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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

669 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rau, Eckhard

Titel/Untertitel:

Von Jesus zu Paulus. Entwicklung und Rezeption der antiochenischen Theologie im Urchristentum.

Verlag:

Kohlhammer: Stuttgart-Berlin-Köln: 1994. 132 S. DM 39,80. ISBN 3-17-012966-X.

Rezensent:

Ulrich Mell

Die Studie möchte dazu beitragen, die Theologie des nach seinem hauptsächlichen Wirkungsort "Antiochia" benannten Christentums zu verstehen. Diese Christen bildeten ehemals als sog. Hellenisten - griechischsprechende Diasporajuden, die aus Verbundenheit mit dem Tempel in Jerusalem wohnen - einen eigenständigen Teil der Jerusalemer Urgemeinde. Jüdische Ablehnung, die im Martyrium ihrer Führungspersönlichkeit, Stephanus, gipfelte, zwingt sie (zurück) in die syrische Diaspora. Dort missionieren sie unter Juden (Paulus, Apg 9) und kultunfähigen Juden (8,4 ff.), um schließlich in Antiochia auch Nichtjuden für den christlichen Glauben zu gewinnen (11,20 f.). Missionstheologisch bedeutet Antiochia das Scharnier zwischen Jesu exklusiver Israelverkündigung und der weltweiten Völkermission des Paulus. Um diese Neuorientierung als einen geschichtlichen Entwicklungsprozeß verständlich zu machen, gibt R. seinem Buch den Titel "Von Jesus zu Paulus".

Da keine eigenständige Literatur der Hellenisten überliefert ist, stehen zur Rekonstruktion ihrer Anschauungen drei Traditionskomplexe zur Verfügung: über die Briefe des Paulus verstreute vorpaulinische Traditionen seiner antiochenischen Wirkungszeit, sodann die Auskunft des Paulus hinsichtlich seiner Vergangenheit (Gal 1 f.) und schließlich die lk Geschichtsdarstellung der Apg, deren Exegese sich der Hamburger Neutestamentler zuwendet.

Im Anschluß an Überlegungen von Adolf von Harnack hält R. Apg 6,8-8,4a; 11,19b-21 für eine von Lk verarbeitete "antiochenische Quelle", deren "ursprüngliche(-r) Anfang verlorengegangen ist" (13). Hier liege "eine Ätiologie der antiochenischen Heidenmission vor" (14.75.77 u. ö.). Eine Analyse führt R. zu folgenden Ergebnissen:

1. Aus dem jüdischen Falschzeugnis gegen Stephanus (Apg 6,11-14) kann "nichts über eine etwaige Gesetzeskritik des Stephanus entnommen werden" (19, vgl. 79). Stephanus' Weissagung (V. 14) basiert auf Jesu Ansage der Tempelzerstörung (Mk 13,2).

2. Die Kritik der Stephanusrede (Apg 7,2-53) an dem von Menschen gefertigten Heiligtum (V. 44-50) ist Ausdruck der Tempelablehnung des Stephanuskreises, die auf einer Verbindung Jesu weisheitlicher Gerichtsbegründung der Tempelzerstörung (Lk 13,34 f. par) mit der jüd.-hell. Wertschätzung des wahren himmlischen Heiligtums (s. Philo, Jos) beruht.

3. Die Anklage der Stephanusrede (Apg 7,51-53), die die dtr Prophetenaussage vom gewaltsamen Geschick zur Deutung von Jesu Tod einsetzt, sowie die dem dtr Geschichtsbild entsprechende Vision des Stephanus von dem sich zum Gericht erhobenen, "stehenden" Menschensohn Jesus (V. 56) beinhalten die Abwendung der Hellenisten von Israel.

4. Die missionarische Hinwendung zu den "Griechen" (Apg 11,20) geschieht unter grundsätzlichem Verzicht auf ihre Beschneidung. Vorpaulinische Zusammenhänge zeigen, daß Antiochia darin nicht "die Spur einer Gesetzeskritik" gesehen hat (83): Schafft die Zuordnung der Nichtjuden unter den Kyrios Jesus (V. 20 f.) eine soteriologische Egalität mit den Juden (vgl. Röm 10,8-13) in der durch Christus bestimmten Kirche (vgl. Gal 3,26-28), so wird nichtjüd. Täuflingen "nicht die Beschneidung, wohl aber das Tun des Gesetzes auferlegt, das im Liebesgebot kulminiert" (93, vgl. 1Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15). Dies ist Antiochias praktische Konsequenz aus der im hell. Judentum beheimateten Position (vgl. Philo Quaest in Ex II,2 zu 22,21; Jos Ant 20,41b), daß "vom Proselyten nicht durchgehend die Beschneidung gefordert worden" sei (97).

Agiert der synagogale Stephanuskreis wie später das antiochenische Christentum nicht gesetzeskritisch, so ist "die Geschichte der Auseinandersetzung des Urchristentums mit dem Gesetz... einer gründlichen Revision" (117) zu unterziehen. R.s Untersuchung schließt mit Hinweisen auf die Rezeption antiochenischer Theologie bei Mk, Mt, der Apg sowie bei Paulus.

Eine kritische Würdigung erkennt zunächst die Vorzüge von R.s Arbeit in der exegetischen Detailerörterung von Apg 7,2 ff. im religionsgeschichtlichen Kontext jüd.-hell. Tempelkritik (36-77). Durch argumentative Transparenz wird der Leser zudem in die Lage versetzt, dem Gang der historisch rege kombinierenden Untersuchung zu folgen. Anders als der Untertitel des Buches es jedoch vermuten läßt, steht im Mittelpunkt die Theologie des Stephanuskreises. Nur insofern vorpaulinische Überlieferungen R.s These gesetzeskonformer Hellenisten belegen, wird antiochenische Theologie berührt. Dabei ist neu, daß Röm 10,8-13 Antiochias Situation einer aus Juden und Nichtjuden zusammengesetzten Christengemeinde widerspiegelt (83-86).

Ist R. darin zu folgen, daß Antiochia mit der von dtr Theologie geprägten Geschichtserzählung Apg 6,8-8,4a; 11,19b-21 seine Mission von Nichtjuden rechtfertigte, so dürfte das christliche dtr Geschichtsbild (z.B. Mk 12,1b-9; 1Thess 2,15 f.), also auch die Identifikation mit der Weisheit (vgl. Lk 13,35 par mit Apg 6,10), auf Stephanus bzw. seinen Kreis zurückgehen. Diese Annahme ist leichter, als Jesu Verkündigung der ankommenden Gottesherrschaft mit dtr Gerichtsdoxologie zu verbinden. Eine Aufgabe, der sich R. nicht stellt, wie er auch nicht zeigen kann, daß Jesu angebliche Tempelzerstörungsprophetie zum genuinen Bestand seiner Botschaft gehört (s. 35). Damit aber entfällt ein Brückenkopf zur Annahme, daß Stephanus Jesu Tempelkritik fortsetzte. Und aus dem Brückenteil nach vorne, dem Zeugnis des Paulus (vgl. Gal 1,14) - von R. nicht behandelt -, ist nicht erkennbar, daß Paulus' Verfolgung der von Hellenisten geprägten Gemeinde von Damaskus aufgrund ihrer Tempelopposition geschah.

Die zweite These R.s, daß Antiochias Beschneidungsverzicht von Nichtjuden eine gesetzestreue innerjüdische Position darstellt, scheint weder für das Judentum noch für das Urchristentum plausibel. Sind für das Judentum coram Deo (!) nur diejenigen wahre Juden, an denen die Beschneidung des Herzens vollzogen ist, so gilt doch bei Menschen (vgl. Röm 2,29): die leibliche Beschneidung ist heilsnotwendig, weil der Gehorsam gegenüber dem wörtlich verstandenen Gebot die Herzensbegierden bekämpft. Eine Position, der Paulus im sog. Galatischen Konflikt als einer innerchristlichen Möglichkeit der Judaisten mit dem Christusevangelium des Geistes entgegentritt. Fällt für Antiochia die Beschneidung, dann darum, weil ihre dtr Theologie nach dem Ende des Israelbundes auf das Bundeszeichen der göttlichen Erwählung von Israel verzichten kann: Ist doch jetzt Christus Gottes Erwählung der Völker (vgl. 1Thess).

Kann R.s Monographie die allgemeine Anschauung von einem gesetzeskritisch eingestellten frühen Urchristentum nicht widerlegen, so stellt sie eine nützliche, ja notwendige Lektüre für alle diejenigen dar, die bereit sind, sich von einer Außenseiterposition in Frage stellen zu lassen. Dabei kann neu deutlich werden, wie wenig konsensfähiges historisches Wissen die ntl. Wissenschaft über die Ursprünge des sich aus dem Judentum entwickelnden frühen Christentums besitzt.