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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

768–770

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Grotefeld, Stefan

Titel/Untertitel:

Friedrich Siegmund-Schultze. Ein deutscher Ökumeniker und christlicher Pazifist. Mit einem Vorwort von W. Huber.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. XIV, 480 S. gr. 8o = Heidelberger Untersuchungen zu Widerstand, Judenverfolgung und Kirchenkampf im Dritten Reich, 7. Kart. DM 98,-. ISBN 3-579-01867-1.

Rezensent:

Günter Krusche

"Obwohl Friedrich Siegmund-Schultze zu den bedeutenden Gestalten der Kirchengeschichte des 20. Jh.s gehört, ist er heute weitgehend in Vergessenheit geraten" (Vorwort des Vf.s, XIII). Diesem nicht zu bestreitenden Defizit wird von Grotefeld (= G.) in einer akribischen, auf genauem Quellenstudium beruhenden und zielstrebig aufgebauten Studie in beachtlicher Weise abgeholfen.

Die Arbeit, die 1993 in Heidelberg als Dissertation angenommen wurde, verdankt sich dem Kreis um Heinz Eduard Tödt und wurde in die Reihe der "Heidelberger Untersuchungen zu Widerstand, Judenverfolgung und Kirchenkampf im Dritten Reich" aufgenommen. Das Buch füllt eine Lücke aus, indem es a) den Weg S.s (1885-1969) mit allen Höhen und Tiefen, Aufbrüchen und Widerständen beschreibt und dabei seine wesentlichen Motivationen und Anliegen darlegt, b) die besonders wenig erforschte Zeit seines im In- und Ausland umstrittenen Aufenthaltes in der Schweiz aufgrund ausführlichen Quellenstudiums erhellend darstellt und dadurch c) Irritationen im Verhältnis zur DEK und zum ÖRK plausibel macht und darüber hinaus S.s begrenzten Einfluß in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt.

Was an der Arbeit besticht, ist die von tiefem Respekt geleitete Würdigung einer bedeutenden Persönlichkeit, eines begabten Theologen mit Weitblick, eines Ökumenikers der Anfänge, eines sozial engagierten Wissenschaftlers, der, aus den Quellen der liberalen Theologie schöpfend, den einfachen Menschen nahesein wollte und die soziale Frage vor allem als Aufforderung zur Tat verstand, auch eines konsequenten Antifaschichten, der allerdings aus seinem Nationalgefühl kein Hehl machte und deshalb selbst von seinen Freunden nicht immer verstanden wurde; vor allem verdanken ihm die Friedensbewegung im allgemeinen und der Internationale Versöhnungsbund im besonderen wichtige Impulse.

Bei aller Würdigung zeigt G. jedoch auch die Grenzen S.s deutlich, so daß am Ende das überzeugende Porträt eines Menschen entsteht, der am eigenen Leibe Ausgrenzung und Mißverständnis erlebte, ein Opfer der NS-Gewaltherrschaft, obwohl er in der "sicheren Schweiz" überlebte, der aber auch aus begreiflichen Gründen an seiner Kirche litt und selbst bei potentiellen Verbündeten wie Karl Barth u. a. nicht das rechte Verständnis fand, so daß er am Ende seines Lebens recht einsam wurde, neben den Weg geriet und viele Schätze der Erkenntnis nicht weitergeben konnte. Sein Verhältnis zur Genfer Ökumene war gebrochen, denn er beklagte die Verkirchlichung der Ökumene und bestand auf dem Charakter der Ökumene als einer Bewegung. Heute erkennen wir deutlicher als die kirchliche Öffentlichkeit damals, daß der "Weltrat der Kirchen" nur die institutionelle Seite der ökumenischen Bewegung vertritt.

In der Einleitung (1-21) expliziert G. das Thema, indem er mit der Feststellung beginnt: Als S. "1933 emigrieren mußte, gehörte er zu den bedeutendsten und im Ausland geschätztesten deutschen Ökumenikern und zu den in der deutschen Öffentlichkeit bekannten Persönlichkeiten." Wenn jedoch über den Stand der Forschung zu berichten ist, bleibt das Ergebnis mager; eine ausführliche Biografie liegt noch nicht vor. Daher sind viele Aktivitäten S.s weithin unbekannt: z. B. seine Widerstandsbemühungen von der Schweiz aus sowie sein Beitrag zum Widerstandskampf der Kirchen mittels des Weltbundes für die Friedensarbeit der Kirchen. Die Engführung in der Darstellung des Kirchenkampfes auf den Weg der BK hat den Beitrag des liberalen S. kaum zur Kenntnis genommen. G. nimmt als wesentlichen Grund für diese geringe Kenntnisnahme die frühe Exilierung an. Damit allein kann aber nicht erklärt werden, daß S. als einer der "Pioniere der Sozialethik in Deutschland" (12) kaum zur Kenntnis genommen wurde, obwohl er seit 1926 eine Honorarprofessur zunächst für Jugendkunde und Jugendwohlfahrt, später für Sozialpädagogik und Sozialethik in Berlin innehatte.

G. gelingt es, anhand der Geschichte einer einzelnen Persönlichkeit die komplexen Zusammenhänge zwischen Ökumene, Kirchenkampf, Pazifismus und Widerstand exemplarisch darzustellen. Ihm liegt daran, den Begriff des Widerstands bzw. der Opposition möglichst genau zu fassen. Dazu eignet sich der spezifische Weg S.s wohl besonders, weil er Aspekte zu be-rücksichtigen nötigt, die bislang nur wenig Beachtung fanden. Die "ethisch-moralische Motivation" (17) interessiert hierbei besonders, denn sie gestattet es, das Besondere der Opposition S.s gegen den Nationalsozialismus zu erklären.

Aus Ziel und Methode G.s ergibt sich der Aufbau der Arbeit: Zuerst werden die Grundzüge in S.s theologischem Denken dargestellt, aus denen sich als Konkretionen die Soziale Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost ("SAG als Modell für Kirche und Gesellschaft" [73 ff.]) und der Internationale Versöhnungsbund ("als Modell für Ökumene und Völkergemeinschaft") sowie der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen (82 ff.) ergeben.

Damit ist der Grund für die chronologische Darstellung gelegt: Konflikte und Vertreibung (Kap. 2), Neue Niederlagen und fortschreitende Exilierung (Kap. 3), Kirchenkampf und Ökumene (Kap. 4), Flüchtlingshilfe (Kap. 5), Krieg und Ökumene (Kap. 6). Beziehungen zum Widerstand (Kap. 7), Pläne für den Wiederaufbau (Kap. 8).

Aus räumlichen Gründen muß hier leider auf eine ausführliche Darstellung der gut dokumentierten Beobachtungen und Erklärungen verzichtet werden. Hervorgehoben sei die genaue Darstellung der Ereignisse um die SAG (102 ff.) und die Schließung des "Ulmenhofes" (121 ff.), die das Ringen S.s um einen tragbaren Modus vivendi für seine Arbeit (128 ff.) verdeutlichen. Er hat es sich wahrlich nicht leicht gemacht, als er Deutschland verließ! Das Ende der bedeutenden ökumenischen Zeitschrift "Die Eiche" und S.s Rücktritt als Mithg. der renommierten "Christlichen Welt" werden in ihrer Dramatik beschrieben (145 ff.).

Ebenso liest man mit Spannung die Ereignisse um die ökumenischen Konferenzen von Fanö 1934 (179 ff.) und Oxford 1937 (182 ff.) aus der Sicht S.s als eine wichtige Ergänzung zu den bislang bekannten Darstellungen aus binnendeutscher wie aus ökumenischer Perspektive. Ungemein erhellend ist auch die Beschreibung des Aufbaus des Internationalen Kirchlichen Hilfskomitees (211 ff.), dessen Wirksamkeit bis in die Nachkriegszeit hineinreichte. Auf reges Interesse dürften auch die Aktivitäten S.s im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges stoßen, hier vor allem seine Vermittlertätigkeit bei Minoritätenkonflikten in Polen und in der Tschechoslowakei (262 ff.) und seine Aktionen im Zusammenhang mit dem Münchner Abkommen (271 ff.).

Sein Verhältnis zum Widerstand gegen Hitler in Deutschland war von der für ihn charakteristischen Spannung zwischen Patriotismus und Pazifismus bestimmt, die Irritationen hervorrief und verhinderte, daß ihm eine bedeutende Rolle zuwuchs. Tragisch wirkten sich auch seine Aversion gegenüber Gerstenmaier und seine trotz mehrfacher Begegnungen bleibende Distanz zu Bonhoeffer aus (316 ff.). Als folgenreich dürfte sich auch die Auseinandersetzung mit Karl Barth über die Schuldfrage (357 ff.) erwiesen haben. Seine patriotische Grundhaltung hat ihn gegenüber der Kollektivschuldthese, wie sie damals von Barth und anderen vertreten wurde, zu leidenschaftlichem Widerspruch herausgefordert. Er fürchtete eine "Verhärtung der deutschen Psyche" (360) durch die undifferenzierte Verurteilung aller Deutschen. Gegenüber Vorhaltungen betonte er, daß für ihn Versöhnung Gerechtigkeit nicht ausschließe: "Im Gegenteil, ich bin durch meine Lebenserfahrungen davon überzeugt worden, daß Gerechtigkeit ebenso wie Wahrheit nur da möglich ist, wo Versöhnungswille vorhanden ist", schrieb er einem Kritiker (365).

Das Zitat kann deutlich machen, wie wichtig S.s Einsichten auch heute noch sein können. Es läßt aber auch erkennen, wie stark für ihn das Gebot der Liebe gemäß der Bergpredigt vor und über allen sozialethischen Überlegungen stand. G. mag recht haben mit der Feststellung: "S. ging es... nicht nur um diese Relativierung des Vorletzten vom Letzten her. Faktisch bestritt er dem Vorletzten sein Recht, indem er auf die vollständige Realisierung absoluter Kategorien im Relativen drängte" (365). Vor diesem hohen Anspruch konnte auch die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bestehen: Kalter Krieg, Ost-West-Gegensatz, der Supremat der Großmächte in der UNO und auch die Ablehnung eines christlichen Sozialismus als eines "mittleren Weges" durch die CDU brachten "neue Enttäuschungen" (376 ff.) und ließen S. bei seiner Rückkehr 1947 keinen Einstieg mehr in die veränderte kirchliche und politische Landschaft finden. Er erschien als "ein Mann von gestern" (420).

Bemerkenswert ist das abschließende Kapitel 9: Bewährung und Grenzen (380 ff.). Hier werden noch einmal die wesentlichen Gedanken S.s zusammengefaßt und im Kontext seiner Lebensgeschichte kritisch gewürdigt: G. stellt fest, daß S. trotz konsequenter Ablehnung des NS-Systems eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus nie geführt hat, da sein Widerstand ganz elementar war und auf praktische Maßnahmen abzielte. Ihm genügte zur Begründung das Gebot der christlichen Nächstenliebe sowie sein Gewissensbegriff, der für seine gesamte Sozialethik beherrschend war, vor allem auch seinen Pazifismus begründete. Gerade diese Grundeinstellung führte bei ihm zu einer unausgewogenen Verhältnisbestimmung zwischen radikaler und schöpferischer Nachfolge-Ethik (nach Ernst Wolfs Unterscheidung) und partiell auch zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik (im Sinne Max Webers), wodurch sein Pazifismus den konkreten politischen Herausforderungen der jeweiligen Situation nicht immer gewachsen war. Aber ist das nicht die Grenze eines jeden gewissensethisch begründeten Pazifismus?

Eine spezifische Prägung besaß auch seine ethische Zielvorstellung für das politische Handeln. G. erhebt mit Recht die Frage, ob es S. nicht letzten Endes doch um die "Verchristlichung" der Welt bzw. der Gesellschaft ging (412 f.), die sich aus dem radikalen Anspruch der Gewissensethik ergibt. Dieses Ziel ist jedoch - auch in eschatologischer Perspektive - eine Utopie, so daß ein Scheitern fast unausweichlich erscheint. In dem Fehlen einer theologisch durchreflektierten sozialethischen Theorie mag man mit G. den tiefsten Grund für die mangelnde Rezeption S.s sehen, wobei zu fragen bleibt, ob nicht auch die besondere Biografie ihn zu einem Ökumeniker und Pazifisten werden ließ, der vor allem im praktischen Tun angesichts von Unrecht und Gewalt seine vordringliche Aufgabe sah. Bei aller Tragik, die sein Leben und Schaffen umgibt, bleibt S. ein wichtiger Zeuge christlicher Weltverantwortung. G. aber gebührt Dank für die gelungene differenzierte Darstellung eines bis heute nur ungenügend gewürdigten Lebenswerkes.