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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

837–839

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmeller, Thomas

Titel/Untertitel:

Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine.

Verlag:

Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1995. 120 S. 8o = Stuttgarter Bibelstudien, 162. Kart. DM 39,80. ISBN 3-460-04621-X.

Rezensent:

Wolfgang Schenk

Die urkirchliche Ekklesiologie ist gegenwärtig ein Stiefkind der neutestamentlichen Forschung. Beim letzten SNTS-Kongress (Praha 1995) sucht man im Teilnehmerverzeichnis vergeblich nach einem Neutestamentler, der dies als einen Gegenstand seiner derzeitigen Bemühungen angegeben hat. Ist das ein Zeichen für eine problemfreie Selbstverständlichkeit der erreichten Erkenntnisse oder aber von Resignation - auch gegenüber den real-existierenden Kirchengebilden? Da Schmeller schon 1989 einen weiterführenden Beitrag zur Kritik des oft unkritisch rezipierten Forschungsmodells von "urchristlichen Wandercharismatikern" geleistet hat, wird man gespannt zu seinem neuerlichen Beitrag greifen, der wiederum eine sozialgeschichtliche Geltungsprüfung eines gängigen Modells (Patron/Klienten) für den eingeschränkten Bereich der eranoi/thiasoi/koina, bzw. ,collegia' (,Clubs'/,Vereine') zum Thema hat.

Eingeführt durch eine problemorientierende Forschungsgeschichte seit den Pionierarbeiten C. F. G. Heinricis 1876 ff. (11-18) analysiert die Studie die ,Statusdifferenzierung in griechisch-römischen Vereinen' einerseits (19-53, eingeleitet mit einer vorzüglichen Skizze der sozialen Schichtung im Römischen Reich überhaupt, die m. R. einen unmöglichen Einsatz bei dem Reizwort ,Sklave' als einem reinen Rechtsbegriff abweist) und die ,Statusdifferenzierung in paulinischen Ge-meinden' (genauer gesagt: Korinth, exemplifiziert an Subtexten aus 1Kor) andererseits (54-93). Der durchgeführte sozialgeschichtliche Vergleich macht deutlich, daß es ungerechtfertigte, schlechte Apologetik ist, den zeitgeschichtlichen Vereinen eine hierarchische Patron/Klient-Beziehung zuzusprechen, um auf einem so beschriebenen, dunklen Hintergrund von einer Ersetzung durch eine egalitäre Geschwisterlichkeit in christlichen Gemeinden zu sprechen (in bevorzugter Diskussion der Positionen von J. K. Chow, Patronage and Power: A Study of Social Networks in Corinth, Sheffield 1992 - vgl. auch Rez. P. Gadner, JTS 45, 1994, 252-254 -, wie von A. D. Clarke, Secular and Christian Leadership in Corinth, Leiden 1993 und dazu neben der Rez. von Schmeller, BZ 38, 1994, 296-298, auch die von D. W. J. Gill, JTS 45, 1994, 676-679). Daraus resultiert aber keine Einheitlichkeit der verglichenen kommunitären Phänomene:

Wenngleich für beide "eine grundsätzliche Gleichwertigkeit ihrer Mitglieder zur Identität der Gruppe" gehörte, so geht es doch "um ganz verschiedene Phänomene": "Die über das für Vereine übliche hinausgehende Egalität der armen Kollegien beruhte einfach auf eben dieser Armut; eine egalitäre Verteilung der Führungsfunktionen war nicht mehr als ein Mittel, um bei gleicher Armut aller doch wenigstens minimale und vor-übergehende, teilweise fiktive Statuserhöhungen zu ermöglichen. In den Gemeinden dagegen betraf die Heterogenität ja nicht nur Rechtsstellung und Geschlecht, sondern u.a. auch den Besitz. Hier gab es genug bessergestellte Mitglieder, die nach Art der Amtsträger und Patrone in wohlhabenderen Vereinen auf realen und bleibenden Statusgewinn und damit auf eine stärkere Hierarchie in der Gruppe Wert legen konnten.

Dennoch erfolgte eine solche Differenzierung nur in sehr geringem Ausmaß" (94 f.). Darum wird auch die zu allgemeine Kategorie eines "Liebespatriarchalismus" (G. Theißen) m. R. für die paulinischen Gemeinden als nicht beschreibungsadäquat abgelehnt (vgl. ergänzend die weiteren Einschränkungen, die J. J. Meggith, Meat Consumption and Social Conflict in Corinth, JTS 45, 1994, 137-41, als erforderlich dargelegt hat), während sie sich für nachpaulinische Gemeinden durchaus als berechtigt erweist. Die Studie hat gezeigt, daß "auch ohne die These einer" direkten "Abhängigkeit ein besseres Verständnis der Sozialbeziehungen innerhalb der Gemeinden und zwischen Gemeinden und Umwelt ermöglicht ist" (17).

Besonders hilfreich für Seminarveranstaltungen ist es auch, daß im Anhang (96-115) der Text von vier Vereinsvorschriften mit einer konkordanten Übersetzung gegeben ist. Diese Arbeitshilfe kann auch dazu dienen, den sozio-kulturellen Kontext beschreibungsadäquater zur Geltung zu bringen, als es unter der immer noch bedenkenlos weitertradierten, doch unzutreffenden Rubrik "religionsgeschichtliche Stellung" (so wieder konstant in der monotonen Rubrizierung der ehemaligen ,Religionsgeschichtlichen Schule' bei U. Schnelle, Einleitung in das NT, Göttingen 1994) der Fall ist.

Fragwürdiger erscheint dagegen die Differenzierung in ,religiöse' und ,gesellige' Vereine (30 f.) wegen des (bei Theologen allzu häufigen) Verstoßes gegen das Prinzip der Klassifikation, daß die Einteilung von Teilklassen nach demselben Vergleichskriterium vorgenommen werden muß (A. Menne, Einführung in die Methodologie, 1980, 71.87, die leider trotz ihrer preiswerten 3. Aufl. 1992 noch immer nicht ein Standardwerk in allen Proseminaren ist), was hier aber eben nicht der Fall ist, da man auch von ,religiösen Geselligkeitsvereinen' spricht (30.34) - ein erneutes Indiz für die Fragwürdigkeit der klassifikatorischen Bestimmung einer Teilmenge als ,religiös' (vgl. K. Rudolph, Religionswissenschaft auf alten und neuen Wegen, ThLZ 104, 1979, 11-34).

Hinsichtlich der geselligen ,Mysterienclubs' (als einer Art von experimentell gelübdepraktischen Selbsthilfegruppen, die nie eine fälschlich sogenannte ,Mysterienreligion' bilden) vermißt man ungern einen Hinweis auf die (gerade für durch die ,Religionsgeschichtliche Schule' immer noch irregeleiteten Theologen notwendige) klärende Darstellung von W. Burkert, Antike Mysterien, 1990 (3. Aufl. 1994; 35-55: ,Organisation und Identität'), die nicht nur für die Forschung, sondern auch für Lehrveranstaltungen unbedingt heranzuziehen ist. Dem Lehrzweck der Studie wäre es dienlich, wenn noch darauf hingewiesen würde, daß das Standardwerk von M. I. Finley (1985 erschien eine 2. Aufl.), Die antike Wirtschaft (dtv 4277), seit 1977 auch in autorisierter deutscher Übersetzung vorliegt (2. Aufl. 1980) - wie ebenso einige andere Autoren bei W. A. Meeks (Hrsg.), Zur Soziologie des Urchristentums (ThB 62), 1979.

Ich begrüße diese Studie als eine wertvolle Ergänzung meiner Darstellung der Ekklesiologie im Rahmen einer Theologie des Neuen Testaments ,Die Selbstverständnisse christlicher Gruppen im ersten Jahrhundert' (ANRW II/26.2, 1995, 1357-1467) unter einem bestimmten Aspekt bei vorbildlicher Auswertung der Quellentexte. Ich wünschte, diese Studie würde häufigere Seminarveranstaltungen (u.a.) zur neutestamentlichen Ekklesiologie anregen (auch um die definitorischen und argumentativen Schwachstellen des derzeit leider einzigen Lehrbuchs von J. Roloff, Die Kirche im NT [GNT 10], 1993, das E. Schweizer ThLZ 119, 1994, 655-658 lobend rezensiert hat, in methodologischer Hinsicht unter strikter Anwendung von A. Menne, 1992, überwinden zu helfen).