit alles Seienden, beginnt mit Hölderlin. Es setzt sich fort mit Nikos Kazantzakis und mit Camus. Der Vf. zeigt, daß im vorphilosphischen Bewußtsein ein Wissen von der Einheit des Seins gegeben ist. Für die Erfahrung von Gegenwart zeugt zunächst Eemil Sillanpää; ihm folgt Musils Mann ohne Eigenschaften, dann Fr. Schlegel und Ionesco - alles in Beziehung gesetzt zu philosophischen Erörterungen. Augustins Ostia-Erlebnis schließt das ab. Erfahrungen des Glücks werden mit Rousseau, Milan Kundera und Vladimir Maximov vorgestellt. Kronzeugen für Liebe sind Huxley, Amiel, L. Andreas-Salomé, Nietzsche und Platons Symposion (letzteres mit Korrektur der verbreiteten Übersetzung von "Poros"). Platon-Interpretationen, die ihn als Mystiker sehen wollen oder gerade nicht, werden an mehreren Stellen des Buches erörtert. Für das Thema Tod wird Platons Phaidon herangezogen, aber dann eindrücklich Hermann Brochs Tod des Vergil und seine Essays. Der Leser ist vorbereitet auf Bereiche, deren unalltägliche Erfahrung doch nicht so selten ist, wie sie zuerst zu sein scheint.

Das lange Kapitel über Tao ist nicht nur Gelegenheit, Übersetzungsprobleme und Interpretationen von Sinologen zu besprechen, sondern auch auf Kant zu verweisen. Beim Thema Atman werden Texte vorgestellt, aber auch Schankara und Tagore. Das Kapitel über das Hen erörtert Platons ungeschriebene Lehre, seine Nähe oder Ferne zum Neuplatonismus. Plotin, Augustin, der Areopagite, Eckhart, Cusanus, Ficino, dann Bruno, Böhme, Fichte. Das Buch liest sich an allen Stellen flüssig, ein reicher Anmerkungsteil befindet sich am Schluß des Buchs. Die Erfahrung des Parmenides im Kapitel über das Sein wird gerade nicht als Abstraktion gedeutet, statt dessen macht der Vf. darauf aufmerksam, welche Rolle weibliche Gestalten bei dem schamanistischen Erlebnis des Parmenides spielen. Von der "Exodusmetaphysik" der Scholastik wird die Verbindung zu Descartes gezogen und im Sinne Lavelles gedeutet. Heidegger ist der Schluß des Kapitels gewidmet. Das Kapitel zum Thema Gott hat in Interpretationen des Anselm seinen Höhepunkt. Das Bad der Seele in der Einheit der Substanz bringt Hegels Spinoza-Deutung zur Katharsis bzw. Einigung der Seele in Bezug.

Der letzte Teil des Buches ("System") wird eröffnet mit der Darstellung der heutzutage empfundenen Problematik eines Systemdenkens. An mehreren Stellen wird das Höhlengleichnis Platons herangezogen, so im Abschnitt Metaphysik wie im Ab-schnitt Pädagogik. Dem Staunen und Schauen weiß der Vf. unübliche Aspekte abzugewinnen, angeregt von Coleridge und H. Arendt. Das Noetikkapitel macht auf wichtige Einzelheiten aufmerksam. Aus dem Mythos hervorgegangenes philosophisches Erkennen mache den Menschen klüger, aber nicht weiser. Kultverwurzelte Philosophie mit ihrem zur Vereinigung mit dem Sein gelangenden Wissen verwandelt den Erkennenden. oder: Sein und Schweigen gehören zueinander (Picard). Wer von "Seinspest" rede, wird auf die Wurzel des Seinsgedanken aufmerksam gemacht. Im Kapitel Ethik findet sich der Leser bei Buber, Lotz, G. Landauer, J. Pieper. Ja, im Blick auf Natur wird auf Franziskus, J. Böhme, A. Schweitzer, Teilhard de Chardin verwiesen. Unter dem Thema Ästhetik werden u. a. Schopenhauer, Nietzsche, Weischedel, aber auch Cézanne, Marc, Klee, Mondrian, Rothko vorgestellt. Das abschließende Pädagogik-Kapitel nimmt, nach der erwähnten neuen Erörterung des Höhlengleichnisses, Eduard Spranger auf mit dessen Begriff der Innenwelterweckung.

Wer das Buch sich angeeignet hat, sieht sich in der Lage, mit einem wesentlichen Teil unserer Kultur philosophisch ins Gespräch zu kommen, bis in eine Ebene, wo die Sprache aufhört. Das Buch ist technisch gut gestaltet, zwei Druckfehler auf S. 54 und 95 sind bei Neuauflage rasch getilgt.