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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

867–869

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Weiß, Otto

Titel/Untertitel:

Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiekritik. Mit einem Geleitwort von H. Fries.

Verlag:

Regensburg: Pustet 1995. XXI, 632 S. gr.8. Pp. DM 98,-. ISBN 3-7917-1478-3.

Rezensent:

Hubert Kirchner

Der "Modernismus" ist dabei, sich zu einem Dauerthema in der römisch-katholischen Kirche zu entwickeln. Als Papst Pius X. am 8. September 1907 - nachdem zuvor schon das Heilige Offizium mit seinem Dekret "Lamentabili" einen "neuen Syllabus" vorgelegt hatte - seine Enzyklika "Pascendi" veröffentlichte, um einen drohenden Brandherd auszutreten, bewirkte er im Grunde das genaue Gegenteil:

Indizierungen und Exkommunikationen, ein paar Jahre später dann der berüchtigte Antimodernisteneid (der erst 1967 abgeschafft wurde) sorgten zwar im einzelnen Falle für klare Fronten, durch Disziplinierung etwa oder radikale Trennung. Das eigentliche Problem bewältigten sie nicht. Denn es ging ja eben nicht um einzelne, die solcherart zu beherrschen waren, nicht um mehr oder weniger von der Generallinie abweichende Positionen, Denk-ansätze oder gar schon umfassende Entwürfe, sondern schlicht um den Platz der Kirche in der modernen Welt, in den politischen und sozialen Um-brüchen, den geistigen, philosophischen, wissenschaftlichen und kulturellen Neuorientierungen und um den Anteil, den die Kirche nolens volens daran zu akzeptieren hat, und das bedeutet auch: um die Auswirkungen alles dessen im eigenen Bereich, voran in der Theologie mit allen ihren Facetten. Erst im II. Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche als solche und als ganze dieses Problem als das ihre erkannt, benannt und sich ihm zu stellen versucht, gedrängt und befähigt dazu von Kräften, die auf dem weiten Wege dahin dafür gesorgt hatten, daß jene Fragen trotz aller Gegenwirkungen offen geblieben waren und ein geistiges Klima bewahrt wurde, in dem Neues keimen konnte. Daß andererseits dieses Konzil mit seinen Neuorientierungen prompt von einer eigenen traditionalistischen Fraktion, am lautesten und nachhaltigsten Erzbischof Lefebvre, als "neomodernistisch" de-nunziert wurde, zeigt die Zusammenhänge.

Diese Zusammenhänge deutlich zu machen ist das Ziel des vorliegenden Buches. In diesen weiträumigen Koordinaten be-wegt sich die voluminöse Untersuchung, die in dieser Anzeige kaum ansatzweise gewürdigt werden kann. Denn auch für sich selber nimmt sie entsprechende Dimensionen in Anspruch. Zwar auf den deutschen Teilbereich beschränkt, abgesehen von dem allgemein orientierenden ersten Teil, der die Voraussetzungen klärt (14-107), der keineswegs das Zentrum der Bewegung bildete und schon gar nicht seine Hauptvertreter hervorbrachte, werden doch dessen Linien bis in die Neuzeit ausgezogen, und auch die sachliche Problematik zeigt sich in ihrer ganzen Ausdehnung.

Nach jenem Einführungsteil, der das Phänomen "Modernismus" überhaupt skizziert, die schon erwähnten kirchenamtlichen Erlässe und die weiten geistesgeschichtlichen, kirchengeschichtlichen und geographischen Kontexte bis hin zum "Amerikanismus", beschreibt der zweite Teil, der eigentliche Hauptteil (110-473), in 16 Kapiteln insgesamt 29 Lebensschicksale, Wege und Wirken von Theologieprofessoren, Priestern und Laien, denen - bei aller Verschiedenheit - eines gemeinsam war: Mit ihrem Denken, mit Wort und Schrift, in Lehre und Verkündigung und kirchlichem Engagement überhaupt wollten sie dem integralistischen Streben nach Abgrenzung von Glaube und Kirche von der Moderne widerstehen, sich dem kirchenamtlich verordneten "Marsch ins Ghetto" verweigern und bereit sein, dafür auch äußerste Konsequenzen auf sich zu nehmen: Franz Xaver Kraus, Herman Schell, Albert Ehrhard, Josef Müller, Jo-seph Schnitzer, Hugo Koch, Hermann Hefele bis hin zu Sebastian Merkle und Carl Muth und das "Hochland", um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen.

Der dritte Teil weitet dann den Blick noch einmal für die "Er-ben des deutschen Modernismus" (476-593), wobei weitere 12 Persönlichkeiten vorgestellt werden, unter ihnen Leonhard Fendt, Karl Adam, Friedrich Heiler, Joseph Wittig und schließlich ein "Reformkreis niederrheinischer Katholiken" um den Religionsphilosophen Johannes Hessen.

Viele dieser biographischen Skizzen können nur erste Versuche sein, erarbeitet auf der Grundlage erster Sammlungen und weit verstreuter Mitteilungen. Gerade damit aber sind sie so verdienstvoll, denn sie bieten nicht nur eine erste umfassende Übersicht, sondern legen auch selber wieder den Grund für weitere Forschungen und präsentieren eine Materialfülle, die ihresgleichen sucht. Zusammengenommen zeigen sie ein dichtes Netzwerk von Beziehungen und Bestrebungen - hier noch verstärkt durch eingestreute Ex-kurse, die Hintergründe und Zusammenhänge verdeutlichen. Sehr persönlich gehaltene Überlegungen, die den Abschluß der Untersuchung bilden, setzen dann konsequent ein bei der nun direkt thematisierten Frage nach dem Verhältnis von Modernismus und II. Vatikanischem Konzil (594-601). Der Vf. resümiert: "Ohne die Anregungen der Modernismuskrise wäre die römi-
sche Kirche nicht zur Weite des II. Vatikanischen Konzils gereift. Die zentralen Themen des Konzils, von der Liturgiereform über die Rolle des Laien in der Kirche bis zur Ökumene, wären ohne die modernistische Erneuerungsbewegung nicht möglich gewesen. Insbesondere der Kirchenbegriff des Konzils, der zu Recht so hervorgehobene Gedanke, daß Kirche "Communio" sei und nicht zuerst Rechtsinstitut, ist Geist vom Geiste des Modernismus. Auch der Begriff der Kirche als Volk Gottes auf Wanderschaft ist nichts Neues für den, der mit modernistischer Theologie vertraut ist" (595 f.).

Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (602-613), ein Verzeichnis der Sigel und Abkürzungen (614 f.) sowie ein hochwichtiges Personenregister (616-632) beschließen den Band. Hilfreich wäre gewiß auch ein Sachregister gewesen, und sei es nur eines in Auswahl. Denn nicht allen Sachgesichtspunkten, theologischen Fragen und historischen Vorgängen, der Rolle etwa von Zeitschriften, Konferenzen, Vereinen oder auch z. B. dem üblen Treiben des Sodalium Pianum, ist mit Hilfe von Personen (im genannten konkreten Falle Umberto Benigni) auf der Spur zu bleiben, was aber gerade wegen der Fülle des hier gebotenen weiterführenden Materials für viele ein Gewinn wäre.

Es ist klar, daß mit dieser Spannweite alle Grenzen eines systematisierenden Begriffs, der alle Erscheinungen umfassen könnte, gesprengt werden. Der Titel des Buches ist insofern et-was problematisch; denn er unterstellt gewissermaßen, es ließe sich doch bewerkstelligen. Aber so, wie es "den Modernismus" schon zur Zeit Pius' X. nicht gab, wenigstens nicht in der Form, in der die Enzyklika "Pascendi" ihn karikierend darstellte, so wie der Begriff praktisch kirchenamtlich erfunden wurde, um eine ganze, vielgestaltige, in sich keineswegs homogene Bewegung in den Griff zu bekommen, so gibt es auch "den Modernismus in Deutschland" in der hier präsentierten Breite und zeitlichen Ausdehnung eigentlich nicht. Der Vf. muß insofern mit sehr weiten Definitionen operieren wie:

"Der Modernismus war eben in seinem Kern... nichts anderes als der Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils, eine religiös-theologische Erneuerungsbewegung im Gefolge Rosminis und Newmans, in der Besinnung auf die Wurzeln der Kirche, aber auch auf ihre Geschichtlichkeit und die Notwendigkeit, sich in jede Zeit zu inkarnieren" (498).

Er kann dieses aber auch mit gutem Recht. Denn nur so ist es möglich, das Phänomen, das Ringen auf so vielen Schauplätzen, von so verschiedenen Ansätzen her und mit den unterschiedlichsten Instrumenten ausgefochten, schließlich doch als einen Gesamtvorgang in den Blick zu bekommen. Es waren viele Kräfte im Spiele, gewiß mit deutlichen, auch subjektiven Grenzen, teilweise in Gefahr, auf Irrwegen sich zu verlieren, die der Vf. nicht verschweigt, aber alle doch mit dem erklärten Ziel, mitzuarbeiten an dem "Modell eines alternativen neuzeitlichen Katholizismus" (596). Der Vf. zeigt, auf wie vielen Wegen und mit welchen Mitteln das geschah, wie viele Wege von dem Denken und Lehren und Leiden jener Männer und Frauen hin zu dem Katholizismus führen, der im II. Vatikanischen Konzil dann Wirklichkeit wurde.