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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

756–758

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ludwig, Frieder

Titel/Untertitel:

Das Modell Tanzania. Zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat während der Ära Nyerere (mit einem Ausblick auf die Entwicklung bis 1994).

Verlag:

Berlin: Reimer 1994. 287 S. gr.8. Kart. DM 78,-. ISBN 3-496-02575-1.

Rezensent:

Klaus-Peter Kiesel

1976 sagte der erste Präsident des ostafrikanischen Staates Kenia, Jomo Kenyatta, den katholischen Bischöfen seines Landes: "Die Kirche ist das Gewissen der Gesellschaft, und die heutige Gesellschaft braucht ein Gewissen. Fürchten sie sich nicht zu reden" (nach Rodrigo Mejia, 'The Conscience of So-ciety', Nairobi, 1995).

Frieder Ludwig prüft in seiner Abhandlung, ob die christlichen Kirchen im Nachbarland Tansania zur Zeit des einst auch in westlichen Staaten hochgepriesenen afrikanischen Sozialismus unter Julius Nyerere das Gewissen der Gesellschaft, er nennt es Ausübung des Wächteramtes, waren. Der katholische Christ Nyerere hatte das Protektorat Tanganyika 1961 in die Unabhängigkeit geführt und bis 1985 als Präsident regiert. Das vorliegende Werk ist des Vf.s Inauguraldissertation vom Juli 1994. Er hat diese auf den neuesten Stand gebracht und dankenswerterweise einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Kirchen, so stellt L. fest, gehören in vielen Staaten des unabhängigen Schwarzafrikas zu den einflußreichsten gesellschaftlichen Kräften. Sie prägen das geistliche und soziale Bewußtsein von weit mehr als 200 Millionen Menschen. Doch haben sie oft ihr Wächteramt zu wenig ausgeübt und staatliche Mißstände und sogar Menschenrechtsverletzungen nicht genügend bekämpft.

Der Vf. stellt am Beispiel von Tanzania (1964 durch die Vereinigung von Tanganyika und Sansibar entstanden) in den Jahren der Herrschaft Nyereres die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat historisch und kritisch dar. Er zeigt Prozesse, die landesweit zu beobachten waren, und fragt danach, inwieweit die kirchliche und politische Elite zusammen oder gegeneinander arbeiteten. In seiner Untersuchung berücksichtigt er vor al-lem die drei größten protestantischen Denominationen im Land (Lutheraner, Anglikaner und Brüdergemeinde) im Vergleich zur Position der Katholischen Kirche, zu der die Mehrzahl der Christen in Tanzania gehören.

L. hat ausgiebig die zu diesem Thema vorliegenden in Englisch, Deutsch, Schwedisch und Suaheli gedruckten Materialien in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet. Darüber hinaus führte er während seiner drei Besuche in Ostafrika in den Jahren 1992-93 etwa 50 Interviews mit Kirchenführern, Be-hörden, Vertretern des nationalen Christenrates, der Gesamtafrikanischen Kirchenkonferenz, tanzanischen Politikern und Re-präsentanten muslimischer Glaubensgemeinschaften. Diese er-gänzte er durch Gespräche mit Vertretern der europäischen Partnerschafstorganisationen in Europa. Außerdem kann der Vf. die Situation der tanzanischen Kirchen in ihrer Auseinandersetzung mit der Staatsführung durch bisher noch nicht ausgewertete Archivalien beleuchten. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sind daher ausgezeichnet dokumentiert und begründet:

Obwohl die Missionen durch ihre Ausbildungs- und Karriere-möglichkeiten selbst zum Entstehen einer neuen Elite, die na-tional und nicht tribal orientiert war, beitrugen, standen die meisten von ihnen der Nationalbewegung zurückhaltend bis ablehnend gegenüber. Der von der TANU-Partei (Tanganyika African National Union) unter Nyerere geführte Freiheitskampf in Tanganyika hatte auch keine antimissionarische Stoßrichtung, weil die führenden Politiker, zu denen Christen und Moslems gehörten, alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren wollten. Auf diese Weise und durch eine dialogbereite Haltung wurde der spätere Kurswechsel der aus den Missionen hervorgegangenen einheimischen Kirchen erleichtert.

Die politische Neuordnung nach 1961 hatte auch starke Auswirkungen auf die innerkirchlichen Strukturen. Vor allem fand eine tiefgreifende Afrikanisierung aller Führungspositionen statt. Sehr bald kam es daher nach der Erlangung der Unabhängigkeit zu einer engen Zusammenarbeit der Kirchen mit der neuen afrikanischen Staatsführung, vor allem in den Bereichen Erziehung und Gesundheit. Auch wenn die Kirchenführer mit politischen Entscheidungen nicht übereinstimmten, wurde die eigene Meinung nicht öffentlich und offensiv zum Ausdruck gebracht. Die grundlegenden politischen Entscheidungen in der Folge der sozialistischen Arusha-Erklärung von 1967 wurden fast alle mit erklärtem oder stillschweigendem Einvernehmen der Kirchen durchgeführt. So schwiegen die Kirchen zur Auflösung unabhängiger Gewerkschaften und zur Einführung des Einparteiensystems. Sie schwiegen sogar zur Ausschaltung po-litischer Gegner durch Vorbeugehaft.

Nur wegen der Nationalisierungen im Schulwesen und Interventionen im Gesundheitswesen kam es zu Auseinandersetzungen und Klärungsprozessen zwischen Staatsmacht und Kirchen. Während die tanzanischen Kirchen in der Auseinandersetzung mit den westlichen Partnerorganisationen (meist Missionsgesellschaften) und in der Lösung von der Kontrolle der europäischen Mutterkirchen, die nun zu Partnerkirchen wurden, eigenes Profil entwickelten, rückten sie gleichzeitig in immer größere Nähe zur autoritärer werdenden Staatsführung.

Da die etablierten Kirchen die Politik des Ujamaa-Sozialismus im großen und ganzen als christlichen Weg akzeptierten, übten sie ihr Wächteramt nur sehr unzureichend aus. Statt dessen paßten sich die Kirchen immer mehr an die Politik der Staatspartei TANU und die der Nachfolgeorganisation CCM (Revolutionspartei) an. Gleichzeitig wurden auch die kirchlichen Strukturen in Angleichung an den sozialistischen Staat immer bürokratischer und autoritärer.

Das änderte sich erst, als sich ein Scheitern des Sozialismus durch Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Lande im-mer deutlicher abzeichnete. Allerdings ist erst in den neunziger Jahren eine zunehmende Lösung der Kirchen von den nationalen Kräften zu beobachten und damit auch eine kritische Di-stanz der Kirchen zur Staatsführung.

Darum war auch nach dem Fehlschlag des Ujamaa-Modells in den Kirchen die Suche nach neuen Orientierungen unübersehbar. Sie finden ihren Ausdruck in der zunehmenden Bedeutung der Pfingstkirchen und der charismatischen Bewegung in den protestantischen Kirchen. Sie kommen aber auch zum Ausdruck in der Teilung der Diözesen zu kleineren, meist tribalen Einheiten, die am deutlichsten in der Evangelisch-Lutherischen Kirche zu beobachten ist.

Erst in den letzten Jahren sind in den tanzanischen Kirchen Ansätze zur Neuorientierung erkennbar. Im November 1993 nahmen die katholischen Bischöfe in einem Hirtenbrief kritische Stellung zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen. Mitte März des folgenden Jahres brachten die lutherischen Bischöfe in der sogenannten Bagamoyo-Erklärung zum ersten Mal deutlich eine Distanz zur Staatsführung zum Ausdruck. Im Angriff auf staatliche Mißwirtschaft und Korruption sahen sich die Bischöfe nun verpflichtet, das kirchliche Wächteramt auszuüben. Wichtig wird sein, so stellt der Vf. fest, daß die Kirchen auch im eigenen Haus das Wächteramt ausüben und in der Übergangszeit vom Einparteienstaat zur Demokratie selbst ebenfalls den Weg von der hierarchischen Struktur zu demokratischen Formen finden, um wirklich das Gewissen der Gesellschaft sein zu können.

Im Anhang seines Buches bietet der Vf. eine kleine Auswahl wichtiger Reden, Erklärungen und Abhandlungen zur Frage des Verhältnisses der Kirche zum Staat (205-221). Es handelt sich vor allem um Quellen aus den Jahren 1959 bis hin zur Erklärung von Bagamoyo aus dem Jahre 1994. Diese waren bislang kaum öffentlich zugänglich.

Die Kartenskizzen (247-253) sind hilfreich, doch leider veranschaulichen die Karten über die Diözesen der katholischen und protestantischen Kirchen nicht den neuesten Stand. Ein geschichtlicher Überblick (254-262), der zweispältig die politischen und kirchlichen Ereignisse vom ersten nachchristlichen Jahrtausend an bis 1994 nebeneinander darstellt, bildet eine ausgezeichnete historische Übersicht. Abgeschlossen wird das Werk durch eine ausführliche Biographie (263-288), in der sowohl das Archivmaterial, Zeitschriften, die Namen und Positionen der von ihm Interviewten (in chronologischer Ordnung) und das publizierte Material aufgelistet sind.

Beim Studieren dieses Werkes wird es dem Leser bewußt, wie leicht sich der Sündenfall einer zu engen Anlehnung der Kirchen an die Staatsmacht vor allem zu Zeiten nationaler Aufbrüche überall in der Welt wiederholen kann.