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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

504–506

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kratzert, Thomas

Titel/Untertitel:

"Wir sind wie die Juden". Der griechisch-orthodoxe Beitrag zu einem ökumenischen jüdisch-christlichen Dialog.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 1994. 340 S. gr. 8o = Studien zu Kirche und Israel, 16. DM 29,80. ISBN 3-923095-67-8.

Rezensent:

Peter Hauptmann

Der Untertitel umreißt in klarer Abgrenzung die gestellte Aufgabe, die nicht zuletzt dadurch in dieser Untersuchung auch eindrucksvoll bewältigt wird. Dank ihrer Gründlichkeit ergeben sich darüber hinaus noch wesentliche Einsichten in die ökumenische Bewegung, das Verhältnis von Christen und Juden sowie in die griechische Orthodoxie überhaupt. Somit kann die vorliegende Arbeit als Musterbeispiel dafür gelten, wie gerade eine Spezialstudie von scheinbar entlegener Thematik, wenn sie nur mit der angemessenen Eindringlichkeit durchgeführt wird, weite Horizonte zu erschließen vermag.

Der Obertitel soll offenkundig Aufmerksamkeit erregen und dem Argwohn entgegenwirken, es bei dieser im Herbst 1993 von der Evang.-Theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommenen Doktordissertation mit einer trockenen akademischen Abhandlung zu tun zu haben, was in der Tat nicht der Fall ist. Er entstammt der Antwort des Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. (1972-1991) auf eine Klage des Schriftstellers Nikiforos Vrettakos über den Niedergang der kulturellen Blüte Griechenlands. Doch das erfährt der Leser noch nicht einmal im Vorwort, sondern erst am Beginn der Einführung, wo auch die Begründung dafür gegeben wird: "Aus der Bemerkung des Ökumenischen Patriarchen wird deutlich, daß orthodoxe Christen ihr Verhältnis zu Juden durch eine besondere Nähe und Verbundenheit definieren, wie es für Christen Mitteleuropas und Nordamerikas fremd ist" (13). Der Nachweis der Berechtigung dieser Sicht aber wird gar erst gegen Ende der Untersuchung geliefert (253 ff.), so daß die Spannung erhalten bleibt.

Der "Einführung" (13-26) folgt unter der Überschrift "Der Weltkirchenrat und der jüdisch-christliche Dialog" ein erster großer Hauptteil (27-108), der zunächst unter chronologischem Gesichtspunkt in vier Teile gegliedert ist: "Von den Anfängen bis zur Vollversammlung des Weltkirchenrats in Neu-Dehli - die missionarische Phase (1910-1961)" (30-52), "Zwischen den Vollversammlungen in Neu-Dehli und Nairobi - die dialogische Phase (1961-1975)" (53-76), "Die Suche nach gemeinsamen Richtlinien - die theologische Phase (1975-1983)" (76-95) und "Der Ertrag des jüdisch-christlichen Dialogs innerhalb des Weltkirchenrats - die resümierende Phase (1983-1991)" (96-106). Abgesehen vom ersten weisen diese Teile wiederum vier bzw. fünf Unterteile auf, die den jeweils verschiedenen Gesprächsebenen entsprechen: Mission, Theologie, Dialog, Politik, Ökumene, Struktur sowie Frauen und Dialog. Dabei will der Vf. die angegebenen Jahreszahlen nicht als strenge Abgrenzungen verstanden wissen, sondern als Hinweise auf "besondere Ereignisse", die einen "Wandel in den Beziehungen zwischen Christen und Juden kennzeichnen oder ankündigen" (29). Die Herausarbeitung dieser Phasen überzeugt durchaus und erleichtert zugleich die Durchdringung der Fülle des auszuwertenden Materials; enthält das Literaturverzeichnis (297-336) doch fast 700 Positionen, darunter auch 43 aus Archivbeständen.

Ob man freilich die Aufeinanderfolge dieser Phasen, insonderheit die "zunehmende ,Entmissionierung' und schrittweise ,Dialogisierung' des Verhältnisses von Juden und Christen" (66), mit dem Vf. als zielgerichtete Entwicklung begrüßt oder lediglich als wiederholbare Schwankung vermerkt, ist eine Frage des theologischen Standpunktes. Wo die Autorität des Neuen Testaments unangetastet bleibt, kommt man um ein klares Ja zur Judenmission nicht herum, wie unvorstellbar schwer ihre Verwirklichung nach der Schoa auch geworden sein mag. Auf ihre nordatlantisch-protestantische Prägung macht der Vf. zwar mit Recht immer wieder aufmerksam, doch sollte sich daraus an sich noch keine Abwertung ergeben. Ebensowenig sollte man vom Neuen Testament her gesehen völlig abwegige Auslassungen über das Judentum (z.B. 77-82) als Infragestellung der bisher nordatlantisch geprägten Arbeit durch "Impulse aus Afrika, Asien und Lateinamerika" (95) aufwerten.

Im zweiten Hauptteil, überschrieben "Das Bild des Judentums in der griechischen Orthodoxie" (109-191), geht es zu-nächst um "Die Betrachtung der gemeinsamen Geschichte aus unterschiedlicher Sicht" (110-159), nämlich durch griechische und jüdische Wissenschaftler, wobei sich der erste Unterabschnitt mit dem Forschungsstand und der Literaturlage befaßt und die beiden anderen die verschiedenartigen Beurteilungen der Zeiträume von 324 bis 641 und von 641 bis 1204 behandeln. Es zeigt sich, "daß sich griechisch-orthodoxe und jüdische Ansätze nicht einfach kategorisieren lassen", daß jedoch "tendenzielle Unterschiede" durchaus zu erkennen sind (158). Sodann wird "Die Rolle der Liturgie für das Verhältnis von Juden und griechisch-orthodoxen Christen" untersucht (160-186) und dabei den Gottesdiensten in der Karwoche ein Unterabschnitt gewidmet, der den den weiteren Beispielen aus der byzantinischen Liturgie vorbehaltenen umfangmäßig um das Siebenfache übertrifft. "Die Darstellung des Judentums im griechisch-orthodoxen Religionsunterricht" (186-191) beschränkt sich notgedrungen auf zwei Religionsschulbücher aus den Jahren 1987 und 1989.

Der letzte der drei Hauptteile, in dem "Der griechisch-orthodoxe Beitrag zu einem ökumenischen jüdisch-christlichen Dialog" herausgearbeitet wird (192-289), handelt zunächst über "Die griechische Orthodoxie und ihre Beteiligung am jüdisch-christlichen Dialog" (192-252), um dann mit dem zweiten Teil einen der Höhepunkte der ganzen Studie zu erreichen: "Das Judentum und die griechische Orthodoxie - eine besondere Be-ziehung" (253-269). Aus der Fülle überraschender Äußerungen, denen man hier begegnet, stimmt vor allem die von dem jüdischen Historiker Zvi Ankori angesichts einer der "nationalen Synagoge" der Juden und der "nationalen Kirche" der Griechen gemeinsamen "Synthese von Volksein und Religion" gewagte Behauptung, "daß sich Judentum und griechische Orthodoxie viel näher stehen als die griechische Orthodoxie und die westliche Kirche" (254 f.), nachdenklich. Im dritten Teil, überschrieben "Die CCJP-Arbeit innerhalb des Weltkirchenrats und die griechische Orthodoxie" (269-281), geht es sodann noch um das Verhältnis zur Genfer "Commission (Consultation) on the Church and the Jewish People", bevor im vierten schließlich das Fazit aus der gesamten Untersuchung gezogen wird: "Auf dem Weg zu einem ökumenischen jüdisch-christlichen Dialog: der griechisch-orthodoxe Beitrag" (282-289).

Das Buch verdient als eine ausgereifte Leistung, wie man sie nicht oft antrifft, höchste Anerkennung. Es vermag auch dem an seiner Thematik nicht unmittelbar interessierten Leser wertvolle Anregungen zu vermitteln.