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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1085–1087

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kmiecik, Ulrich

Titel/Untertitel:

Der Menschensohn im Markusevangelium.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. 335 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 81. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-01861-7.

Rezensent:

Udo Schnelle

Die bei H. Merklein in Bonn eingereichte Dissertation hat zum Ziel, die Bedeutung der Menschensohn-Logien für die mk. Christologie herauszuarbeiten. In einem einleitenden Methodenteil wird das Markusevangelium als Bestandteil eines umfassenden Kommunikationsgeschehens verstanden, bei dem die Jünger als Identifikationspersönlichkeiten für die Gemeinde fungieren. Die Perspektiven von Autor und Adressaten des Evangeliums treffen sich in einer apokalyptisch geprägten Weltsicht, in der die gegenwärtige Zeit als Endzeit verstanden wird. Auf diesem Hintergrund schafft der Autor des Markusevangeliums ein neues literarisches Kompendium, um erstmals eine zusammenfassende Sicht der irdischen Geschichte Jesu zu entwerfen, die darauf zielt, die Gegenwart und nahe Zukunft der Adressaten zu interpretieren.

Die Analyse der Texte erfolgt in der Regel in einem Dreischritt: textsyntaktische, textsemantische und textpragmatische Analyse. Zudem fragt der Vf. durchgehend nach vorgegebenen Informationen der Adressaten und ihrer Neugestaltung durch Markus. Als erster Text wird mit diesem Methodeninstrumentarium Mk 13,1-37 analysiert. Der Vf. arbeitet Mittel und Ziele der Kommunikation zwischen Autor und Adressaten heraus, wobei er mit Rückgriff auf Mk 1,14.15 als Grundgedanken formuliert: "Jesus, der das Geschehen der Gottesherrschaft mit seiner Verkündigung und seinem Tun auf den Weg gebracht hat und so als der irdische Repräsentant dieser Gottesherrschaft bezeichnet werden kann, ist als der kommende Menschensohn ihr himmlischer Repräsentant, der die Gottesherrschaft vollendet" (65). Die Adressaten sind in ihrer historischen Situation nicht unmittelbar von den Vorgängen in Judäa betroffen, spüren aber die Auswirkungen der dortigen Geschehnisse. Autor und Adressaten blicken auf den Fall Jerusalems und die Tempelzerstörung noch voraus, beide Ereignisse sind allerdings angesichts der römischen Übermacht absehbar. Im Gegensatz zu den in Mk 13,5.21 f. erwähnten zelotischen Messiasprätendenten löst der Autor des Markusevangeliums die Ankündigungen apokalyptischer Phänomene von innergeschichtlichen Ereignissen und beschränkt das Wissen um den Termin des Kommens des Menschensohnes allein auf Gott. Er versucht damit, die durch den jüdischen Krieg gesteigerte Naherwartung der Adressaten zu relativieren. Der Menschensohn wird in absehbarer Zeit erscheinen, ohne daß sein Eintreffen innergeschichtlich festgelegt werden kann. Als zweiter Text wird Mk 8,27-9,1 mit Hilfe der genannten Methodenabfolge analysiert. Der Christus-Titel sichert nicht das zutreffende Verständnis der Person Jesu und bringt seine Hoheit nicht umfassend zum Ausdruck. Vielmehr will der Autor seinen Adressaten verdeutlichen, daß der endzeitliche und messianische Heilsbringer Jesus, der nun den Leidens- und Todesweg beschreitet, die himmlische Würde des Menschensohnes besitzt. Während Petrus als Repräsentant einer menschlichen Sicht Jesu auftritt, ist aus der Perspektive Gottes der Leidens- und Todesweg des Menschensohnes in den heilsgeschichtlichen Plan mit einbezogen. Auch für das Sinngefüge von Mk 9,2-13 sind die jeweiligen Perspektiven entscheidend. Die Perspektive des Petrus und der Jünger entsprechen einer menschlichen Sichtweise. Demgegenüber steht die Perspektive Gottes, die mit der Sichtweise Jesu identisch ist und für den Autor als alleiniger Maßstab gilt. Der Opposition der Perspektiven entspricht die in Mk 9,9 vorgenommene zeitliche Zweiteilung des Evangeliums. Das Verbot in V. 9 erklärt sich aus dem Unvermögen der Jünger, das Verklärungsgeschehen und die wahre Identität Jesu zu verstehen. Noch erfassen die Jünger nicht, daß Jesu eschatologischer Status in der Verklärung und sein Leiden bis hin zu Tod und Auferstehung eine Einheit bilden.

Auch nach Mk 9,30-37 gehört es zum Bild des Menschensohnes, daß er seinen Weg als der Leidende bis in den Tod geht. Aus dem Geschick des Menschensohnes folgt als Konsequenz eine radikale Nachfolge, denn nun gelten allein die Wertvorstellungen, die sich am Leiden und Sterben des Menschensohnes orientieren. Deshalb kann von den Jüngern der bewußte Verzicht auf eine hohe Rangordnung verlangt werden, indem sie Diener aller werden. In Mk 10,32-35 werden die Jünger wiederum aufgefordert, in ihrem Handeln dem Weg Jesu zu entsprechen. Sie sollen die Bedeutung seines Todes und seiner Auferstehung in den Blick nehmen und daraus Konsequenzen für ihre Existenz ziehen.

"Für den Autor geht es darum, daß die Gemeinde das ernst nimmt, was der nun von ihnen als der Kommende erwartete Menschensohn den Jüngern auf seinem Weg nach Jerusalem angekündigt und in Jerusalem selbst durchgemacht hat" (198). Die Gemeinde soll das Leiden und Sterben des Menschensohnes als das entscheidende Ereignis der Gottesherrschaft einordnen und in der Nachfolge den Dienst am Nächsten zum Maßstab ihres eigenen Tuns machen. Speziell Mk 10,45 verdeutlicht, daß Jesu Leidens- und Todesgeschick zum maßgeblichen Paradigma für das Handeln der Jünger werden soll. Darüber hinaus ist Jesu Tod als Tod des Menschensohnes rettendes Geschehen, das sich zugunsten der Vielen im eschatologischen Gericht niederschlagen wird. In Mk 14,55-65 werden noch einmal zentrale Elemente des mk. Menschensohn-Verständnisses entfaltet: Die Aufeinanderfolge der Titel in V. 61 f. zeigt, daß die Hoheitstitel Christus und Sohn Gottes ihren tiefen Sinngehalt und ihre Berechtigung erst im Zusammenhang mit dem Leiden und Sterben des Menschensohnes erhalten. Jetzt thront der Menschensohn zur Rechten Gottes; er wird mit den Wolken des Himmels wiederkommen und im Endgericht die Verurteilung seiner Gegner herbeiführen.

In einem abschließenden Teil werden die vorgegebenen Informationen der Adressaten über den Menschensohn und die Intentionen des Markus gegenübergestellt. Die Gemeinde sieht in Jesu gegenwärtigem Wirken als Menschensohn (vgl. Mk 2,1-12.23-28) den Anbruch der Gottesherrschaft. Der endgültige Durchbruch der Gottesherrschaft steht mit dem Kommen des im Himmel thronenden Menschensohnes nahe bevor. Dabei blickt die Gemeinde vor allem auf die Hoheit Jesu. Markus hingegen betont das Todes- und Auferstehungsgeschick des Menschensohnes, das ein entsprechendes Handeln der Jünger fordert. Die Adressaten sollen erkennen, daß die Parusie des Menschensohnes mit seinem Leidensschicksal verbunden ist. "Der Autor stellt in das Bild vom Menschensohn, der den Anbruch der Gottesherrschaft einleitete und mit seiner Wiederkunft die Vollendung bringen wird, das Leiden und Sterben Jesu hinein" (295). Innerhalb dieses Ansatzes ist die Menschensohn-Konzeption die Grundlage der mk. Christologie, die Hoheitstitel Christus und Sohn Gottes stehen nicht in Konkurrenz zum Menschensohn, sondern sind durchgehend auf diesen bezogen.

Die Untersuchung zeichnet sich durch einen klaren methodischen Zugriff aus. Auch die Ergebnisse überzeugen, denn den Menschensohn-Worten kommt in der Tat für die Christologie des Markusevangeliums eine zentrale Bedeutung zu. Der Vf. verzichtet fast vollständig auf die geläufige Terminologie der Messiasgeheimnistheorie; für ihn sind die von Markus eingeführten Perspektiven entscheidend. Damit wird ein Weg eingeschlagen, der nicht immer neue, wohl aber sehr gut begründete Ergebnisse erbringt.