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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

554 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rissi, Mathias

Titel/Untertitel:

Die Hure Babylon und die Verführung der Heiligen. Eine Studie zur Apokalypse des Johannes.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 95 S. gr.8o = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 136. Kart. DM 89,-. ISBN 3-17-012988-0.

Rezensent:

Otto Böcher

Mathias Rissi, gebürtiger Schweizer (*1920) und zuletzt Neutestamentler am Union Theological Seminary in Richmond (Virginia, USA), hat seit seiner 1952 gedruckten Basler Dissertation ("Die Zeit- und Geschichtsauffassung der Johannesapokalypse", Zürich 1952) in zahlreichen Publikationen Probleme der Johannes-Apokalypse untersucht; sein Buch "Alpha und Omega" (Basel 1966) bietet eine allgemeinverständliche Auslegung der gesamten Offenbarung des Johannes. Schon 1966 hat R. - ähnlich wie seinerzeit Ernst Lohmeyer - von einer zeitgeschichtlichen Deutung der Johannes-Apokalypse wenig wissen wollen und dem Apokalyptiker die Verse 13,17 f.: 15,2; 17,9b-17 geradezu abgesprochen.

Die neuerdings von R. vorgelegte, relativ schmale Monographie bleibt diesem Ansatz treu. Sie ist geschrieben, um die selbstverständlich gewordene zeitgeschichtliche Exegese der Johannes-Offenbarung in Frage zu stellen, um "wenigstens die Sicherheit der ,Dogmen' etwas zu erschüttern und alte Fragen offen zu halten" (Vorwort, 5). R. untersucht die Kap. 17 und 18 neu und stellt sie in den Rahmen der gesamten Apokalypse, von der er annimmt, Apk 1-14 handle vom "Geschehen in Kirche und Welt der Zeit zwischen den beiden Erscheinungen des Christus", Apk 15-22 dagegen "ausschließlich von der Zukunft" (12).

Kap. I (13-37) behandelt "Apk 17 im Rahmen des Buches"; dabei geht R. ausführlich auf die Visionen von Apk 1-14 ein (u. a. Siegel, Posaunen, Christus und der Drache, Tiere aus Meer und Erde). Erst mit den Schalenvisionen (Apk 15,1-16,19), denen Kap. II (39-48) gewidmet ist, richtet R. zufolge der Apokalyptiker seinen Blick auf die "letzte Periode der Endzeit".

Kernstück ist Kap. III ("Die Hure auf dem Tier", 49-60). Zufolge Abschnitt 3 (52-55) sind "die Heiligen in der Welt Babylons", nach denen R. die sieben Sendschreiben (Apk 2 f.) befragt, diejenigen Anhänger Jesu, die gegenüber synkretistischen Irrlehrern und heidnischen Verfolgern die Treue bewahrt haben. "Die Hure auf dem Tier" aber (Abschnitt 4, 55-60) deutet R. nicht "traditionell" und "einseitig" auf "Rom mit seinem Kaiserkult" (55), sondern, ebenso wie das Tier, den Drachen und den Pseudopropheten (Apk 12 f.), als "rein geistige, mythisch-dämonische Gestalt" (59). "Der Zweck der Apk ist nicht Deutung der Weltgeschichte, sondern Deutung der kirchlichen Existenz in der Welt in ihrem Kampf gegen die Assimilation an die antichristlichen Kräfte, die die Kirche von innen und außen zu zerstören versuchen" (59 f.).

Als "sekundäre Deutungen des Tiers" (Kap. IV, 61-73) tut R. dann die als Interpolation beurteilten Verse Apk 17,9-17 ab, wobei er 17,15-17 als einen zweiten, von 17,9-14 unabhängigen Einschub anspricht. Kap. V skizziert "das Gericht über die Hure Babylon" (75-80). Nachwort, Literaturverzeichnis, Autoren- und Bibelstellenregister beschließen das Buch.

Der Rez. gesteht, daß er R. in dessen Eliminierung der Zeitgeschichte nicht zu folgen vermag. Apk 17,9-14.15-17 werden von ihrem Kontext weder durch stilistische Unterschiede noch durch Kompositonsfugen getrennt, die gravierender wären als die generell zu beobachtenden Spannungen bei der Zusammenarbeitung apokalyptischer Stoffe. Auch sonst verzeichnet gelegentlich R. die Befunde - vielleicht unbewußt, aber doch so, daß seine Deutung gestützt wird. So geht m. E. aus Apk 12,5 nicht hervor, daß die Geburt des Kindes auf der Erde erfolgt sein muß (30); die Entrückung erfolgt nicht "von der Erde zum Himmel" (ebd.), sondern am Himmel selbst, vom Sternbild Jungfrau zu Gott und seinem Thron, der offenbar in noch größerer Höhe vorgestellt ist.

Offensichtlich hat R. mit seinem Schweizer Landsmann Charles Brütsch das legitime Interesse gemeinsam, der Kirche auch die Johannes-Apokalypse seelsorgerlich-paränetisch zu er-schließen. Seine Abneigung gegen zeitgeschichtliche Fragestellungen teilt er u. a. mit Ernst Lohmeyer und Joseph Sickenberger, seine Vorliebe für endgeschichtlich-überzeitliche Deutungen u. a. mit Theodor Zahn, Richard Kraemer und Hanns Lilje. Lite-rarkritische Operationen sind jedoch ein fragwürdiges Hilfsmittel kerygmatischer Ziele. Gerade im sog. Dritten Reich hat sich gezeigt, wie der zeitgeschichtlich begründete Vergleich der politischen Situation einst und jetzt der Johannes-Apokalypse zu neuer kirchlicher und religiöser Wirkung verhelfen kann.