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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

811–813

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tuckett, Christopher M.

Titel/Untertitel:

Q and the History of Early Christianity. Studies in Q.

Verlag:

Edinburgh: Clark 1996. 492 S. 8. Lw. £ 29.95. ISBN 0-567-09742-0.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

Während der Schwerpunkt innovativer Synoptikerforschung in den 70er Jahren auf dem Markusevangelium lag, hat sich dieser in den 80er und 90er Jahren eindeutig auf die Logienquelle verlagert, jedenfalls in der anglophonen Exegese. Beherrschend ist nach wie vor der große Entwurf John S. Kloppenborgs, obwohl kritische Stimmen nicht fehlen. Christopher M. Tucketts Position ist nicht so eingängig und plakativ resümierbar wie die Kloppenborgs; dafür sind seine Sorgfalt in der Einzelargumentation und Behutsamkeit des Urteils schlechterdings beispielhaft. (Ich folge der sich durchsetzenden Konvention, auf Q-Passagen - ohne impliziertes Urteil über den Text - nur nach Lukas zu verweisen).

Q and the History of Early Christianity behandelt in 13 Kapiteln alle wichtigen Fragen der Q-Forschung. Die Existenz von Q (1-39) als einem in griechischer Sprache (83-92) abgefaßten Dokument kann kaum bezweifelt werden. Hier waren vor allem die Gegenargumente der "Two-Gospel-Hypothesis" (Gries-bachtheorie) und M. D. Goulders zu widerlegen (der auf Q verzichtet und bei Lk Kenntnis des Mt zeigen will; vgl. dazu jetzt die Monographie von Mark S. Goodacre, Goulder and the Gospels. An Examination of a New Paradigm, JSNT.SS 133, 1996). Es folgt ein umfassender forschungsgeschichtlicher Rückblick, der seinen Schwerpunkt auf die redaktions- und traditionsgeschichtlichen Arbeiten der letzten 30 Jahre legt. T. ist vollständig auch mit der deutschen Forschung vertraut, was im anglophonen Bereich ja leider nicht mehr der Regelfall ist. Ausführlich wird Kloppenborgs 3-Schichten-Modell diskutiert (Q(1): weisheitliche Grundschicht; Q(2): prophetische Ergänzungsschicht; Q(3): Versuchungsgeschichte und nomistische Verschärfung; zu Q(3) ist jetzt Kloppenborgs Beitrag in der FS für J. M. Robinson zu vergleichen). T. versucht dagegen, ein Modell zu entwerfen, daß mit einer Materialsammlung und einer einzigen Redaktionsschicht in Q auskommt. Dieser werden u. a. Q 11,42c und die Positionierung von Q 16,17 hinter 16,16 zugeschrieben (42 u. ö.). Auswahl und Komposition von Q erlauben hypothetische, aber doch plausible Rückschlüsse auf die theologischen Gewichtungen von Q. Redaktionelle Arbeit sei etwa auch in Q 6,23c; 7,35; 11,51; 12,10; 13,35b und an anderen Stellen zu erkennen (195. 226. 247. 250). Die Kohärenz von Kloppenborgs Q(1) als einer zusammenhängenden Schicht (also einer schriftlichen Vorlage von Q(2)) wird bestritten; dagegen scheint manches Q(2) zugewiesene Material eine schriftliche Vorgeschichte gehabt zu haben. Kenntnis von Q in Quellen außerhalb Mt und Lk wird verneint (2 A. 3, eigene ältere Studien zusammenfassend). Zum Thomasevangelium wäre hier noch verstärkend auf Michael Fiegers Belege für eine durchgehend Abhängigkeit von den Synoptikern (im Falle der koptischen Fassung zudem von der sahidischen Evangelienübersetzung) hinzuweisen, die in der Q-Forschung noch zu wenig Beachtung gefunden haben. Einige nur bei Mt oder Lk erhaltene Passagen werden mit durchweg bedenkenswerten Argumenten Q zugerechnet, so Lk 4,16-30; so auch Mt 22,34-40 par. Lk 10,25-28 wegen der auffälligen minor agreements gegen Markus.

Im einzelnen werden die Gestalt Johannes des Täufers in Q (107-137), die Eschatologie der Schrift (139-163), das Verhältnis zwischen Weisheit, Prophetie und der Redeweise von "dieser Generation" (165-207), die Christologie (209-237), die Menschensohnvorstellungen (239-282), "Polemic and Persecution" (283-323), das Konzept der Weisheit (325-354), die Jüngerschaft (355-391), die Heidenmission und die Stellung zur Thora (393-424) sowie schließlich zum Volk Israel (425-450) besprochen.

Einige dieser Kapitel gehen auf ältere Aufsätze zurück, sind aber in jedem Fall wesentlich erweitert und bearbeitet worden.

Aus der Fülle der Ergebnisse kann ich nur Beispiele nennen: Q lebt zwar in den Traditionen einer Märtyrertheologie, sieht sich aber eher mit einer Gleichgültigkeit weiter Kreise der Bevölkerung konfrontiert als mit einer massiven Verfolgung: "much of the polemic in Q seems to presuppose a situation of silent ignoring" (322 vgl. 296). Gegen L. Schottroff und W. Stegemann wird m. E. plausibel gezeigt, daß der Wanderradikalismus in Q nicht einfach die christliche Partizipation am allgemeinen Geschick der verarmten Landbevölkerung ist, sondern definitiv eine gewählte Lebensweise radikaler Missionsethik darstellt (364-367 mit wichtigen sozialgeschichtlichen Differenzierungen). Jesus ist Gesandter der Weisheit, während er bei Matthäus mit dieser identifiziert wird (167). Stellen wie Q 12,8f. und 10 zeigen, daß der eschatologische Menschensohn nicht erst einer späteren Schicht von Q angehört (12,10 interpretiert 12,8 f. offenbar redaktionell, setzt es also schon voraus; gegen Koester). Die Worte vom gegenwärtigen Menschensohn haben es alle mit Leid und Verfolgung zu tun; auch Q 11,30 (das Jonazeichen) gehöre hierher (öÛÙÈ sei gnomisches Futur). Der Bußruf an Israel wird als paradoxe Intervention gedeutet, der Israel durch die unbedingte Unheilsankündigung zur Umkehr bringen wolle (201-207). Als zentraler atl. Bezug der Selbstfindung von Q wird Jes 61 erkennbar (223-226, 427-438). Die Botschaft von Q hat immer noch ganz Israel im Auge: die Trennung der Wege zwischen Juden und Christen steht erst am Anfang und ist z. B. klar von dem bei Matthäus erreichten Stadium abzuheben (425-450). Obwohl die Heidenmission be-kannt ist und gutgeheißen wird, ist der primäre Adressat von Q doch Israel: "the Christians of Q are striving to be 'Christian Jews', not 'Jewish Christians'" (435). T. folgt hier weithin Da-vid Catchpole und konstatiert darüber hinaus eine bemerkenswerte Nähe mancher Denkstrukturen zum schammaiitischen Pharisäismus (438-450). Diese bemerkenswerten Thesen werden weiterer Prüfung bedürfen.

Gegen Paul Hoffmann sei eine Gegenposition zur zelotischen Bewegung zwar impliziert, stehe aber kaum im Vordergrund des theologischen Interesses (357, 361-364). Damit entfiele dann auch die Spätdatierung der Endredaktion auf die Zeit um 70; Q 17, 23 ff. setze vielmehr eine Zeit relativer äußerer Ruhe voraus (362). Diese Passagen können freilich auch einfach übernommene Tradition darstellen, in die nicht eingegriffen wurde.

Eine allzustarke Antithetik zwischen weisheitlichen und prophetisch-eschatologischen Passagen in Q hält der Autor nicht für sinnvoll; tatsächlich interpretieren das Geschick der Propheten und das der auf der Erde verkannten Weisheit sich gegenseitig (325). Man wird wohl (über T. hinaus) zur Geltung zu bringen haben, daß sowohl formgeschichtlich als auch vom Repertoire der Themen und Motive her Weisheit und Prophetie im 1. Jh. längst nicht mehr präzise zu umreißen, geschweige denn zu trennen sind. Wesentlich bleibt aber doch das unterschiedliche Legitimationsschema. Nach diesem wird künftige Forschung m.E. stärker fragen müssen. Übrigens sind Q 10,21 und doch wohl auch 11,31 die Weisen negativ besetzt, worauf T. 332 A. 25 beiläufig hinweist und was eindeutig stärkerer Beachtung bedarf; die Boten der (hier nun positiv besetzten) Weisheit Q 11,49 sind nach der sicher älteren Version Mt 23,34 auch und sogar zuerst die Propheten. Die Gattung von Q habe nähere Bezüge zur Prophetie als zur Weisheit, ohne eine Neubelebung des atl. Genres "Prophetenbuch" darzustellen (354 f.; s. ebd. die Kritik an M. Sato). Richtig ist in jedem Fall, daß es die Gattung "sayings collection" auch außerhalb der Weisheit im engeren Sinn gibt.

Zum Papiaszeugnis über Mattäus (42 f.) scheint mir gegen T. das letzte Wort noch nicht gesprochen; seine Vergleichgültigung in weiten Teilen der Forschung hat vielleicht doch nicht zuletzt ideologische Gründe. Auch wenn es auf einem Mißverständnis beruht, es muß erklärt werden. Eher zu höflich scheint mir T. mit den Vertretern der These kynischer Affinitäten von Q (oder Q1) umzugehen (321 f., 368-390 u. ö.) Die Ähnlichkeiten des Auftretens zwischen Kynikern und den Charismatikern von Q dienen der Vermittlung so unterschiedlicher Inhalte, daß der Vergleich nur geringen heuristischen Wert hat. Wenn (wie bei L. E. Vaage) zudem keine "genealogische" Abhängigkeit zum Kynismos behauptet wird, beschränken sich die Affinitäten auf die Phänomenologie. Wir könnten dann mit gleichem Recht die christlichen Wandermissionare mit den Mönchen des frühen Buddhismus und den wandernden Brahmanen (Gymnosophisten) zusammenstellen. Im übrigen ließe sich deren Kenntnis in der antiken Literatur gut belegen; auch Philon erwähnt sie mehrfach. Die Kyniker (die sich im 1. Jh. fast nur in Rom und Alexandrien nachweisen lassen) sind da, wo wir sie als Persönlichkeiten fassen können, Oberschicht-Aussteiger, Hofnarren der städtischen Plutokratie. Ihre Existenzweise setzt den ständigen Kontakt zu jener Oberschicht voraus, aus deren Provokation sie ihre Lebenskraft beziehen. Diese Aspekte fallen bei B. L. Mack, L. E. Vaage und F. G. Downing (Hauptvertretern der These eines christlichen Kynismos in Q) unter den Tisch.

T.s Buch ist ohne Zweifel einer der wichtigsten neueren Beiträge zur Q-Forschung, in dem praktisch alle relevanten Fragen souverän besprochen werden. Noch eine ergänzende Empfehlung: das dringendste Desiderat der Q-Forschung - eine um-fassende Dokumentation des Erreichten - wird jetzt durch die auf zahlreiche Bände angelegte Reihe Documenta Q. Reconstructions of Q Through Two Centuries of Gospel Research. Excerpted, Sorted and Evaluated erfüllt (hrsg. von J. M. Robinson, P. Hoffmann und J. S. Kloppenborg), deren erster Band (Q 11:2b-4) Leuven 1996 erschienen ist.