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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

559–562

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schürmann, Heinz

Titel/Untertitel:

Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge.

Verlag:

Hrsg. von Klaus Scholtissek. Paderborn: Bonifatius 1994. 456 S. gr.8o. Kart. DM 49,-. ISBN 3-87088-773-7.

Rezensent:

Nikolaus Walter

Heinz Schürmann, heute 83-jährig (ich schreibe dies am 18. 1. 96), ist neben dem wenig älteren Anton Vögtle einer der Grandseigneurs der deutschen katholischen Neutestamentlerschaft, auch von den protestantischen Kollegen hochgeachtet, zumal sich in ihrer Nachfolge der konfessionelle Gegensatz in der exegetischen Arbeit nahezu selbst aufgehoben hat; für den in der damaligen DDR (Sch. war von 1953 bis 1978 Lehrstuhlinhaber am "Philosophisch-theologischen Studium" in Erfurt) lebenden jüngeren Kollegen war er zugleich einer der wichtigsten Verbindungsmänner zur gesamtdeutschen und internationalen Neutestamentlerschaft.

Hier liegt nun der Ertrag seiner ihn seit gut 40 Jahren umtreibenden ,Rückfrage nach Jesus' in beeindruckender Weise zusammengefaßt vor. In den 50er Jahren entstand diese Rückfrage unter dem Druck des von der Existenztheologie ausgesprochenen Verzichts auf den "historischen Jesus" als Grund christlichen Glaubens, der aber auch in der protestantischen Theologie, ja unter den Schülern Bultmanns selbst in Frage gestellt wurde. Für den katholischen Exegeten kam damals freilich noch der Prozeß der Anerkennung und Aneignung der historisch-kritischen Forschungsweise hinzu, so daß zugleich die Sicherheit in der Handhabung der Methode und die hermeneutische Gewißheit theologischer Folgerung aus exegetischen Arbeitsergebnissen erworben werden mußten, womöglich ohne daß dabei erst eine Phase radikaler Skepsis durchlaufen wurde. Dafür ist charakteristisch, daß - so erscheint es auch in diesem Band - Schürmanns innerer Dialogpartner immer wieder sein schon genannter Kollege Vögtle ist, der - im gleichen Prozeß stehend - die Folgerungen aus der historisch-kritischen Arbeit in manchen Punkten (nach dem Urteil des Rez.) konsequenter gezogen hat. Es geht also in der damals "neuen Frage nach Jesus" um die Probleme, die die historisch-kritische Bibelwissenschaft aufgeworfen, d. h. genauer: als in der "Sache" selbst gegebene Grundfragen entdeckt, d. h. aufgedeckt und zur Diskussion gestellt hat. Dabei steht bei Sch. - wie bei jedem verantwortlich arbeitenden Theologen - diese "Rückfrage" nach den Anfängen im Dienst einer Kirche, die ihren Dienst in der Welt als "Pro-Existenz" nur in dem bleibenden Verpflichtetsein auf diese Anfänge leisten kann (dieser von Schürmann 1972 gefundene, für ihn zentrale Begriff will übrigens ein Überbietungsbegriff zu dem in den 70er Jahren propagierten politischen "Koexistenz"-Gedanken [KSZE-Konferenz in Helsinki!] sein; vgl. 286).

Der vorliegende Band ist kein "Jesus-Buch" im geläufigen Sinne, sondern bietet Blicke auf Jesus aus Nazaret, den "Geschickten" Gottes, und sein "Ge-Schick", Beiträge, die zuerst in den Jahren 1960-1985 (zwei datieren von 1991) entstanden. Sie sind nicht einfach wiederabgedruckt (z. T. schon zum zweiten Mal), sondern gewissermaßen neu "komponiert", wobei sie z. T. auseinandergenommen und an zwei oder gar drei verschiedenen Stellen in das neue Ganze eingefügt wurden. Dabei waren natürlich Überschneidungen möglichst zu tilgen und mancher verbindende Gedankengang neu hinzuzufügen; dazu kommen gelegentliche Bezugnahmen auf neuere Literatur in Nachträgen. Es ist hier auch der Ort, dem Hg. Klaus Scholtissek für seine gewiß oft mühsame, jedenfalls viel Geduld erfordernde Arbeit zu Ehren Heinz Schürmanns zu danken (gelegentlich hat er auch selbst einen Nachtrag formuliert (z. B. 239 f.), was aber vermutlich nicht so zu verstehen ist, daß etwa alle mit [...] eingefügten Passagen auf ihn zurückgehen.

Vierzehn Aufsätze bzw. Aufsatzteile bilden den Hauptteil I: "Blickpunkte" (17-265). Hier ist eine in gewissem Sinne "biographische" Ordnung - von den Ursprüngen Jesu in Nazaret bis hin zum Tod und Todesverständnis Jesu und zum Weiterleben seiner "Sache" nach Ostern - eingehalten. Thematisch kreisen die Beiträge vor allem um den Begriff des "Reiches Gottes" in Jesu Verkündigung und um sein "ureigenes" Verständnis seines Todes, ausdrücklich zusammengebracht in den Beiträgen (9) "Die Basileia als mögliches Todesgeschick Jesu" und (10) "Jesu Tod als Heilstod im Kontext seiner Basileia-Verkündigung", aber auch sonst immer wieder gegenwärtig. Bei dieser Zusammenschau geht es Sch. - systematisch gesehen - um die Verknüpfung der zwei Aspekte auf den "Jesus des Glaubens", deren einer sich wesentlich auf die Verkündigung und das Wirken des (irdischen) Jesus als Grund christlicher Existenz bezieht (so gerade in neuerer Zeit die Basis eines sich stärker politisch verstehenden Christusglaubens) und deren anderer das eigentliche göttliche Heilsgeschehen im Tode Jesu zusammengefaßt sieht (so die Hauptlinie der kirchlichen Credo-Tradition). Die beiden Motivkomplexe werden zueinandergeführt durch die Ausarbeitung der Erkenntnis, daß das entscheidend Eigene der Basileia-Verkündigung Jesu in der "Personalisierung" der messianischen Ansage geschieht: nicht der "neue Aion" steht im Mittelpunkt, sondern das (väterliche) Herrschen Gottes, dessen Gesandter mehr als nur eine Überbringerfunktion hat. "Die heilsmittlerische Kontinuität darf... nicht nur im Inhalt des Kerygmas gesucht werden, sie muß im gesamten Basileia-Engagement Jesu gefunden werden - und das bereits im vor-österlichen Engagement Jesu" (171 Anm. 11). Von der anderen Seite her bekommt deshalb die methodisch von Sch. genau bedachte "Rückfrage nach Jesus" ihre Dringlichkeit, die in ihrem Kern für ihn die Rückfrage von der nachösterlichen Verkündigung des Heilstodes Jesu zum "ureigenen" Verständnis Jesu von seinem Tode ist. Führt die Rückfrage über den weithin anerkannten Befund hinaus, daß Jesus seinem Tod als einer oder der Konsequenz aus seiner Verkündigung sehend entgegenging, bis hin zu einem eigenen Gedanken Jesu an die "Heilsbedeutsamkeit" dieses seines Todes? Sofern sich dogmatische Christologie um eine Integration der Ergebnisse historisch-kritischer Exegese bemüht (wo sie das nicht täte, drohte sie in die Gefilde der Spekulation abzugleiten), ist dies ganz gewiß eine christologische Kernfrage. Sch. antwortet vor allem mit dem Verweis auf die Gesten Jesu bei seinem letzten Mahl mit seinen Jüngern (die ihm sicherer historisch zu sein scheinen als die verba testamenti); Jesus habe das Geheimnis seines Todes nur vor ihnen und nur ein Stück weit geöffnet. Hier wie auch sonst oftmals ist für Sch. die Auseinandersetzung mit A. Vögtle die Herausforderung zu einer Präzisierung der eigenen Fragestellung; der Rez. freilich gesteht, daß er eher mit A. Vögtle in der Richtung denkt, daß für die nachösterliche Verkündigung des Todes Jesu als Heilstod kein "Eigenwissen" Jesu um solche Bedeutung postuliert werden muß, sondern daß es sich bei der Verkündigung des Heilstodes Jesu um das Ergebnis nachösterlichen Nachdenkens über den in der Konsequenz seines "Werkes" liegenden Tod handelt.

Der II. Hauptteil (aus fünf Beiträgen bestehend) ist überschrieben "Schau der Gestalt" (267-362); hier geht es also um ein "Gesamtbild" von Jesus, das aber natürlich nicht ein quasi "objektives" Fazit darstellt, sondern das "Schauen" des Glaubens meint. Schon die Einzeltitel machen den Bezug zum "spirituellen" Erfassen dieses "Bildes" deutlich, ohne daß durch Spiritualität die verstehende Vernunft überspielt würde: "Jesu Tod - unser Leben. Ein Versuch zu verstehen"; "Der pro-existente Christus - die Mitte des Glaubens von morgen? Eine theologische Meditation" oder "Passio et Compassio Caritatis" mit dem Abschnitt 3: "Die christliche Mitte heutiger Spiritualität". In der Sache ist für die so "geschaute" Gestalt Jesu der schon erwähnte Begriff der "Pro-Existenz" wichtig, der als "christologischer Grundbegriff" breit entfaltet wird (286-315).

Im Hauptteil III (363-434), als "Anhang" überschrieben, aber damit keinesfalls als weniger wichtig eingestuft, geht es schließlich um methodische Fragen, auch um eine forschungsgeschichtliche Einordnung der gesamten Fragestellung. Gerade die sorgsamen Besinnungen Schürmanns zur Methode des geschichtlichen Fragens sind m. E. sowohl in wissenschaftlich-kritischer wie in geistlich-theologischer Hinsicht besonders bedenkenswert, weil sie über ein "positivistisches" Verständnis von Exegese hinausführen. Aber solche Methodenbesinnung überwuchert bei Sch. nie die "Sache", um die es für den Exegeten eigentlich geht und der die Methode nur zu dienen hat.

Nein - ein neues "Jesusbuch" im Sinne vordergründiger Aktualität oder gar Sensation ist das nicht. Vielmehr ist es eine wertvolle Zusammenstellung der für Heinz Schürmann charakteristischen Arbeiten zur Jesusfrage, die für die exegetisch-theologische Diskussion um die "Gestalt" Jesu in dieser Neufassung ihren bleibenden und unverwechselbaren Beitrag auch in die Arbeit der nächsten Generation der Forschung einbringen werden; sie wäre schlecht beraten, wenn sie achtlos daran vorbeigehen wollte. Jedenfalls gebührt dem Autor und ebenso dem Hg. herzlicher Dank für dieses Werk.