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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

672–674

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wenham, David

Titel/Untertitel:

Paul. Follower of Jesus or Founder of Christianity?

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 1995. XVI, 452 S. gr. 8o. ISBN 0-8028-0124-2.

Rezensent:

Martin Rese

Die Alternative "Nachfolger Jesu oder Stifter des Christentums" im Untertitel dieses umfangreichen Paulusbuches zeigt an, was W. behandeln will, nämlich die Frage nach dem Verhältnis des Paulus zu Jesus. Außerdem läßt die Formulierung der Alternative erkennen, wie W. diese Frage beantworten wird - wenigstens dann, wenn man weiß, daß W. sich selbst als "einen gemäßigt konservativen, biblischen Kritiker" (20) bezeichnet, und, wenn einem die Forschungsgeschichte nicht völlig unbekannt ist, W.s Antwort lautet: Paulus war nicht "Stifter des Christentums", sondern "Nachfolger Jesu"! Schon in seiner Einleitung (Kap.1, 1-33) versichert W., "dieses Buch vertritt eine eindeutige These, nämlich, daß Paulus sehr viel besser als ,Nachfolger Jesu' denn als ,Stifter des Christentums' beschrieben wird" (33), und am Schluß seines Buches hebt er hervor, "daß Paulus vor allem durch den Wunsch motiviert wurde, Jesus nachzufolgen" (410).

Zur Forschungsgeschichte: Nach dem Verhältnis des Paulus zu Jesus kann erst gefragt, wenn zuvor zwischen dem historischen Jesus und dem dogmatischen Jesus Christus unterschieden worden ist. Das war vor dem 18. Jh. nicht der Fall. 1778 veröffentlichte Lessing die Schrift "Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten" und machte so die Forderung des Reimarus bekannt, da die Lehre Jesu nicht zu vermischen sei mit der Lehre der Apostel, besonders der des Paulus, und daß nach dem zu fragen sei, "was Jesus in seinem Leben wirklich selbst ausgesprochen und gelehret hat". Im 19. Jh. stand bekanntlich die Frage nach dem historischen Jesus im Vordergrund (s. A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung). Die Frage nach dem Verhältnis des Paulus zu Jesus blieb zunächst mehr im Hintergrund; sie wurde erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jh. verstärkt gestellt und kritisch oder konservativ beantwortet. Kritisch, das bedeutete, auf den Spuren des Reimarus die Unterschiede zwischen Jesus und Paulus zu betonen: So galt Paulus z.B. für W. Wrede (Paulus, 1904) als "der zweite Stifter des Christentums" (104) auch wenn Paulus sich selbst "als Jünger und Apostel Jesu gefühlt" habe, passe für ihn "der Name ,Jünger Jesu' ... wenig", denn "das Lebenswerk und Lebensbild Jesu hat die paulinische Theologie eben nicht bestimmt" (95). Konservativ, das bedeutete, die Übereinstimmungen zwischen Paulus und Jesus hervorzuheben: So mühte sich z.B. A. Resch (Der Paulinismus und die Logia Jesu, 1904), mit Hilfe der Auflistung von möglichst vielen (ca. 900) Anspielungen auf Jesu Worte und Lehre in den Briefen des Paulus nachzuweisen, daß Paulus "der für alle Zeiten bahnbrechende Exeget der Lehre und des Lebens seines Herrn" sei (538); Paulus hätte dabei zurückgegriffen auf "die älteste Evangelienquelle, die Logia Jesu", und diese Quelle sei "bereits in der Zeit vor der Bekehrung des Apostels Paulus vorhanden gewesen" (634 f.; vgl. 533 ff.). Gegen Reschs Buch und ähnliche Versuche wendet V. P. Furnisch in einem sehr differenzierten und instruktiven Forschungsbericht (The Jesus-Paul Debate: from Baur to Bultmann [1965], jetzt in: Paul and Jesus. Collected Essays, ed. by A. J. M. Wedderburn, Sheffield 1989, 17-50) ein, eine derartige Identifizierung von Anspielungen sei "doch ein sehr subjektives und deshalb problematisches Unternehmen", und ihm ist es "ein relativ sicheres Ergebnis" der Geschichte der Forschung, daß auf diesem Wege "eine Lösung des Jesus-Paulus-Problems letztlich niemals erreicht werden wird" (44). W. weiß von der Forschungsgeschichte und kennt Furnishs Bericht. Gegen dessen kritisches Urteil über die Suche nach An-spielungen auf Jesusworte in den Paulusbriefen erhebt W. Einspruch: "Dieser Pessimismus verdient es, in Frage ge-stellt zu werden" (19), und Reschs Arbeit ist für ihn "ein bemerkenswertes Buch" (225), das von "massiver Gelehrsamkeit" ist (30 Anm. 57) und wie ähnliche "in der Vergangenheit zu schnell abgelehnte" Arbeiten eine "Neubewertung" "verdient" (409 Anm. 14).

Forschungsgeschichtlich gesehen ist W. als ein Resch redivivus zu bezeichnen. Doch es gibt natürlich auch Unterschiede zwischen Resch und W.:

1. W. hat sein Buch "so geschrieben, daß es auch dem Nichtspezialisten zugänglich sein soll" (31).

2. W. betont, es sei wichtig, "verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit zu beachten"; die Untersuchungen Reschs u.a. hätten "leicht abgelehnt werden können, weil sie nicht sorgfältig genug unterschieden zwischen Beweisen, die höchst wahrscheinlich sind, und Beweisen, die höchst ungewiß sind" (30). Im übrigen ist W. davon überzeugt, "daß es so etwas wie ein genuin kumulatives Argument gibt" (31). Aus diesem methodischen Ansatz erwachsen Wertungen wie die folgenden: "argumentativ wahrscheinlicher" (369); "völlig möglich (und vielleicht wahrschein-licher)" (390); "völlig wahrscheinlich" (396); "eine viel stärkere Möglichkeit als manchmal erkannt wird" (129); "eine starke und attraktive Möglichkeit" (405); "zumindest eine vernünftige Möglichkeit" (358). Nur selten ordnet W. eine seiner Behauptungen als "eine ziemlich spekulative Schlußfolgerung " (365) ein.

3. Anders als Resch listet W. nicht im einzelnen auf, was ihm in den Briefen des Paulus (für W. auch 2Thess, Kol, Eph [24]) als Zitat von oder Anspielung auf ein Wort Jesu gilt. Vielmehr untersucht er in sechs thematisch voneinander unterschiedenen Kapiteln die Lehre Jesu und die des Paulus, und zwar in der Weise, daß er unter der Überschrift "Comparing Jesus and Paul" jeweils zunächst "im ersten Teil jedes Kapitels ein Einzelthema der Lehre Jesu behandelt, so wie sie in den Evangelien festgehalten ist, und dann auf die Lehre des Paulus über dasselbe Thema blickt", wobei er die Aussagen des Paulus immer schon mit dem vergleicht, was bei Jesus zu finden ist; unter der Überschrift "Connecting Jesus and Paul" wird danach jeweils im zweiten Teil jedes Kapitels noch einmal gefragt, "ob es irgendeinen Beweis gibt, der zeigt, daß Paulus die Jesustraditionen kannte und von ihnen beeinflußt wurde" (19) - W.vergleicht also Jesus und Paulus immer zweimal. Die Einzelthemen sind: "Das Reich Gottes" (Kap. 2, 34-103); "Wer ist Jesus? (Kap. 3, 104-137); "Warum die Kreuzigung?"
(Kap. 4, 138-164); "Jesus und die Gemeinde" (Kap. 5, 165-214); "Leben in Liebe" (Kap. 6, 215-288); "Das zukünftige Kommen des Herrn" (Kap. 7, 289-337). Ein weiteres Kapitel fragt nach "Jesu Leben und Dienst" (Kap. 8, 338-372), d.h. nach der Geschichte Jesu, in den Briefen des Paulus. Unter der Überschrift "Die Frage nach Jesus und Paulus" Kap. 9, 373-411) faßt W. schließlich seine Ergebnisse zusammen.

Auf W.s Einzelergebnisse einzugehen, lohnt sich nicht, denn sie sind durchgehend durch die einmal aufgestellte These ("Paulus ist Nachfolger Jesu und nicht Stifter des Christentums") sowie den vorgegebenen forschungsgeschichtlichen Hintergrund und den eingeschlagenen methodischen Weg des "kumulativen Arguments" geprägt. Konservative werden sich durch W.s Buch bestätigt fühlen, die anderen aber, W. nennt sie "Skeptiker", deren "Pessimismus in Frage zu stellen sei" (19), wird es nicht überzeugen. Was aber die Frage nach dem Verhältnis des Paulus zu Jesus betrifft, so greift schon die von W. in den Vordergrund gerückte Alternative zu kurz. Auch wenn Paulus kein Jünger des irdischen Jesus gewesen ist, so hat nie jemand bestritten, daß er selbst sich als Jünger Jesu verstand. Zu bestreiten ist aber auch nicht - wenigstens nicht von dem, der die uns überlieferten Texte des Paulus, d. h. seine Briefe, ernster nimmt als subjektive Vermutungen und Behauptungen über mögliche Anspielungen des Paulus auf Worte des irdischen Jesus: Im theologischen Denken des Paulus steht nicht das, was der irdische Jesus gelehrt hat, im Mittelpunkt, sondern das, was Gott in Kreuz und Auferstehung Jesu für die gottlosen Menschen getan hat.