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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

670–672

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Storm, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Die Paulusberufung nach Lukas und das Erbe der Propheten. Berufen zu Gottes Dienst.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. 357 S. 8o = Arbeiten zum Neuen Testament und Judentum, 10. Kart. DM 95,-. ISBN 3-631-47645-0.

Rezensent:

Josef Ernst

Dies ist ein ungewöhnliches Buch in mehrfacher Beziehung: der Stil ist unkonventionell, wie es im Vorwort fast provozierend dargelegt ist. Dem Formalismus der fachwissenschaftlichen Untersuchungen wird ein ganzheitliches, auf Leben und Sinndeutung abhebendes Verfahren gegenübergestellt. Am Beispiel des Paulus soll aufgezeigt werden, was Berufung bedeutet und wie auf diesem Wege Vertrauen, Freiheit und Verantwortung erkannt und gelebt werden können. Ungewöhnlich ist die Arbeitsmethode: seitenlange Textkolumnen mit parallelen Berufungsberichten werden von gegliederten, in Skizzen anschaulich dargestellten Untersuchungen abgelöst. Wichtige theologische Erkenntnisse sind in Fußnoten "versteckt" untergebracht. Erstaunlich ist auch der eigenwillige und unbekümmerte Umgang mit den Evangelien. Jesustraditionen werden ohne Berücksichtigung der literarischen und theologischen Eigenarten herausgefiltert. Diese durchaus nicht negativ zu bewertenden Beobachtungen sind einfach ein Reflex auf ein ungewöhnliches und, wie sich herausstellt, auch lesenswertes Buch.

Das Ziel der Untersuchung ist der Nachweis, daß Lukas die Berufung des Paulus in der Apostelgeschichte, speziell in der Erzählung Apg 22,3-21, nach dem in einer Vielzahl von atl. und ntl. Erzählungen und in Einzelmotiven des Selbstzeugnisses der Paulusbriefe bezeugten Grundmodells von "An-sagen" - "Ver-sagen" - "Zu-sage" richtig, d. h. den Tatsachen entsprechend dargestellt hat. Eine besondere richtungweisende Rolle hätte bei der lukanischen Gestaltung der Paulusberufung der auf Mose bezugnehmende Bericht Ex 3,1-4,12-17 gespielt. Das theologische Ziel des Unternehmens ist der Nachweis des prophetischen Paulusbildes.

Die Arbeit gliedert sich in folgende Großabschnitte: I. Einleitung; II. Die Frage nach dem Hintergrund der von Lukas berichteten Berufung des Paulus; III. Die Berufung des Paulus nach der Apostelgeschichte; IV. Zur Frage nach den Berufungsberichten des AT als dem Hintergrund von Apg 22,3-21; V. Zeit und Probleme spätjüdischer Prophetie; VI. Zu den Berufungen im NT; VII. Die Sendung des Paulus im Horizont at und nt Berufungen; VIII. Die Sendung des Paulus nach Lukas; IX. Zusammenfassung; X. Ausblick; XI. Literaturverzeichnis. Es würde zu weit führen, wenn alle Berufungsbeispiele im Detail vorgeführt und analysiert werden sollten. Die Reihe reicht im AT von Mose über Gideon bis zu den bedeutendsten Prophetengestalten und im NT von Simon Petrus über Nathanael, Levi (Matthäus), Zacharias, Johannes den Täufer, Jesus, die Jünger, Maria, bis zum Seher der Geheimen Offenbarung. Der Autor glaubt an allen Beispielen dasselbe schon genannte Grundmuster erkennen und nachweisen zu können. Es stört ihn dabei nicht, daß aus einer Vielzahl von inkohärenten Texten nach Art eines Puzzles ein Mosaik zusammengesetzt wird. Das idealtypische Leitmodell wird im Vergleich von Ri 6,11b-16 (Berufung des Gideon) und Ex 3,1-4,12 (Berufung des Mose) entwickelt. Der Bericht erzähle keinen Mythos, sondern halte ein grundlegendes Erlebnis fest. Aus solchen Beobachtungen wird gefolgert: 1. Nicht Depersonalisierung, sondern personkonzentrierte Darstellung ist ein wichtiger Faktor. 2. Der Berufungsbericht zeigt an einem Erlebnis "die rettende und befreiende Zukunft durch Gottes Wirken" und die Zusage der Gottesnähe (Mit-Sein Gottes). 3. Das Berufungserlebnis ist Wende von der Vergangenheit zur Zukunft, "von Gotteszweifel zu Gottesgewißheit, von Unfähigkeit zu Fähigkeit". 4. Der Berufene erhält ein neues Selbstverständnis.

Nach dem Durchgang der atl. und ntl. Berufungsberichte kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: Lukas konnte in seiner Darstellung der Paulusberufung auf eine reiche Tradition zurückblicken. "Es wurde... nicht einfach nur formal ein Schema oder eine Gattung benutzt, sondern neben der von der Sache her zu begründenden gleichen Struktur stand vor allem das gleiche Erlebnis und das ähnliche Schicksal eines früher Berufenen im Mittelpunkt des Interesses. Vor allem der Berufungsbericht des Mose diente auch im AT schon wiederholt als Muster und Vorbild" (260). Die ntl. Berufungen hätten wie ihre Vorgänger zur eigenen Legitimation auch derartige Standardformulare benutzt, so vor allem Paulus.

Die Studie ist in einer sehr dichten und spekulativ durchdachten Argumentation um den Nachweis der Echtheit, Geschichtlichkeit, Glaubwürdigkeit und Gottgewirktheit der Berufung und Sendung des Paulus bemüht. Kann man den formalen Modellvergleichen in ihrer relativen Schlüssigkeit noch folgen, so tauchen für den kritischen Beobachter allerdings Bedenken auf, wenn aus der hypothetischen Paulus-Lukas-Beziehung gefolgert wird, beide hätten dieselbe Berufungserfahrung aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt (318). Fragen grundsätzlicher Art stellen sich zu den Ausführungen über die Berufungen in der Zeit der Kirche. Im Zeitalter der Ökumene sollte man eine differenziertere Behandlung der sog. Frühkatholizismuselemente erwarten und auf pauschale Polemiken verzichten.



Einige grundsätzliche Anmerkungen zur Sache seien noch gestattet. Die Studie ist bei aller Zielstrebigkeit der Argumentation durch eine Methodenwillkür bestimmt. Es wechseln häufig religionsgeschichtliche, literaturwissenschaftliche, historische und theologische Argumentationsmuster. Ohne Zweifel sind die Übergänge unscharf, aber dies sollte nicht zur unkontrollierten Beliebigkeit führen. In einigen Details, z. B. in der willkürlichen Postulierung einer Berufungserfahrung trotz des Fehlens eines Berufungsberichtes bei Johannes dem Täufer (240), darf man um solidere Begründungen bitten. Der Autor arbeitet stark mit Vermutungen und Spekulationen. Eigenwillig ist die Aussage zur "Marienberufung", speziell zum Parthenos-Motiv Lk 1,26-38 (27): "Inhaltlich wird in der Berufung nur gesagt, daß Maria zu jung ist, ob Jungfrau oder nicht" (251 Anm. 384). Dies gibt der Parthenos-Begriff eben nicht her. Die Analogien "Jesus: Holzarbeiter - Holzkreuz-Träger; Häuser-Gründer - Gemeinde-Gründer" (262) gehen nach meinem Empfinden über das sachlich Vertretbare hinaus. Zum Schluß der inhaltlich überaus reichen, geistreichen, in der eigentlichen Sache durchaus bedenkenswerten Studie sei noch auf eine Reihe von drucktechnischen Ungenauigkeiten, Fehlern vgl. 8.11.22.28.243 und wiederholten Verschreibungen von Autorennamen (Dietzfelbinger 22.49.52.63.64) hingewiesen.