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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

754–756

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Emilsen, William W.

Titel/Untertitel:

Violence and Atonement. The Missionary Experiences of Mohandas Gandhi, Samuel Stokes, and Verier Elwin in India before 1935.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994. X, 391 S. 8 = Studies in the intercultural history of Christianity, 89. Kart. DM 98,-. ISBN 3-631-47040-1.

Rezensent:

Hans-Werner Gensichen

"Vom Rand der Geschichte her" (352) ist dies Werk geschrieben, und zwar im doppelten Sinn. Einmal ist das hier thematisierte Verständnis von Mission als "atonement", d. h. Wiedergutmachung für die Vergehen westlicher Mächte an nichtchristlichen Völkern in der missionsgeschichtlichen Forschung tatsächlich kaum untersucht worden. Zum anderen hat man sich auch nur selten um die Konsequenzen für die Begegnung von Christentum und nichtchristlicher Religion gekümmert, soweit christliche Missionare persönlich davon betroffen waren. Bengt Sundkler hat vor Jahren einmal treffend auf die "Wasserscheide" hingewiesen, die in solchen Fällen zu beachten ist (The World of Mission, London 1965, 255 f): Entweder behilft man sich mit der sattsam bekannten Erfüllungstheologie, die das Christentum apologetisch zur Krone des Hinduismus stilisiert und somit einen eingeschränkten missionarischen Auftrag beizubehalten erlaubt oder - um im Bilde zu bleiben - der Strom bahnt sich seinen Weg in die Gegenrichtung, bis das christliche Zeugnis zum Verstummen gebracht oder auf sozio-politischen Dienst reduziert wird. Die beiden Konfliktfälle, die von Emilsen geschildert und exakt analysiert werden, liefern dafür beachtliches Anschauungsmaterial, das auch heute, da Gandhis Nachwirkungen längst verblaßt sind, in Indien und darüber hinaus Interesse verdient. Zwar hat es früher auch schon andere Fälle der Konversion von Missionarinnen und Missionaren zum Hinduismus gegeben, die jedoch - von so spektakulären Beispielen wie dem des früheren Basler Missionars und späteren Mitbegründers der "Deutschen Glaubensbewegung", Jakob Wilhelm Hauer (1881-1962; von Emilsen nicht erwähnt), abgesehen - möglichst wenig Publizität erfuhren.

Samuel E. Stokes Jr. (1882-1946), von Haus aus amerikanischer Quäker, seit 1906 unabhängiger Missionar in Nordindien, ist der erste Kronzeuge des Vf.s für die Verbindung von politischem Protest gegen britische Gewaltherrschaft in Indien, Gandhis Ringen um Wiedergutmachung der "satanischen" Unterdrückung und kompromißloser Identifikation mit den Armen und Entrechteten - dies alles bezogen auf einen missionarischen Auftrag, dessen Gestalt für Stokes anfangs alles andere als deutlich war. Erst die Begegnung mit dem Sadhu Sundar Singh konkretisierte das Ziel: ein Leben als bhagat d. h. in praktischer Frömmigkeit und franziskanischer Absage an alle hinderlichen irdischen Bindungen, später realisiert in einer "Bruderschaft der Nachfolge Christi", einer Vorläuferin der christlichen Ashrams, unterstützt durch anglikanische Missionsgesellschaften und gefördert durch Gandhis Freund und Gesinnungsgenossen C. F. Andrews. Dieser war es auch, der Stokes die 1912 vollzogene Heirat mit der Tochter eines christlichen Rajput-Farmers nahelegte, als sichtbares Zeugnis der "Schönheit des bestmöglichen christlichen Familienlebens westlicher Art" (111), die auch in Indien ihre Segenswirkungen entfalten sollte.

Konnte nicht auch das biologische Quäker-Erbe der Stokes-Familie dazu beitragen, daß die Kinder aus dieser Ehe (es waren sieben) "bessere und nützlichere Inder" würden (112)? Wichtiger wurde freilich die erhoffte "spirituelle Synthese" nach Gandhis Verständnis. Hatte die Mission früher Hindus zu Christen machen wollen, so war es nun der Hinduismus, der das, was am christlichen Erbe noch tragbar war, zur Erfüllung bringen sollte. Für Stokes markierte sein Buch "Satyakama" (True Desires, being Thoughts on the Meaning of Life), verfaßt in sechsmonatiger britischer Haft 1921/22, die endgültige Wende von der Bibel zum Vedanta. 1932 ließ er an sich und der ganzen Familie das vorgeschriebene Reinigungsritual (shuddi) vollziehen, das den Übertritt zum Hinduismus besiegeln sollte, freilich im Hinblick auf den Charakter des Hinduismus als einer "Geburtsreligion" (Max Weber) von nicht wenigen Christen und Hindus als fragwürdig betrachtet wurde.

Der Vf. verzichtet auf eine Bewertung dieses Schritts und hält sich an die historisch faßbaren Begleitumstände, etwa die Einwirkungen des Arya Samaj und seines Bildungsideals, aber auch an das Schwinden jeder glaubwürdigen Loyalität zu Mission, Kirche und Christentum. Faktisch fand Stokes sich trotz aller Erklärungsversuche zwischen allen Stühlen. "Seine Versuche, die christlichen Gemeinden zu beruhigen, steigerten nur die Ablehnung seitens der orthodoxen Hindus" (240). Wenn Gandhi ihn immer noch als Missionar bezeichnete, so mußte Stokes sich schließlich gerade dadurch in seinem Bestreben mißverstanden fühlen, das alte Ideal der Wiedergutmachung jetzt erst wirklich zu erfüllen, zumal Gandhi selbst in der Mitte der dreißiger Jahre das Christentum und seine Mission als "imperialistisch" erkannt zu haben meinte.

Für Verrier Elwin (1902-1964) benötigt der Vf. nur etwa ein Drittel des Gesamtwerks. Tatsächlich wiederholte sich manches bei ihm, dem englischen Anglikaner, der zwar fast ein Vierteljahrhundert später als Stokes nach Indien kam, dort aber sogleich in den Christa-Seva-Sang-Ashram in Puna eintreten konnte und, nach anfänglichen Vorbehalten, doch seinen Platz an Gandhis Seite fand. Sowohl in seinen politischen Überzeugungen als auch im Verständnis des missionarischen Auftrags ging er denselben Weg wie Stokes, wenngleich er sich von Anfang an auf den Dienst an den Angehörigen der Bergstämme konzentrierte und später auch einen Ashram unter den Gonds gründete, bei denen ein Jahrhundert früher die ersten Gossner-Missionare einen katastrophalen Mißerfolg erlebt hatten.

Als "christlicher Apostel Gandhis' wolIte auch Elwin nicht mehr Missionar sein oder als solcher bezeichnet werden, wenn auch Albert Schweitzer für ihn ein Vorbild war und blieb. Der unvermeidliche Bruch mit Kirche und Mission fiel ihm nicht leicht; aber in der wissenschaftlichen Anthropologie fand er eine neue, tragfähige Motivation für "atonement" im Sinne von Wiedergutmachung an den Opfern westlicher Mission und Zivilisation. Sundkler hatte gleichwohl recht mit der Feststellung, daß für Elwin endgültig die "Verbreitung eines hinduistischen Vitalismus an die Stelle der christlichen Verkündigung" getreten war (The World of Mission, 256; bei Emilsen nicht erwähnt).

Dem Vf., der in Australien Kirchengeschichte lehrt, ist die Schulung bei seinem Lehrer Eric J. Sharpe auf Schritt und Tritt anzumerken. Der Umgang mit den schwer zugänglichen Quellen ist ebenso vorbildlich wie die Auswertung der Literatur (eine Kleinigkeit ist richtigzustellen: Wilhelm Dilger, früherer Indienmissionar der Basler Mission, hat der Universität Tübingen nicht angehört, (29). Der Verzicht auf nichtenglische Belege fällt kaum ins Gewicht, da sie zur Fülle des Stoffes schwerlich Wesentliches hätten beitragen können.