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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

771–775

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Pannenberg, W. u. Th. Schneider [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verbindliches Zeugnis, II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption.

Verlag:

Freiburg: Herder; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 333 S. gr. 8 = Dialog der Kirchen, 9. Kart. DM 68,-. ISBN 3-451-23625-7 u. 3-525-56930-0.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Historische Aufklärung hat befreiende Wirkung. Diese Einsicht bringt auch die innerchristliche Ökumene voran, wie der neunte Band der unter dem Titel "Dialog der Kirchen" erscheinenden "Veröffentlichungen des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen" dokumentiert. Es ist die zweite Publikation, die mit der konfessionell strittigen Lehre von der Heiligen Schrift befaßt ist. Er wird von den Hgg. ausdrücklich als "Zwischenbericht" (7) eingestuft. Eine endgültige Klärung der offenen pneumatologischen Fragen soll folgen. Ging es zuvor um das Verhältnis von Schrift, Kanon und Tradition, konzentrieren sich die hier zusammengestellten, zwischen 1989 und 1993 entstandenen Beiträge auf die damals schon anklingende "Frage, welche Funktion der Kirche und ihrem mit der Lehrverkündigung beauftragten Amt bei der Auslegung der Schrift zukommt" (9). Die Vertreter beider Konfessionen sind darin einig, daß sich das Verhältnis von wissenschaftlicher Exegese und kirchlich-lehramtlich gesteuerter Schriftauslegung nicht unabhängig von dessen Geschichte bestimmen läßt. In die Durchführung der historischen Verständigung kommt es zu einer gegenläufigen Bewegung.

Die katholische Seite deutet die starke Stellung des primatialen Lehramtes als historische Reaktion auf den Protestantismus und das Unfehlbarkeitsdogma als den Gipfel der Epoche des Antimodernismus, der die Krise der Religion und ihrer Grundlagen reflektiert. In kritischer Sichtung der antimodernistischen Tradition des 19. und frühen 20. Jh.s wird im Blick auf die Gegenwart an diejenigen Dokumente des 2. Vatikanum angeknüpft, die der Freiheit des wissenschaftlichen Bibelkritik Raum geben und das kirchliche Lehramt unter das Wort Gottes stellen. Hermann J. Pottmeyer kommt in seinem Beitrag "Die Verbindlichkeit des Glaubenszeugnisses aus katholischer Sicht" zu dem Ergebnis, daß die zwischen den Konfessionen bestehenden Differenzen in den unterschiedlichen ekklesiologischen Konzepten begründet sind, die ihrerseits weniger theologisch motiviert als "viel stärker von den historisch-gesellschaftlichen und -kirchlichen Umständen geprägt worden [sind], als man das bisher wahrgenommen hat und wahrhaben will" (141). Vor diesem Hintergrund macht P. auf eine "Verschiebung im Offenbarungs- und Traditionsbegriff, die wir sowohl in den Dokumenten des 2. Vatikanums wie in ökumenischen Dokumenten beobachten" (143), aufmerksam, die auch den Kirchenbegriff betreffen. P. bezieht sich - gemeinsam mit den Kirchen der Reformation - zurück auf die altkirchliche "Communio-Ekklesiologie" (145). In ihrer Neufassung wird die "Kirche als creatura verbi und Sakrament des Wortes" (147) begriffen und zum bloßen Moment der "Selbstüberlieferung des Wortes Gottes" (152 f.). Grund- und oberste Norm für das Bleiben in der Wahrheit ist das Evangelium, d. h. "die sich im geisterfüllten, inspirierenden Verkündigungswort von Jesus Christus offenbarende heilschaffende Gegenwart und Kraft des Wortes Gottes" (151). Damit hält P. die grundsätzliche Differenz "zwischen dem sich in seinem Wort mitteilenden Gott und all jenen Zeugen und Zeugnisgestalten offen, durch die er sich bezeugt" (153). Eine "Identifizierung des Wortes Gottes, sei es mit der Bibel oder der Tradition oder dem kirchlichen Lehramt oder auch der kirchlichen Gewohnheit" (ebd.) ist ausgeschlossen. Die darin implizierte Freiheit für die wissenschaftliche Bibelforschung betont Karl Lehmann in "Notwendigkeit und Grenzen zwischen Theologen und Lehramt". Er geht von einer grundsätzlichen Verwiesenheit beider Partner auf, die den gleichberechtigten Dialog zwischen ihnen begründet. Innerhalb dieses von Solidarität, Wahrheitsbezogenheit und Fähigkeit zur Selbstkritik gesteckten Rahmens räumt er der wissenschaftliche Theologie großen Spielraum ein und weist vorzeitige lehramtliche Interventionen zurück. "Das Lehramt darf den Gang des theologischen Denkens, das sich in Freiheit und mit dem Risiko des Irrtums vollzieht, weder hemmen noch völlig unbeachtet lassen" (168).

Die gegenwartsrelevante Funktion der historischen Bibelkritik arbeitet Thomas Söding in seinen breit angelegten "Hermeneutischen Überlegungen zur Verbindlichkeit der Heiligen Schrift" heraus. "Jeder Versuch, die Wahrheit des Evangeliums auf dem Wege der Schriftauslegung zu erkennen, darf an der Pluralität der theologischen Ansätze, Positionen und Implikationen im Alten und Neuen Testament nicht vorbeischauen" (92 f.). Die Funktion der historisch-kritischen Exegese besteht darin, "Anwältin der theologischen Pluralität, die sich in der Bibel niederschlägt" (98) zu sein und diese in die kirchliche Schriftauslegung einzuspeisen. Daher "gibt es keine besondere Kompetenz des kirchlichen Lehramtes" (111) im genuinen Arbeitsfeld der literaturhistorischen und geschichtswissenschaftlichen Erforschung der Bibel. Nicht die Expansion des kirchlichen Lehramtes "auf Kosten der Freiheit theologischer Forschung und Lehre könnte das Ziel sein,... sondern dessen Konzentration auf die wirklich... fundamentalen Wahrheiten des Evangeliums" (113).

Deren lehrmäßige Aneignung vollzieht sich in der kirchlichen Öffentlichkeit als Rezeption, die Wolfgang Beinert in seinem in erfrischender Diktion verfaßten Beitrag "Die Rezeption und ihre Bedeutung für Leben und Lehre der Kirche" analysiert. Seine Interpretation der diesbezüglichen Lehrdokumente zielt darauf, den pneumatologischen Kern des Begriffs herauszuarbeiten, der ihn lehramtlichen und kirchenrechtlichen Autoritätsansprüchen grundsätzlich entzieht. Rezeption kann nicht als "ein selbstwirkendes Geschehen" (206) inszeniert werden, sondern ist "ein freier und unerzwingbarer Akt" (205). Die Kirche ist "eine universale Rezeptionsgemeinschaft" (209), die lebendige und kritische Momente enthält. Zu der darin implizierten Freiheit gehört, daß in bestimmten Fällen, wie Beinert am Beispiel Luthers verdeutlicht, die Verweigerung der Rezeption kirchenamtlicher Weisungen "der glaubenskonformere Akt" (196) sein kann. Vor allem die variablen historischen Umstände von Rezeption und Nicht-Rezeption müßten - besonders im Blick auf die Ökumene - in Rechnung gestellt werden. In diesem Zusammenhang untersucht Albert Gerhards "Die Rolle des Gottesdienstes für die Weitergabe des Glaubens". Dessen auf Dialog angelegte Struktur ist besonders offen für die in der Moderne ablaufenden Transformationsprozesse der Religion, wie er an neuen liturgischen Formen und der Individualisierung der Kasualpraxis deutlich macht.

Während auf katholischer Seite die Tendenz zu einer zeitgemäßen Modernisierung der kirchlichen Schriftauslegung erkennbar ist, spürt man der auf das 16. Jh. fixierten Orientierung der evangelischen Vertreter eine modernitätsfeindliche Stimmung ab. Der emanzipative Charakter der historischen Besinnung bezieht sich vor allem auf das Bemühen, die Epoche der Aufklärung und des von ihr freigesetzten Liberalismus zu überwinden, um am Beispiel der Barmer Theologische Erklärung (BTE) die kirchlichen Bekenntnisse zu operativen Funktionen der Kirchenordnung umzuformen. Hans Helmut Eßler interpretiert "Die Lehre vom ,testimonium Spiritus Sancti internum' bei Calvin innerhalb seiner Lehre von der Heiligen Schrift" und steuert dem ökumenischen Dialog die klassische Theorie des Protestantismus bei, die Freiheit der Schriftauslegung in Kontinuität mit christlichem Wahrheitsbewußtsein vermittelt. "Der Geist wird von Calvin verstanden als der, der in seiner Freiheit den Menschen von zwei Seiten heilsam umfaßt: Er hat das Schriftwort gewirkt, wie er das Predigerwort bestimmt -, das ist das ,von außen'; und er spricht im Menschen das ,Ja' dazu und bestätigt das Gelesene, Gehörte. Dies alles geschieht nicht zwanghaft, vielmehr in der Freiheit des Geistes, der allerdings gewiß zugesagt ist" (253). Eine verbindliche Schriftauslegung wird strikt pneumatologisch begründet. Die Konsequenzen dieses Ansatzes für "Lehramt und Lehrautorität in der evangelischen Kirche" zieht Eduard Lohse. Er stellt fest, daß es zwar "auch in der evangelischen Kirche Lehramt und Lehrautorität gibt" (191). Sie fallen aber strukturell mit dem Predigtamt zusammen, fußen allein in der Verkündigung des Wortes Gottes, orientieren sich an der Auslegung der Heiligen Schrift in den kirchlichen Bekenntnissen und zielen auf einen Konsens in der kirchlichen Lehre. Das kirchenleitende Amt genießt Autorität nur in geistlicher Hinsicht. Das Bischofsamt ist ein "besucheamptt" (Luther). Sein Inhaber hat weder "bindende Lehrentscheidungen zu treffen noch kann er durch Ausübung von Jurisdiktion Anordnungen zwingender Art geben. Das einzige Mittel, das ihm zur Verfügung steht, ist das brüderliche Wort, das in seiner Predigt, in der Ermahnung und Beratung der Pfarrer und in seinem an die Gemeinden gerichteten Zuspruch zu sagen hat" (185). Erst im Fall, daß ein "Fundamentaldissens" (190) vorliegt, greift als Notmaßnahme und unter Mitwirkung von Vertretern der akademischen Theologie ein förmliches Lehrbeanstandungsverfahren, das seit dem Zweiten Weltkrieg im Bereich der VELKD freilich erst einmal angewendet wurde.

Gibt es in einem solch seltenen Fall positive Kriterien, die die dann erforderliche verbindliche Schriftauslegung steuern? Evangelische "Kirchenordnungen und die Weitergabe des Glaubens und der Lehre" thematisiert Joachim Mehlhausen.

Die ersten reformatorischen Kirchenordnungen erwuchsen aus den Visitationsordnungen der Reformationszeit, mit denen man der kirchlichen Verwahrlosung begegnen wollte. "Obgleich diese Ordnungen nur als Notordnungen geschaffen worden waren,... entwickelte sich aus ihnen doch ein alle Lebensbereiche der Kirche umfassendes neues protestantisches Kirchenrecht" (288). Dabei war der im reformatorischen Schriftprinzip fun
dierte Grundsatz leitend, daß "die Ordnung... aus der Lehre abgeleitet werden und... sich nicht selbständig neben oder gar über ihr etablieren" (291) soll. Am Beispiel der Hamburger Kirchenordnung zeigt M., daß diese nicht nur für kirchenleitende Zwecke, sondern für den für "eine Hausgemeinde Verantwortlichen als Lehrbuch" (292) dienen sollte. Im Aufklärungszeitalter blieb in den kirchenordnenden Vorschriften "kein Platz mehr für die Weitergabe des Glaubens und der Lehre" (293). Man legt "unter rein pragmatischen Gesichtspunkten kirchliches Recht neu fest" (ebd.). Die Präambeln der kirchlichen Verfassungsurkunden im 19. und 20. Jh. sind "den Eingangsteilen der modernen konstitutionellen Staatsverfassung aus dem frühen 19. Jh. nachgebildet" (295). Auf breite Lehrentfaltung wird verzichtet. Der hohe Allgemeinheitsgrad der zu bloßen "Abbreviaturen" (296) geschrumpften Lehraussagen ermöglicht den Amtsträgern "recht große Freiräume für persönlich verantwortete Einzelentscheidungen" (297) zur theologischen Gestaltung des kirchlichen Lebens. Ein Sachverhalt, den M. kritisch wertet.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird wieder der Versuch unternommen, Lehre und Kirchenordnung durch ergänzende Lebensordnungen stärker miteinander zu vernetzen. Da diese in der Praxis der Weitergabe des Glaubens und der Lehre eher nur ",Angebotscharakter'" (299) haben, schlägt M. vor, entweder die Lebensordnungen in die Visitationsordnungen aufzunehmen und ihnen "im Visitationsgeschehen als Maßstäbe für die Kirchenzucht" (300) Geltung zu verschaffen oder sie, wie die Rheinische Kirche, in die Kirchenordnung zu integrieren (vgl. 302 f.). Seine These, "daß evangelische Kirchenordnungen auch heute der rechte Ort sind, an dem die Weitergabe des Glaubens und der Lehre einen Sitz im Leben der evangelischen Kirche haben sollte" (308), belegt er in seinem zweiten Beitrag "Die Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung [BTE] in den evangelischen Landeskirchen nach 1945". M. konstatiert, daß es zu einer inhaltlichen Rezeption der BTE erst "in den späten 60er Jahren" (238) vor dem Hintergrund der "aufkommende[n] Politisierung" (ebd.) kommt. Viele der seitdem gewonnenen Einsichten sind "längst zum Allgemeinbesitz der theologischen und innerkirchlichen Diskussion über die Begründung einer politischen Ethik geworden" (239). Für Gegenwart und Zukunft fordert M., daß die "neu wahrgenommenen theologischen Einsichten... ,politisch durchgesetzt' werden und zu einer Umgestaltung kirchlicher Ordnung und einer Veränderung des kirchenleitenden Handelns führen" (243 f.) müssen. Dabei soll "die Akzeptanz neuer theologischer Einsichten durch die Gemeindeglieder" (244) berücksichtigt, sie darf aber "nicht zum Zünglein an der Waage oder gar zum endgültigen Wahrheitserweis für diese gemacht werden" (244). Die ekklesiologische Begründung liefert Wolfhart Pannenberg. Weil die Bekenntnisbildung in den Kirchen der Reformation aus, wie er ausdrücklich betont, historischen Gründen nicht fortgeschrieben und aktualisiert wurde, plädiert er in "Bleiben in der Wahr heit als Thema reformatorischen Theologie" für eine erneuerte Fortschreibung solch verbindlich-repräsentativer Funktionen in der Kirche. Er schließt dabei an diejenigen Aspekte des reformatorischen Kirchenbegriffs an, die sichtbare und unsichtbare Kirche zusammenführen. "Luthers Gedanke, daß das Bleiben der Kirche in der Lehre des Evangeliums gerade durch die kritische Wechselbeziehung zwischen dem Verkündigungsamt der Kirche... und der Rezeption seiner Lehrtätigkeit durch die Glaubenden seine konkrete Gestalt gewinnt, könnte auch als Impuls zur Ausbildung neuer Formen einer repräsentativen Wahrnehmung verbindlicher Lehre in der Kirche seine bleibende Bedeutung haben" (133).

Der Eigendynamik der wissenschaftlichen Bibelkritik sucht Ulrich Wilckens durch deren geistliche Domestizierung gegenzusteuern. Sein ebenso langer wie gelehrter Aufsatz über "Schriftauslegung in historisch-kritischer und geistlicher Betrachtung" setzt mit einer zeitkritischen Diagnose ein. Die bekannte These von der "Krise des protestantischen Schriftprinzips" wird zur "Krise auch des Schriftgebrauchs" (16) zugespitzt. W. verweist auf die fachliche und methodische Ausdifferenzierung innerhalb der wissenschaftlichen Exegese und den damit verbundenen Verlust an theologischer Rückbindung: "Neue Methoden setzen sich in Positur, ohne sich überhaupt der Mühe zu unterziehen, sich gesamt-theologisch zu legitimieren" (15). Exegetische Fachliteratur findet daher beim kirchlichen Personal kein Interesse mehr. "Stattdessen haben modische Surrogate Konjunktur" (16). Diese Symptome sind begründet in der "Problemgeschichte" (17) der historisch-kritischen Bibelforschung, die W. ausführlich und mit aporetischen Ergebnis rekonstruiert: Trotz eines differenzierten historischen Verstehens hat sie "das ihr von der Aufklärung zugedachte und naiv zugetraute Ziel nicht erreicht...: uns dem Ursprung in seiner ,Echtheit' und ,Wahrheit' wirklich näherzubringen und die Zugänge zu ihm freizulegen. Sie hat vielmehr die Theologie wie die Kirche zugleich in eine tiefgreifende Krise gebracht.... Sie hat aber auch aus sich selbst heraus Mittel und Wege gefunden, um diese Krise... zu überwinden" (34). W. knüpft an die form- und überlieferungsgeschichtliche Methode an, wenn er "die gegenwärtige Situation evangelischer und katholischer Bibelexegese als Chance ökumenischer Theologie" (34) versteht. Diese Perspektive konkretisiert er durch eine originelle Revitalisierung der altkirchlichen und mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn. Denn jeder der drei über den Literalsinn hinausgehenden Schriftsinne "hat, nicht nur in der katholischen, sondern auch in der evangelischen Kirche... faktisch eine durchaus wichtige Rolle gespielt" (63). Auf der Basis des den sensus historicus integrierenden sensus litteralis sollen die spezifischen Perspektiven der drei anderen Schriftsinne das "Verstehen... in... heutiger praxis pietatis... konkretisieren" (65). Eine die Schrift geistlich verstehende "Akzeptation der Gegenwart Gottes und eine eigene Gewichtung der Weisen seiner Vergegenwärtigung in der Kirche" (ebd.) überbrückt deswegen die Kluft zwischen historisch-kritischer Exegese und geistlicher Schriftbetrachtung, weil dem sensus historicus von W. die geistliche Funktion zugewiesen wird "mich, den Exegeten, hörfähig werden zu lassen" (64).

Der Band vermittelt den Eindruck eines ökumenisch-historischen Lernprozesses. Dabei wird ein formal identisch strukturiertes historischen Paradigma inhaltlich different ausgewertet. Während die katholischen Vertreter das befreiende Potential historischer Aufklärung innerhalb der Grenzen, die ihnen gesteckt sind, zur Emanzipation von der Tradition verrechteter Autoritätsstrukturen nutzen und die Freiheit von Schriftauslegung und ihrer lehrmäßigen Auswertung betonen, kehren die evangelischen Vertreter die Freiheit der historischen Aufklärung wider ihre Geschichte und suchen die Freiheit entweder geistlich einzubinden oder kirchenordnend zu restringieren. Verdacht erregt die Einseitigkeit, mit der das Problem der verbindlichen Schriftauslegung vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner kirchenpolitischen Gestaltbarkeit analysiert wird. Denn die ordnungspolitische Einbindung der Freiheit der Schriftauslegung entstellt ihre Geschichte, die mit der liberalen Epoche des Protestantismus fest verbunden ist. Zu ihr gehört, daß die zur Wahrheit befreiende Schriftauslegung sich mit neuen Formen verbinden, sich an neuen Inhalten konkretisieren und neue soziale Gestalt annehmen kann. Thomas Söding stellt fest: "Kirchliche Auslegung der Heiligen Schrift geschieht überall dort, wo in der Gemeinschaft der Glaubenden und in der persönlichen Betrachtung die Bibel gelesen und auf ihre Bedeutung befragt wird" (104). Gilt nicht auch umgekehrt: Überall dort, wo in der Gemeinschaft der Glaubenden und in der persönlichen Betrachtung die Bibel gelesen und auf ihre Bedeutung gefragt wird, geschieht kirchliche Schriftauslegung - auch außerhalb der Reichweite der ecclesia visibilis? Wer ist deren Anwalt im ökumenischen Dialog?